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Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß meine Flüchtlinge sicher in ihrem Hotel untergebracht waren, und an den Vater der jungen Dame, in dessen Auftrag ich arbeitete, telegraphiert hatte, schlenderte ich gleichmütig den Boulevard entlang, und dabei lag mir der seltsame Auftritt, dessen Zeuge ich zufällig geworden war, immer im Sinn. Ehrlich gestanden, waren mir die beiden Damen, die ich so unerwartet hatte in Haft nehmen sehen, weit interessanter, als das zärtliche Paar, das mir vom Büreau auf die Seele gebunden war. Der Fall war entschieden weder verwickelt, noch fesselnd; der junge Mann war der Sohn eines reich begüterten Adeligen und die Familie des Mädchens sah es gar nicht ungern, daß die Dinge weit genug gediehen waren, um ein Zurückziehen seinerseits unmöglich zu machen. Es handelte sich deshalb gar nicht darum, diese Entführung geheim zu halten; ich hatte ihnen in der Eigenschaft eines Spions, der gelegentlich auch als Zeuge verwertet werden konnte, zu folgen. In einem Beruf wie dem meinigen muß man die Aufträge eben übernehmen, wie sie sich finden.
Das Wesentliche war für mich die Gewißheit, mich mindestens noch ein paar Tage in Paris aufhalten zu müssen und hinreichend freie Zeit zur Verfügung zu haben. Das war die Hauptsache und ich stürzte mich mit Feuereifer in die Verfolgung dieses Geheimnisses, das mir zufällig ins Garn gelaufen war.
Zwei ganz harmlos aussehende Engländerinnen, die sich in nichts von Alltagsmenschen unterscheiden, reisen von London nach Paris mit einer Anzahl nicht minder harmlos aussehender Koffer und Reisekörbe, und einer dieser Koffer enthält einen Leichnam. Dieser letzte Umstand ist wenigstens nicht unter die alltäglichen Vorkommnisse zu rechnen und was hat er zu bedeuten?
Zweifellos Mord. Dessen darf man von vornherein gewiß sein; hier liegt ein auf die wunderlichste Weise entdeckter Mord vor.
Mord? Ein Polizeiagent fragt sofort: »Wer ist der Thäter?« Das ist die erste, selbstverständliche Frage, die sich unsereinem aufdrängt und sogar die nach der Person des Opfers in den Hintergrund stellt. Ueber die Getötete wird man morgen sicher Aufklärung erhalten; ob der Mörder festgenommen werden kann, ist zweifelhaft. »Wie heißt er?« »Wer ist er?« Beides fragt man sich. »Wer ist der Thäter?« Der Gedanke erfüllt den Fahnder ausschließlich.
Bis jetzt hatte ich weder Veranlassung noch Gelegenheit, eine dieser Fragen zu beantworten, aber trotzdem mußte ich mir sie unaufhörlich vorlegen. Zwei Damen und ihre Jungfer – diese kann aber vorderhand noch ganz aus dem Spiel bleiben – waren wegen des Besitzes eines Leichnams in Haft genommen worden. Was wußte ich von diesen Frauen?
So gut wie nichts, wird man sagen, und doch für einen Mann von meinem damaligen Beruf ziemlich viel.
Ich wußte, um das vorauszuschicken, erstens, wie sie hießen, oder wenigstens, wie sie sich nannten, Mrs. Orr-Simpkinson, von London nach Paris, hatte ich schon auf einer Kofferadresse gelesen. Orr-Simpkinson war also der Name der alten Dame, und ob sie ihn wirklich führte oder nicht, jedenfalls war sie unter diesem von London abgereist. Ferner wußte ich, woher sie kamen, zum mindesten, woher sie gerade jetzt kamen – beide Damen, der Koffer und der Leichnam waren heute vormittag noch in London gewesen.
Des weiteren waren mir alle Einzelheiten der Entdeckung bekannt und ich ging sie in Gedanken aufs sorgfältigste wieder durch. Die Frage gestaltete sich für mich folgendermaßen: Es ist natürlich vorderhand ein Ding der Unmöglichkeit, den Mörder zu bezeichnen, ist es aber wohl der Mühe wert, eine dieser beiden Frauen vorzunehmen und sie sich zu einem möglichen »Fall« auszuarbeiten. Für den Augenblick stellte ich mir einmal die alte Dame in den Vorbergrund. Ihr Verhalten während des Auftritts, ihre ganze Persönlichkeit schienen die Möglichkeit, daß sie einen Mord begangen habe, völlig auszuschließen.
Nur ein erschwerender Umstand lag gegen sie vor, und zwar war das nicht ihr Widerstreben, den Koffer zu öffnen – der stark verknotete Strick bot hinlänglich Grund dafür – sondern die Thatsache, daß ich mit eignen Ohren die Tochter halblaut hatte sagen hören: »ich habe dir's ja gesagt, aber du wolltest durchaus in London diesen Strick herumlegen lassen, als ob das nicht das beste Mittel wäre, Verdacht zu erregen.« Allein selbst diese Steigerung konnte in allgemeinem, harmlosem Sinn gemeint sein, und es schien höchst unwahrscheinlich, daß die Mutter, wenn überhaupt beteiligt, mehr als eine Hehlerin der That war.
Aber die Tochter? Ihr zu mißtrauen, lag entschieden bedeutend mehr Grund vor. Sie war, wie ich schon erzählte, ein dunkeläugiges, bedeutend aussehendes Mädchen mit einem charaktervollen Gesicht und machte den Eindruck einer Person, die vor kleinen Hindernissen nicht zurückschreckt. Immerhin zeiht man eine harmlose junge Dame, die mit ihrer Mutter reist, nicht gern des entsetzlichsten aller Verbrechen, des Mords, freilich pflegen andrerseits auch junge Damen keine Leichen in ihrem Koffer mitzuführen.
Die Furcht vor dem Oeffnen gerade dieses Koffers war bei dem jungen Mädchen ungemein deutlich zu Tage getreten, und wenn diese an sich auch ganz erklärlich gewesen wäre, so wurde sie doch unter diesen Umständen verdächtig. Noch ein andrer Umstand kam dazu und erschien mir von noch größerer Wichtigkeit – als man ihr den Schlüssel abverlangte, hatte sie den Gehorsam verweigert.
Ich hatte nicht den leisesten Zweifel, daß der Schlüssel, den sie hingereicht hatte, der falsche gewesen war, und demnach hatte sie den richtigen verweigert.
Dafür gab es keine andre Erklärung, als daß sie das Oeffnen um jeden Preis hatte vermeiden wollen und darauf rechnete, die Beamten werden nachgeben und sich mit der Untersuchung eines andern Gepäckstücks begnügen. Sie hatte wiederholt versichert, dieser Schlüssel sei der richtige; er war es nicht – sie hatte also eine Lüge ausgesprochen.
Während meiner kurzen Thätigkeit als Fahnder habe ich die Beobachtung gemacht und Kollegen von weit mehr Erfahrung haben mir diese wiederholt bestätigt, daß bei einem Menschen, der bewußt und willig mit kühner Stirne in Worten oder Handlungen lügt, man immer die Möglichkeit – nicht mehr als die Möglichkeit natürlich – annehmen darf, daß er auch jeden andern Verbrechens fähig ist. Der Lügner kann alle Zeit zum Mörder werden.
Alles drängte zu der Annahme, daß die junge Dame – vermutlich Fräulein Simpkinson – von dem seltsamen Inhalt ihres Koffers Kenntnis hatte, und das war an sich schon merkwürdig genug. Auf Grund dieser Voraussetzung erschien alles Weitere glaublich.
Und trotzdem gelangte ich nicht zu der inneren Ueberzeugung, daß Fräulein Simpkinson thatsächlich die Mörderin sei. Zum guten Fahnder gehören unfehlbar Ahnungsvermögen und Instinkt – nur daß beides in richtiger Weise beherrscht und geleitet werden muß, da sitzt der Haken! Ich hatte unumstößlich das Gefühl, daß Fräulein Simpkinson wohl zu der That in Beziehung stehen müsse, sie aber nicht persönlich vollzogen haben könne. Welcher Art dieser Zusammenhang war, mußte die Zeit lehren.
Das ganze Geheimnis, so wird ein jeder sagen, ging mich nichts an, und ich gebe das unbedingt zu. Ich hatte kein Recht, danach zu fragen, und sehr wenig Gelegenheit, darin einzubringen, aber trotzdem fühlte ich mich in unerklärlicher Weise dazu hingezogen und konnte mich von der Erinnerung an den Auftritt im Zollamt nicht losreißen. Aus allen Schaufenstern schien das schmale, alte Gesicht mit den starren Augen mir entgegenzublicken – wer war es, der die arme alte Frau getötet hatte, und weshalb hatte er es gethan? Ob ich wollte oder nicht, ich mußte mich mit der Sache beschäftigen, so viel empfand ich klar.