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Fünftes Kapitel. Die Gepäckadressen

»So viel steht unleugbar fest,« sagte Léon Dübert, als wir die Sache in dem Polizeibüreau durchsprachen, »die junge Dame hält den Schlüssel zu dem Geheimnis in Händen, ja mehr als das, alles spricht dafür, daß die That von ihr oder auf ihre Anstiftung verübt worden ist.«

»Zweifellos,« erwiderte ich, »aber, denken Sie an mich, es wird sich herausstellen, daß sie nicht allein war.«

»Vermutlich,« gab Léon zu.

»Und glauben Sie mir, Sie werden finden, daß sie nicht die Hauptschuldige ist.«

»Weshalb nicht?« fragte François überrascht.

»Ich weiß es nicht – es mag ja sein, daß ich mich täusche, aber meine Ueberzeugung ist es.«

»Und ich kann Ihnen sagen, weshalb,« warf Léon lachend dazwischen. »Die Dame ist jung, sie ist ihre Landsmännin und ist hübsch. Nicht hübsch ist sie? Nun denn, sagen wir interessant – und soll eine Mörderin sein? Pfui! Der Gedanke ist zu häßlich, somit muß ein andrer die Hauptschuld tragen! Hüten Sie sich vor hübschen Weibern in Polizeiangelegenheiten!«

Ich lachte ebenfalls, aber ich nickte nur mit dem Kopf und fragte, ob wir nicht Koffer und Leichnam besichtigen könnten.

Der Zufall wollte, daß dies gerade jetzt noch geschehen konnte. Der Leichnam sollte am nächsten Morgen in aller Frühe nach der Morgue geschafft werden, man hatte sich aber entschlossen, ihn für diese Nacht noch auf dem Polizeiamt zu lassen. François Dübert führte seinen Vetter und mich in das anstoßende Zimmer.

Der Raum war gänzlich kahl und nichts darin, als ein großer Tisch, eigentlich nur ein einfaches, tannenes Brett auf einem Fußgestell, eine lange Bank und ein großer weißer Ofen, und er hatte keinen andern Ausgang, als den durch des Kommissärs Amtsstube. Wahrscheinlich diente er in der Regel als Warteraum für solche Zeugen, die er zu seiner Verfügung haben wollte.

Auf der langen, schmalen Tischplatte lag der tote Körper, genau in der Stellung, wie er aus dem Koffer genommen worden war. Ich betrachtete ihn eingehend. Die Tote hatte offenbar der höheren Mittelklasse angehört, sie war entschieden eine Dame, wenn auch eine etwas verzwickt und altmodisch aussehende. Ihre Kleidung bestand aus einem langen, einfachen, schwarzen Kleid von feinem Wollstoff, ohne jeglichen Ausputz, sauberen Manschetten und einem gut sitzenden Kragen. Auf dem Kopf trug sie eine schwarze Spitzenhaube, die mit Hutnadeln auf ihrem grauen Haar befestigt war, das in reichen Wellen eine hohe Stirne umgab; so weit ich es schätzen konnte, mochte sie zwischen sechzig und fünfundsechzig Jahren sein. Der Ausdruck des verkniffenen, pergamentartigen Gesichts war nicht liebenswürdig, selbst im Tode nicht; in den starren, hellblauen Augen lagen Härte und Habgier, und um die schmalen Lippen war eine eigensinnige Falte eingegraben.

»Eine boshafte alte Person,« bemerkte Léon, und ich gab ihm recht.

Sie hatte ihre Uhr noch an sich hängen, eine einfache Remontoiruhr von Lennett, wie man sie um zehn Pfund kauft, an einer schwarzen Kette. Ich öffnete sie und schrieb mir die Nummer auf.

»Die wird uns, wenn alle andern Handhaben fehlen, bei Feststellung der Persönlichkeit sehr zu statten kommen,« sagte ich.

Auch eine Börse fand sich in ihrer Tasche mit dem Fabrikstempel von Parkins & Gotto; der Inhalt bestand in ein paar Silbermünzen und drei Guineen in Gold, die in einer besondern Abteilung waren. Außerdem enthielt die Tasche ein seines leinenes Taschentuch, das ebenso wie das übrige, außerlesen gute Weißzeug der alten Dame mit E. R. gezeichnet war.

Um einen Raubmord handelte es sich also keinenfalls, und diese Möglichkeit war mir auch von Anfang an nie in den Sinn gekommen.

Ich hob den Kopf auf und entfernte die Haube; als ich das dünne Haar zur Seite strich, entdeckte ich hoch oben an der linken Schläfe eine große, unblutige Beule. Auf meine Frage, ob Francis sie auch schon wahrgenommen habe, erwiderte er nein, der Leichnam werde ja morgen in der Morgue ärztlich untersucht werden.

Offenbar hatte man die Frau durch einen Schlag betäubt, dieser konnte aber kaum stark genug gewesen sein, um augenblicklichen Tod herbeizuführen. Weit mehr hatte die Annahme für sich, daß Chloroform sich als Todesursache herausstellen werde, falls man nicht bei der Untersuchung Spuren von innerlich angewandtem Gift fände.

Konnte eine Frau diesen Schlag geführt haben? Ich untersuchte die Beule noch einmal; Bestimmtes zu sagen war natürlich schwer, aber es sah aus, als ob der Schlag mit großer Gewalt geführt worden sei.

Alles in allem hielt ich es nicht für wahrscheinlich, baß eine Frau dieses Mittel gewählt haben würde; das Chloroform sah nach weiblicher Arbeit aus, der Schlag kaum.

Vergebens bat ich um die Erlaubnis, den Leichnam zu entkleiden; Herr Francis gestattete dies nicht, ehe die Sachverständigen ihre Untersuchung vorgenommen hatten, und das war auch von seinem Standpunkt aus das Richtige.

Zunächst erbat und erhielt ich Erlaubnis, mir den Koffer genau anzusehen, allein meine äußerst gründliche Untersuchung führte zu keinem nennenswerten Ergebnis. Es war ein gewöhnlicher länglicher Koffer aus starkem Holz und außen schwarz angestrichen, nicht lackiert, sondern ziemlich roh angestrichen. Der Deckel hing an Metallscharnieren und die Innenseite war mit dem üblichen rot und weiß gestreiften Stoff tapeziert. Im Deckel befand sich eine quadratische Etiquette mit dem Namen des Verfertigers: »Brown & Elder, 117 Cheapside,« so viel ich weiß einer angesehenen Londoner Firma.

Der Koffer war vollständig leer, bis auf den Strick, mit dem er umschnürt gewesen war, und den der Kommissär hineingeworfen hatte; er schien ganz neu, und die Innenwände trugen keinerlei Blutspuren oder sonstige Flecken, nur da, wo man die Glieder gewaltsam hineingedrückt hatte, zeigten sich leichte Eindrücke, und an ein paar Stellen war der Stoff abgeschabt. Das Innere des Koffers war also für unsre Zwecke ganz unergiebig.

Auch die Außenseite verriet auf den ersten Blick nicht das geringste, und doch sollte sie mit der Zeit den wichtigsten Fingerzeig liefern.

Der Koffer trug keinerlei Aufschrift, und ich erkundigte mich bei François Dübert, ob keine Gepäckadresse darauf gewesen sei. Er sagte nein, und zwar sei dies um so auffallender, als sämtliche übrigen Gepäckstücke ausnahmslos dieselbe Aufschrift trugen, die ich auf dem Bahnhof schon ins Auge gefaßt hatte. »Frau Orr-Simpkinson, Passagiergut von London nach Paris.« Ich sah ihn ganz ernsthaft an und sagte: »Notieren Sie sich diesen Umstand.«

Fräulein Simpkinson war um eine Erklärung hiefür nicht verlegen gewesen, indem sie sagte, daß sie sich für das Gepäck stets der anzuhängenden Leinwandadressen bediene, und daß man erst im letzten Augenblick inne geworden sei, daß dieser Koffer weder Handgriffe noch Riemen besitze, an denen man etwas befestigen könnte, was sehr ungeschickt sei. Unerwarteterweise fand diese Erklärung durch die Aussage der Jungfer volle Bestätigung.

Wenn ich sagte, der Koffer habe keine Aufschrift getragen, so meine ich damit die Adressen, welche die Reisenden selbst anzubringen pflegen. Die Zettel, die auf der Güterbeförderung auf jedes ins Ausland gehende Gepäckstück geklebt werden, fehlten natürlich nicht. Auf dem Kofferdeckel war ein riesiges P auf weißem Grunde aufgeklebt, das vermutlich »Paris« oder auch »Passagiergut« bedeuten mochte und zur leichteren Orientierung für die Zollbeamten dienen konnte, und an der Vorderseite des Koffers war ein kleinerer Zettel von grünlichem Papier angebracht, der in folgender Weise bedruckt war:

V
i
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C
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l
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s
  London (Charing Gross) to   s
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a
l
a
C

a
i
V
212
Paris




Das war nicht sehr aussichtsreich, und die übrigen drei Seiten waren gänzlich schwarz und glatt. Ich hob den Koffer auf und besah ihn von unten, auch hier war er glatt und schwarz.

Ich muß noch erwähnen, daß man einen Schlosser hatte kommen lassen, und daß dieser nach gründlicher Untersuchung erklärt hatte, der von Fräulein Simpkinson vorgewiesene Schlüssel sei nie und nimmer für dies Schloß gemacht, und gar keine Möglichkeit vorhanden, daß er je zum Schließen oder Oeffnen des Koffers benutzt worden sei. Als Fräulein Simpkinson dieser Ausspruch mitgeteilt worden sei, habe sie ganz gelassen erklärt, der Mann lüge.

Eine ganze Weile blieb ich noch vor dem Koffer stehen.

»Du könntest das Dunkel lichten,« sagte ich im stillen. »Wenn du zu sprechen vermöchtest. Was verschweigst du? Wer hat dir die beklagenswerte Frau anvertraut und sein Geheimnis mit deinem Deckel verschlossen? War sie schon tot, oder war noch Leben in ihr, als du sie aufnahmst? Du sollst sprechen,« fuhr ich aufgeregt fort, denn der Gedanke, daß wir von diesem leblosen Ding Beistand zu erwarten haben in unsrer grauenhaften Arbeit, beherrschte mich wie eine fixe Idee.

Plötzlich kam mir ein Einfall. Ich machte Herrn Dübert den Vorschlag, er solle die aufgeklebten Zettel sorgfältig ablösen und nachsehen, ob nicht zufällig andre darunter stecken. Er zuckte mit den Schultern und scheute sich offenbar, den Koffer auch nur anzurühren.

»Es ist ja nur eine entfernte Möglichkeit,« gab ich zu, »aber sehen Sie, schließlich ist der Fall in Ihre Hand gegeben, und es wäre doch ganz prächtig, wenn Sie etwas wirklich Bedeutendes herausbrächten, ehe die ganze Sache an den Untersuchungsrichter übergeht, was in ein bis zwei Tagen geschehen muß. Sie sind doch vollkommen berechtigt, solche Nachforschungen vorzunehmen, nicht?«

»O gewiß,« sagte er, »berechtigt bin ich dazu «

»Nun denn, rasch ans Werk. Mir schwant, daß die Mühe nicht vergebens sein wird.«

Mit einigem Widerstreben stimmt er mir schließlich bei, und wir machten uns zuerst an den Gepäckzettel »London nach Paris«, den wir nach allen Regeln der Kunst ablösten. Es ist das immer ein saures Stück Arbeit, das die äußerste Sorgfalt erheischt, schließlich aber konnten wir das Stückchen Papier wegziehen, aber darunter trat nichts zu Tage, als die glatte, schwarze Oberfläche des Koffers.

Das war eine Enttäuschung, aber trotzdem überredete ich die beiden Franzosen, auch den andern Zettel, das große P auf weißem Papier, abzulösen. Mit erneutem Eifer gingen wir ans Werk, und diesmal blieb die Mühe nicht unbelohnt, wenn man nämlich ein so bescheidenes Ergebnis als Belohnung ansehen will. Unter dem weißen Zettel kam ein andrer zum Vorschein – ich hielt ordentlich den Atem an, als wir den oberen langsam und bedächtig wegzogen. Einen Augenblick noch, und die verborgene Adresse stand heil und deutlich vor uns, eigentlich aber stand blutwenig darauf, nichts als in großen gedruckten Buchstaben die drei Worte: »Greenwich nach Southend«. Das war alles, es war nur einer jener gewöhnlichen Gepäckzettel, wie sie bei der Gepäckaufgabe angeklebt werden.

Nichts sonst? Ich drehte den Koffer, daß das volle Licht der flackernden Gasflamme darauf fiel, und als ich ihn so vor mich hielt und darauf hinstarrte, als wollte ich den zwei unerwartet zu Tage getretenen Zeilen das ganze Geheimnis entreißen, gewahrte ich plötzlich zwei kleine, mit Bleistift geschriebene Buchstaben in der einen Ecke, die durch den Gummi oder Kleister, womit die obere Adresse aufgeklebt gewesen, halb verwischt waren. Es waren die geschriebenen Buchstaben:

.

Mir schwindelte ordentlich – ich wußte selbst nicht weshalb – als ich den Koffer niedersetzte.

»Der Koffer kam von Southend,« sagte ich, so gelassen als möglich.

»Ja,« erwiderte Léon, »das stimmt zu dem, was die Jungfer uns sagte.«

Fast mechanisch drehte ich ihn noch einmal nach allen Seiten, und während ich mich in allgemeinen Redensarten über das Verbrechen erging, suchte ich mit Anspannung all meiner Kräfte meinem Gedächtnis das Bild dieser zwei Buchstaben einzuprägen. Ich konnte mir selbst nicht Rechenschaft darüber geben, weshalb sie eine solch magische Anziehungskraft für mich hatten, aber ich fühlte dunkel, daß ich hier das richtige Ende des verwirrten Knäuels in Händen hielt.

Meine Ahnung war richtig. Von Anfang bis zu Ende waren diese beiden Buchstaben die Angeln, an denen alles hing.

Nun lag mir daran, rasch nach Hause zu kommen, um die Buchstaben nachzubilden, ehe der Eindruck sich abgeschwächt hatte, und ich verabschiedete mich daher mit einiger Hast von den beiden Franzosen.

»Und wenn Sie einen Rat von mir annehmen wollen,« sagte ich im Hinausgehen, »so lassen Sie diese Adresse von niemand antasten. Sie ist der Ausgangspunkt.«

Die Franzosen machten verblüffte Gesichter, und von jetzt ab arbeiteten wir in getrennten Lagern. Die Pariser Behörden thaten ihr Möglichstes, allein sie hatten große Schwierigkeiten zu überwinden, und ihre Erfolge bei Auffindung des Mörders waren im Fall vom »Schwarzen Koffer« nicht groß.


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