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Achtundzwanzigstes Kapitel. Ich fange an zu begreifen

Es gelang mir nun, den Hergang des Verbrechens, wenigstens so, wie ich ihn mir dachte, in allen Einzelheiten festzustellen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Mord ein ganz vorsätzlicher und planmäßig ausgeführter, und Austin Harveys Beweggrund dazu war gewesen, daß er sich den Besitz jenes Vermögens sichern wollte, ehe das alte Fräulein Zeit hatte, sein Testament nochmals umzustoßen. Alles war klug eingefädelt, hauptsächlich hatte der Verbrecher auf ein genau ausreichendes Alibi Bedacht genommen, und hatte dies scheinbar auch erreicht. Er konnte selbstverständlich nachweisen, daß er bis nach halb zehn Uhr in der Kirche gewesen war, er konnte ferner nachweisen, daß er halb elf Uhr nach Hause gekommen war – wie er vermutlich sagen würde, hatte er den Heimweg über die Klippen gemacht. Und er hatte es des weiteren einzurichten gewußt, daß sein Verbleib während der übrigen Nacht auch Zeugen hatte.

Natürlich glaubte er, daß es keinem Menschen in Sinn kommen könnte, zu behaupten, er habe in einer knappen Stunde zwei und eine halbe Meile zu Fuß zurückgelegt, einen Mord begangen und einen Koffer voll Bücher ausgepackt, und darin hatte er sicherlich Recht. Er allein, außer zwei oder drei Hausbewohnern, wußte um das Vorhandensein eines Fahrrads in dem Schuppen und er konnte unbemerkt dazu gelangen; vermutlich, oder vielmehr sicherlich, war er in seiner Jugend, ehe er Theologe wurde und nach Southend kam, ein tüchtiger Radfahrer gewesen. Eine so unwahrscheinliche Erklärung würde sich ja keine Seele auch nur im Traum einfallen lassen und, was die Hauptsache war, es würde überhaupt kein Verdacht auf ihn fallen. Er mußte von der Kirche nach Hause gerannt sein und dann die zwei ein halb Meilen Wegs auf dem Fahrrad zurückgelegt haben, somit blieb für das, was er in seiner Tante Wohnung zu besorgen gehabt, eine Viertelstunde, und diese Zeit war meiner Ansicht nach hinreichend.

Nachdem die That vollführt war, brauchte er nur noch allen Schein der Schuld auf den Bruder zu werfen, auf den naturgemäß der erste Verdacht fallen mußte. Darin lag eine ungeheuerliche Bosheit, wenn man aber in Erwägung zieht, bis zu welchem Grad die Eifersucht auf Fräulein Simpkinson die Brüder trotz früherer Zuneigung einander entfremdet haben mochte, wird es verständlich. Freilich hatte Philipp von seinem älteren Bruder stets mit großer Anhänglichkeit, ja sogar mit Bewunderung gesprochen, aber dafür war er der Bevorzugte gewesen, der das Herz jener Dame besessen hatte, wenn sie auch dem Bruder die Hand zugesagt hatte, und auf diesem Gebiet macht der Erfolg uns milde, während die Niederlage verhärtet. Ohne Zweifel hatte Austin seinem Sieg nicht vertraut, ehe er Philipp nicht ganz aus der Gunst seiner Braut verdrängt wußte, und es gab nur einen Weg, beides zu erreichen – die eigne Sicherheit und des Nebenbuhlers Niederlage. Was Wunder, daß er diesen Weg einschlug, selbst wenn dieser Nebenbuhler sein Bruder war? In der Eifersucht und im Krieg erkennt man die Bande des Blutes nicht mehr an.

Von diesem Standpunkt aus war mir nun auch Austins Verhalten in Paris mit einemmal klar. Nachdem der Mord geschehen war, hatte er zwei Ziele im Auge behalten, einerseits, vor der Welt alle Schuld auf den Bruder zu häufen, andrerseits aber diesen den Händen der Gerechtigkeit zu entziehen, denn an den Galgen liefern wollte er ihn nicht. Sein Wunsch war es nur, ihn in einem fernen Land auf Nimmerwiederkehr sicher untergebracht zu haben und sich selbst in ungestörtem Frieden des Besitzes der Frau und des Vermögens zu erfreuen. Er würde wahrscheinlich alles aufgeboten haben, um dem Bruder dort zu einem anständigen Fortkommen zu verhelfen.

Zu diesem Zweck waren ihm natürlich die Dienste eines Privatfahnders hocherwünscht gewesen. Mein Beistand hatte ihm gerade das geboten, was er brauchte, und er hatte sich dessen mit Gewandtheit zu bedienen gewußt. Ich hatte Philipps Schuld ausfindig machen und den Mann derart in Angst versetzen müssen, daß er an seine eigne Schuld glaubte und auf diese Weise zur Flucht getrieben wurde. Zu diesem Zweck hatte er mir gerade genügendes Material in die Hände geliefert und es der Polizei vorenthalten.

Und der Brief, der ihm auf der Treppe entfallen war, oder den er vielmehr absichtlich hatte fallen lassen! Ja wohl, je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß sein ganzer Besuch bei mir nur den einen Zweck gehabt hatte, diesen Brief zu verlieren. Sein zweites Kommen, der Wortwechsel und die Rauferei um das verfängliche Schriftstück, das war alles nur Spiegelfechterei gewesen, um jeden etwaigen Argwohn bei mir im Keim zu ersticken. Ein Mensch, der eine Rolle spielt, ist immer überängstlich, weil er nie ganz frei wird von der Furcht, der andre könnte durchschauen, was ihm, dem Betrüger, sonnenklar ist. Nun fiel mir auch wieder ein, wie Austin Harveys Kraft bei jenem Ringen so urplötzlich nachgelassen, und wie mich das damals in Erstaunen versetzt hatte. Jetzt war ich gewiß, daß auch dies nur ein wohlbedachter Teil der Komödie gewesen war. Denn dieser athletische Mensch in voller Jugendkraft hätte mich mit Leichtigkeit überwältigen können, wenn er nur gewollt hätte.

Und nun begriff ich auch, weshalb mir alle Einzelheiten des Vorgangs anfangs so bequem zugeströmt waren; der Mörder selbst hatte mir beigestanden, während er der staatlichen Polizei seine Hilfe versagt hatte. Sein ganzes Rechenexempel gründete sich auf die Hoffnung, daß die Polizei der Wahrheit einige Tage später als ich auf die Spur kommen werde, und in dieser Zwischenzeit mußte es gelingen, Philipp zur Flucht zu bewegen. Der Plan war, wie wir gesehen haben, gelungen und doch fehlgeschlagen: ich hatte allerdings einen Vorsprung vor der Polizei gehabt, aber sie war mir doch auf der Ferse gefolgt und hatte Philipp weggeschnappt, ehe er in Sicherheit gebracht war. An diesem Mißgeschick trug einerseits ein Rechenfehler Austins, andrerseits Philipps Widerstreben, sich zu dem ihm eingeredeten Verbrechen zu bekennen, die Schuld.

In Wirklichkeit hatte denn also die Behörde, die ich im stillen mit so überlegenem Hohn betrachtet hatte, so rasch gearbeitet, als es ihr unter diesen Umständen möglich gewesen, indes ich, der sich auf seinen Erfolg so viel einbildete, nur ein Werkzeug in der Hand eines Mannes gewesen war, der mich an Schlauheit weit übertraf. Doch hatte ich die Fährte, auf die er mich gewiesen, verlassen, sobald ich Herr sämtlicher Thatsachen geworden war, und hatte ihn nun gänzlich übertrumpft, worauf ich mit Recht stolz sein durfte. Das war Austin Harveys Meinung nicht gewesen, daß ich ihn selbst als den Schuldigen brandmarken sollte! Was hatte ich nun zunächst zu thun? Konnte ich beweisen, was ich glaubte? Sollte ich sofort zum Polizeivorstand gehen und die Anklage einreichen? Welches waren meine Belege für Austins Schuld? Ein Kofferzettel, den ich in seiner Rocktasche gefunden hatte; eine ausgefüllte Schleife in einem Buchstaben; ein Knoten, der vor acht Tagen aufgeknüpft worden war!

Und Philipp war bereits verhaftet; der schwerste Verdacht lastete in seinem ganzen Umfang auf ihm, und höchst wahrscheinlich legte er ein Bekenntnis seiner Schuld ab. Höchst wahrscheinlich eilte Austin Harvey schon in dieser Stunde der vollsten Sicherheit entgegen. Die Vorstellung, daß trotz meinen Entdeckungen die Sache schlimm ausfallen, Austin sich retten, Philipp verurteilt werden und niemand mir glauben werde, bemächtigte sich meiner, und diese Vorstellung brachte mich dem Wahnsinn nahe.

Die ganze Nacht rannte ich in den Straßen hin und her, und nachdem ich einen Schutzmann zur Bewachung des Austinschen Hauses aufgestellt hatte, fuhr ich mit dem ersten Zug nach London zurück. Seit der Nacht im »Sarazenenhaupt«, die auch keineswegs ungestört gewesen war, hatte ich kaum mehr geschlafen. Nach dieser hatte ich eine Nacht auf dem Kanal, eine zweite Nacht auf dem Kanal zugebracht, und nun trieb ich mich in den Straßen von Southend umher. Und doch war ich nicht müde; das Jagdfieber hielt mich aufrecht.


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