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Am andern Morgen machten mir meine Liebesleutchen zu schaffen. Aergerlicherweise kamen sie auf gen Einfall, nach Fontainebleau zu fahren, und, was noch viel ärgerlicher war, sie begeisterten sich für den Ort und sahen sich nach möblierten Zimmern um. Glücklicherweise fanden sie nicht, was ihnen zugesagt hätte, und fuhren wieder nach Paris, wo sie überdies, so hörte ich das verliebte junge Ding sagen, weit sicherer waren, da in der Riesenstadt ihre Spur weniger leicht aufzufinden sei. Hätte sie das doch vorher schon bedacht!
Es war sechs Uhr abends oder noch später, als ich wieder in meine Wohnung gelangte. Meine jungen Leute gingen ins Châtelet-Theater, um sich einen vergnügten Abend zu machen, und ich nahm hastig in einem Düvalschen Speisehaus meine Mahlzeit ein und machte mich dann nach Léon Düberts Büreau auf den Weg, denn ich brannte vor Ungeduld, die etwaigen Fortschritte, welche die Polizei gemacht haben konnte, kennen zu lernen. Den ganzen Tag war mir die Geschichte im Kopf herumgegangen.
Léon Dübert wußte nichts Neues über die Sache und verwies mich sofort an seinen Vetter, da er selbst sehr durch einen in seinem Bezirk vorgekommenen Raub in Anspruch genommen war, und ich fuhr allein zu François Dübert.
Diesen fand ich ganz aufgeregt, nervös und gereizt. Man hatte an die englische Polizeibehörde telegraphiert, und diese schickte einen von ihren Leuten herüber. Einstweilen war nichts Wesentliches zu Tage gefördert worden. Frau Simpkinson war immer noch nicht in der Verfassung, verhört zu werden, und aus der Tochter, die nicht sprechen wollte, und der Jungfer, die nichts wußte, war nichts herauszubringen. Man hatte Mutter und Tochter aus der strengen Haft entlassen und ihnen gestattet, in einem kleinen Haus neben dem Gefängnis, das in Wirklichkeit ein Teil davon war, Wohnung zu nehmen. Es trug den vielversprechenden Namen einer »Familienpension«, stand unter Leitung einer Frau, die dafür verantwortlich war, daß die Gefangenen ihre Zimmer nicht verließen, und man erfreute sich darin derselben Preise, wie in einem Gasthof ersten Rangs.
Mir lag alles daran, dem Londoner Fahnder den Rang abzulaufen und vor seiner Ankunft die richtige Fährte aufzustöbern. Den ganzen Tag über hatte ich alle Einzelheiten des Falls hin und her erwogen – ich war gar nicht im stand gewesen, mich mit andrem zu beschäftigen – und je mehr ich mir den Kopf zerbrach, desto fester hatte sich bei mir die Ueberzeugung eingewurzelt, daß Fräulein Simpkinson minder schuldig war, als sie erschien. Die Anhaltspunkte dafür waren freilich klein bei einander, und vielleicht hatte Léon recht damit, daß ich minder großen Anteil an ihr genommen haben würde, wenn sie älter und häßlicher gewesen wäre.
Ich fragte François, ob ich nicht die Erlaubnis bekäme, sie zu sprechen. Den ganzen Tag hatte ich mir überlegt, ob ich diesen Schritt thun sollte, der unfehlbar zu Verwicklungen führen mußte, mich aber eben durch das Wagnis reizte. Ich war gefaßt, bei François auf entschiedenen Widerspruch zu stoßen – er zögerte – ich stellte ihm vor, daß ich als Landsmann von der Gefangenen vielleicht manche Mitteilung erlangen könnte, die sie ihnen verweigerte.
»Hat niemand Zutritt zu ihr?« fragte ich.
»O – doch,« erwiderte er unschlüssig, »doch, doch, eine oder zwei Personen, auf besondere Erlaubnis. Verboten ist es nicht, mit ihr zu verkehren.«
»Könnten Sie mich hinführen?«
»Allerdings, aber –«
»Dann gehen wir sofort. Je mehr Sie herausgebracht haben, ehe der Londoner Fahnder kommt, desto mehr Anerkennung wird es Ihnen eintragen.«
Nun gut, er ließ sich überreden und wir fuhren in einer Droschke nach einem trübseligen Haus in einer engen Gasse, deren Namen ich vergessen habe. Das Haus sah mit der Rückseite nach der Straße und lag im Schutz des Gefängnisses. Die Beleuchtung war mangelhaft, alles machte einen traurigen Eindruck, und trotz der frühen Stunde – es war erst halb acht Uhr – begegnete man nur wenigen Leuten und sah viele geschlossene Fensterladen. Wir hielten an einer massiven Hausthüre, über der eine helle Gasflamme brannte, und Herr Dübert zog die Klingel, worauf sofort die Hauswirtin erschien und uns in den Salon führte. Sie war eine große, plumpe, schmierig aussehende Person, mit schriller Stimme und schwarzen Löckchen; François redete sie als Frau Bassequin an. Dieses Empfangszimmer war ein höchst ungemütlicher Raum, mit grünen Samtmöbeln und zwei Vasen voll gemachter Blumen unter Glasglocken. Zwei Gasflammen brannten, eine mit, eine ohne Milchglas.
Nach einigen halblaut mit der Wirtin gewechselten Worten der Erklärung ging der Polizeikommissär, und Frau Bassequin begab sich ins Nebenzimmer, um, wie sie mir sagte, den Damen Meldung zu machen.
In diesem nach rückwärts gelegenen Zimmer, das mit dem Salon durch eine Flügelthüre in Verbindung stand, offenbar eine Einrichtung, um die Ueberwachung der von Madame so freundlich aufgenommenen Gäste zu erleichtern – hörte ich Stimmen. Die eine davon gehörte Fräulein Simpkinson an, die andre war die eines Mannes, voll, angenehm, sympathisch, eine englische Stimme, und englisch sprachen sie auch. Dies war mir sehr störend, denn ich hatte gehofft, das Feld für mich allein zu haben. Fräulein Simpkinson hatte also einen Engländer bei sich – wer konnte das sein?
Ich hatte ihr meine Karte geschickt, auf der ich mit Bleistift bemerkt: »Ein Landsmann, der glaubt, Ihnen von Nutzen sein zu können.«
Ich war vielleicht nicht sehr berechtigt zu dieser gewagten Behauptung, aber ein Vorwand war schließlich so annehmbar wie ein andrer, und da ich zu guter Letzt doch wirklich noch von Nutzen war, so war Düberts Willfährigkeit, mich zu ihr zu lassen, doch nicht so übel.
Im Nebenzimmer ward nun beraten, ob es angemessen sei, meinen Besuch anzunehmen oder nicht. »Laß mich den Mann sprechen,« hörte ich den Unbekannten sagen, worauf die weibliche Stimme zu meiner großen Erleichterung mit Bestimmtheit erwiderte: »Wir können ihn ebensogut beide empfangen.« Ich drückte mein Ohr an die Schiebthüre, um mehr zu hören, aber in diesem Augenblick erschien die Beschließerin dieser Burg wieder; ich sprang zwar mit einem Satz in die Mitte des Zimmers, war aber doch nicht rasch genug gewesen. Frau Bassequin zog die Augenbrauen verständnisvoll in die Höhe, und ein boshaftes Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ich sehe, Sie sind vom Fach,« sagte sie, »mir nützt es nichts, denn sie reden immer Englisch. Ich habe mir einen herbestellt, der es versteht, aber er wird fort sein, ehe er kommt.« Dieser ungemein dunkle Rätselspruch schien die Dame so zu befriedigen, daß sie ihn noch einmal vor sich hin sagte, als wir den Flur entlang gingen, dann machte sie eine Zimmerthüre auf und ließ mich eintreten.
Das Zimmer hatte eine hübsche Größe, sah aber sehr unwirtlich und unsauber aus. Wie ich später von Léon hörte, hatten die Inhaber fünfundzwanzig Franken den Tag dafür zu bezahlen, und ich dächte, bei diesem Preis hätte man wenigstens die Schutzdecken auf dem Sofa waschen können. Der Kronleuchter hatte drei Arme und die drei Flammen brannten – Beleuchtung wurde ja besonders berechnet – so daß in dem grellen Sicht jeder Fleck und jedes Spinnweb leuchtend hervortrat, und in dem Kamin brannte ein Riesenfeuer, bei dem es offenbar darauf abgesehen war, so viel Holz als möglich auf die Rechnung setzen zu können, was eine große Hitze des Raumes zur Folge hatte.
Fräulein Orr-Simpkinson saß in der entferntesten Ecke zwischen Fenster und Kamin auf einem alten Roßhaarsofa, und neben ihr stand ein Herr. Beide waren grell beleuchtet und sahen mir etwas überrascht entgegen.
Ich meinerseits durchschaute die beiden auf den ersten Blick, wenigstens bildete ich mir das ein. Jetzt, da ich Fräulein Simpkinson mit Muße betrachten konnte, gefiel sie mir noch weit besser als zuvor. Da ihr Gepäck mit Beschlag belegt worden war und die Polizei ihr nur gestattet hatte, das Unentbehrlichste an sich zu nehmen, trug sie immer noch ihr dunkles, trefflich sitzendes Reisekleid, sah aber in dem einfachen Anzug ungemein aufgeräumt, hübsch und thatkräftig aus. Das schöne schwarze Haar trug sie in Flechten, die dicht an den Kopf geschmiegt waren, sie hatte große, braune, ausdrucksvolle Augen, die einen gerade und voll anschauten und für die Unregelmäßigkeit ihrer Züge reichen Ersatz boten. Sie war streng genommen nicht schön, aber sie besaß den Reiz, den schöne Augen und eine imponierende Gestalt jeder Frau verleihen müssen, und wieder sagte ich mir, das ist die Art von Frauen nicht, die einen Mord begeht, wohl aber die Frau, die sich das Leben nähme, um den Mörder zu schützen – wenn sie ihn liebte.
Wenn Fräulein Simpkinson mir gefiel, so muß ich gestehen, daß der Herr, der an ihrer Seite stand, mich fast noch mehr anzog. Seine Kleidung kennzeichnete ihn als Prediger der englischen Staatskirche und stand ihm vorzüglich. Es war ein großer, schlank gebauter Mann, mit einem jungen, glatt rasierten, frischen Gesicht, einem dichten Busch kurzgeschnittener Haare und hellen, ehrlichen, blauen Augen, aus denen kindliche Offenheit hervorblickte. Er hatte die Hand auf die Rücklehne von Fräulein Simpkinsons Sofa gelegt, und ich freute mich, sie in so angenehmer Gesellschaft und so wohl beschützt zu finden.
»Ohne Zweifel lieben sie sich,« dachte ich bei mir, »also muß es ein Bruder sein, der sie beschützt.«
Ich muß zu meiner eignen Entschuldigung sagen, daß ich mich gleichzeitig selbst ärgerte über den Eigensinn, mit dem ich an meinen vorgefaßten Annahmen festhielt, trotzdem aller Anschein dagegen sprach.
Wir waren allein, denn ich hatte Frau Bassequin mit einer Handbewegung aufgefordert, sich zurückzuziehen. Fräulein Simpkinson eröffnete das Gespräch mit einer für ein so junges Wesen staunenswerten Selbstbeherrschung; sie konnte nicht über zwanzig Jahre alt sein und den Herrn an ihrer Seite würde ich auf dreiundzwanzig geschätzt haben.
»Darf ich nach der Veranlassung Ihres Besuches fragen, Herr,« – sie warf einen Blick auf meine Visitenkarte – »Spence?«
Ihre schönen Augen waren forschend auf mich gerichtet.
»Gewiß, mein Fräulein,« erwiderte ich und kam mir dabei recht linkisch und ungeschickt vor. »Mein Name ist Spence und ich bin, wie Sie aus meiner Karte ersehen, bei einem Privat-Nachfragebüreau angestellt. Zufällig war ich gestern auf dem Bahnhof gegenwärtig – und ich dachte mir, daß Sie unter den obwaltenden Verhältnissen vielleicht solcher Dienste bedürftig sein könnten, wie unser Büreau sie leistet. Ich spreche geläufig Französisch und bin mit verschiedenen an der Untersuchung beteiligten Beamten persönlich bekannt.«
Fräulein Simpkinson antwortete nicht, dagegen begann der Geistliche mit einer wohllautenden Stimme und gefälligem Wesen, das mich nur noch mehr für ihn einnahm, zu sprechen.
»Es mag wohl sein, daß Ihre Dienste uns sehr wertvoll werden können, aber augenblicklich sind Schmerz und Verwirrung noch so überwältigend, daß wir keinen klaren Gedanken zu fassen vermögen. Wir sind außer Stand, eine Erklärung über das Vorgefallene zu geben, wenn Sie uns zu einer solchen verhelfen könnten, würden Sie uns unendlich verpflichten.«
»Darf ich erfahren,« sagte ich, »inwiefern Sie, mein Herr, an der Sache Anteil nehmen oder beteiligt sind?«
»Gewiß,« erwiderte er. »Mein Name ist Harvey, Vikar Harvey, und ich bin der Verlobte dieser jungen Dame, des Fräulein Orr-Simpkinson.«
Harvey! Ich sah dem biedern Engländer ins Gesicht und fühlte, wie mein ganzes Kartenhaus zusammenstürzte.
»Edith, ich glaube,« fuhr er zu seiner Braut gewendet fort, »es wäre das Klügste, was wir thun könnten, wenn wir diesen Herrn ins Vertrauen zögen, indes wir anderweitigen Rat abwarten.«
»Gewiß, Austin,« war ihre Antwort.
Austin Harvey! Wie Spreu vor dem Wind waren all meine kühnen Schlüsse, die ich aus dem P. H. gezogen, zerstoben! Austin ist an und für sich ein sehr hübscher Name. Ich nannte mich im stillen einen Schafskopf und Narren, und viel fehlte nicht, so hätte ich rechtsumkehrt gemacht und den Fall Fall sein lassen. Unbedingt mußte ich mir eine neue Fährte suchen.
»Die Anklage gegen Fräulein Simpkinson und ihre Mutter ist ja geradezu abgeschmackt,« fuhr Herr Harvey nun zu mir gewendet fort, »und doch müssen wir einräumen, daß wir die Opfer der alleraußerordentlichsten Verhältnisse sind. Als ich gestern abend die Depesche erhielt, die mich hierher berief, wußte ich nicht, was ich zu erwarten hatte – auf dies war ich sicherlich nicht vorbereitet – und nun weiß ich weder, was ich glauben soll, noch was geschehen wird.«
»Die Damen wurden festgenommen, weil sie nichts Geringeres als einen Leichnam bei sich führten. Dieser Leichnam war in einem schwarzen Koffer versteckt. Die erste Frage ist nun: gehört dieser Koffer Fräulein Simpkinson?«
»Ja,« versetzte die Dame rasch, etwas zu rasch, wollte mich bedünken.
»Meine liebe Edith,« begann der Geistliche, aber sie gebot ihm durch eine heroische Bewegung zu schweigen.
»Ich sage dir, daß es mein Koffer ist, Austin. Frage doch Susanne. Es hat nicht den leisesten Wert, darüber noch einmal zu streiten. Wem sollte er denn gehören?«
»Allerdings, wem?« wiederholte Harvey mit so verblüfftem Gesicht, daß es ganz komisch war.
»Die zweite Frage ist,« fuhr ich fort, »wer ist die Ermordete? Bis heute ist das noch nicht festgestellt.«
»Diese Frage kann ich beantworten,« sagte Harvey, und es legte sich wie ein dunkler Schatten über sein angenehmes Gesicht, »obwohl es mir lieber wäre, ich könnte es nicht. Auch Fräulein Simpkinson hätte sie beantworten können und ich glaube, sie hat unklug gehandelt, indem sie den französischen Behörden nicht sofort jeden erwünschten Aufschluß erteilte. Ja, Edith, das ist wieder ein Punkt, über den unsre Ansichten zu meinem Leidwesen weit auseinandergehen.«
»Ja, aber wer ist es denn?« rief ich in stürmischer Ungeduld.
»Nach dem, was meine Braut mir sagt, bleibt nicht der leiseste Zweifel übrig, daß der entseelte Leib der einer Tante von mir ist,« versetzte der Pastor und ging, um seiner Bewegung Herr zu werden, mit heftigen Schritten im Zimmer auf und ab, »und so peinvoll die Sache für mich ist, werde ich der Polizeibehörde mitteilen, was zu wissen sie ein Recht hat.«
Fräulein Simpkinson stand auf und trat zu ihm.
»Um Gottes willen,« rief sie leidenschaftlich, »hab' Erbarmen mit uns allen und thue das nicht!«
»Edith,« sagte der junge Mann sehr weich und zärtlich, indem er ihren Arm durch den seinen zog. »Du bist im Irrtum, Liebste. Du bist im Irrtum. Es gibt Augenblicke im Leben, wo wir zaudern, aber in der Regel vermögen wir es nur allzudeutlich zu erkennen, wo der Weg der Pflicht liegt. Es ist durchaus notwendig, daß ich die Wahrheit melde, und überdies, wenn ich auch schweigen wollte, so würden andre reden.«
Er sah mich an.
»Wie lang wird die französische Polizei brauchen, um ohne meine Hilfe den Namen ausfindig zu machen?«
»Man hat die Anfangsbuchstaben,« erwiderte ich, »kennt den vermutlichen Wohnort der Dame, sowie die Nummer ihrer Uhr und die Adresse des Fabrikanten, überdies haben sie ihre Kleider und ihre Börse – in drei Tagen, dächte ich, können sie über die Person im klaren sein.«
»Diesen Zeitverlust kann ich den Herrn ersparen. Meine Tante hieß Elisabeth Raynell, sie war unverheiratet und wohnte in Haverstock Hill, Nr. 13 Upper Norton Crescent. In letzter Zeit hatte sie sich ihrer Gesundheit halber in Southend aufgehalten und dort –« seine Stimme zitterte – »muß der Tod sie ereilt haben.«
Fräulein Simpkinson sank aufs Sofa und verhüllte ihr Gesicht mit den Händen.
»Ich glaube, daß Sie sehr wohl daran thun, der Polizei in jeder Hinsicht Vorschub zu leisten, mein Herr. Es hat gar keinen Wert, Thatsachen, die sich früher oder später doch herausstellen müssen, zu verschweigen, und diese Handlungsweise könnte höchstens noch verschlimmern, was schon jetzt, entschuldigen Sie, wenn ich es ausspreche, eine ungemein bedenkliche Lage ist.«
Ich ärgerte mich gründlich über Fräulein Simpkinsons unverständiges, ungeschicktes Betragen.
»Das weiß ich,« sagte sie, die Hände vom Gesicht entfernend.
»Der Mord ist in Southend begangen worden,« fuhr ich fort, »so viel wußte ich schon, ehe ich hierher kam. Was sind die Motive der That?«
Tiefes Schweigen. Das Brautpaar sah sich fragend an.
»Was berechtigt Sie, uns einem Verhör zu unterwerfen?« sagte Fräulein Simpkinson gereizt.
»Nichts,« erwiderte ich, mich rasch erhebend, »und ich habe auch gar kein Verlangen danach. Ich dachte nur, Sie würden sich vielleicht gerne meiner Hilfe bedienen. Es handelt sich um Mord, mein Fräulein, und irgend jemand wird die Strafe zu erleiden haben – ich wünsche von ganzem Herzen, daß Sie es nicht sein mögen.«
»Strafe!« rief der Geistliche. »Mord – großer Gott, Edith!«
Wir sahen alle drei einander an, er bekümmert, sie trotzig, ich zweifelnd.
»Edith, Edith, mein armes Herz, du bist außer dir: Fragen Sie, was Sie wollen, und helfen Sie uns, so weit es in Ihrer Macht steht. Fragen Sie – ob wir Ihnen Antwort geben können, darüber muß unser eignes Gewissen Richter sein, aber den Mörder können wir Ihnen nicht nennen, weil wir keine Gewißheit haben, und die Motive der That vermuten wir wohl, wagen aber nicht, sie laut werden zu lassen.«
»Wohnten Sie mit Ihrer Tante zusammen?« fragte ich.
»Nein. Ich bin Prediger an der Marienkirche in Southend und meine Tante, der die Aerzte Seeluft verordneten, wählte den Ort hauptsächlich, weil ich dort bin.«
»Lebte sie allein?«
»Ja, mit zwei Dienerinnen, wovon die eine schon eine alte Frau, die andre ein junges Mädchen ist.«
»Waren diese Dienstboten auch in Southend bei ihr?«
»Nein, sie hatte sie in London gelassen und sich in eine Pension gegeben.«
»Wie lautete ihre Southender Adresse?«
»O, sag es ihm nicht!« bat Fräulein Simpkinson.
»Aber meine liebe Edith! Strandpromenade Nr. 17.«
Ich schrieb Straße und Hausnummer in mein Notizbuch, wobei Fräulein Simpkinson mir mit sichtlicher Aengstlichkeit zusah. Ihr Benehmen war mir ganz unverständlich.
»Ist es Ihr Wunsch, daß der Thäter entdeckt wird?« fragte ich.
»Nein,« war ihre Antwort.
»Wünschen Sie etwa an seine – oder ihre – Stelle zu treten?«
Sie schwieg. Ich fühlte wohl, daß nichts aus ihr herauszubringen war. Da kam mir ein plötzlicher Einfall und ich beschloß, nicht von der Stelle zu gehen, ehe ich etwas über den Koffer erfahren hätte.
»Verzeihen Sie meine Wißbegierde,« begann ich, »Sie leben in Greenwich, nicht?«
»Nein,« versetzte sie kurz. »In Tooting. Ich habe der Polizei meine Adresse angegeben.«
»Ich bitte um Entschuldigung für meinen Irrtum. Ich dachte wirklich, Sie wohnten in Greenwich – es ist ein sehr hübscher Ort, an dem es sich angenehm lebt.«
»Das mag ja sein,« erwiderte sie. »Ich weiß es nicht; bin nie dort gewesen.«
Nun wußte ich, was ich wissen wollte; ich hatte nicht erwartet, so leicht zum Ziel zu gelangen.
»Eines steht fest: der Koffer mit dem Leichnam ging gestern früh von Charing Croß ab. Da Sie den Koffer als den Ihrigen anerkennen, ziehe ich nicht in Abrede, daß dem so ist – wollen Sie behaupten, daß Sie selbst den Körper der ermordeten Frau hineingesteckt haben?«
Endlich erblaßte sie; ihre Lippen waren ganz weiß, ihre Stimme aber klang fest, als sie mir zurückgab: »Nein, das sage ich nicht.«
»Wollen Sie damit zu verstehen geben, daß ein andrer es in Ihrer Gegenwart gethan habe?«
»Nein.«
»Nun denn, wenn der Koffer Ihnen gehört, so muß er ohne Ihr Wissen einer andern Person zugänglich gewesen sein.«
»Nein. Ich habe den Koffer erst vor vier oder fünf Tagen gekauft, und seither stand er in meinem Zimmer. Gestern früh hat meine Jungfer ihn gepackt, fragen Sie diese.«
Sie will mir entwischen, dachte ich, und sagt mir nur die halbe Wahrheit. Wenn ihre Jungfer den Koffer gepackt hat, so muß es, wie sie sagt, gestern früh geschehen sein und zwar in dem Londoner Hotel, denn in Southend hatte sie die Jungfer ja gar nicht bei sich. Vorderhand ist es noch rein unmöglich, Wahres und Falsches in ihren Angaben zu unterscheiden, aber sie wird sich schon in ihren Lügen verstricken.
»Sie glauben mir nicht?« sagte sie. »Was liegt daran! Ich kann Ihnen aber schwören, daß der Koffer nicht aus meinem Zimmer kam. Wie der Leichnam des armen Fräulein Raynell hineingeraten ist und wer ihn hineingesteckt hat, das ausfindig zu machen, ist Sache der Polizei.«
Sie sah ihren Verlobten trotzig an.
»Und sie wird es ausfindig machen,« sagte ich ruhig.
Meine Anwesenheit hier wurde mehr und mehr überflüssig, wenn nicht lächerlich, ich ging also nach der Thüre.
»Dieser Koffer ist nicht der Ihrige, Fräulein Simpkinson,« sagte ich im Hinausgehen.