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Dreiundzwanzigstes Kapitel. Eine frische Fährte

Fräulein Simpkinson hatte den Wunsch nach einer persönlichen Begegnung mit Philipp ausgesprochen und würde ihn vermutlich aufgesucht haben, wenn sie gewußt hätte, wo er zu finden war. Da ein solcher Schritt unfehlbar seine sofortige Verhaftung zur Folge gehabt hätte, verschwieg ich ihr seine Wohnung aufs sorgfältigste, und glücklicherweise hatte sich das Bewußtsein der Gefahr Philipp so tief eingeprägt, daß er willig auf diese Begegnung Verzicht that. Es war überhaupt eigentlich ein guter Kerl, dieser Philipp, und that mir allmählich herzlich leid.

Mit allen möglichen Vorsichtsmaßregeln kehrte ich in unsern Gasthof zurück. Zu thun war vorderhand nichts mehr; was ich in Paris hatte erreichen wollen, war geschehen. Ich hatte die Gewißheit, daß mein Facsimile getreu war, die Verschiedenheit war wirklich vorhanden – Philipp Harvey hatte diese Buchstaben nicht geschrieben.

So viel stand fest, und, so unglaublich es auch erscheinen mag, sobald man davon ausging, daß die Buchstaben nicht von ihm herrührten, alle Nebenumstände dazu rechnete, meine eigene Logik und Fräulein Ediths augenblicklichen Eindruck mit in Erwägung zog, so schien alles darauf hinzudeuten, daß Austin den Koffer in dieser Weise gezeichnet habe. Der Sachverständige hatte das in Abrede gezogen, aber von Sachverständigen hielt ich ja nicht viel. Für den Augenblick bestand also meine ganze Aufgabe darin, Philipp nach Marseille zu befördern. Austin hatte im Drang der Ereignisse die Sabbatheiligung beiseite gesetzt und war wirklich am Sonntag nachmittag herübergekommen; er suchte uns in unsrem Gasthof auf, und konnte mir nur bestätigen, daß die Bücher, die Philipp in seinen Koffer gepackt haben wollte, im Wandschrank der Tante standen. Auch die Liebesbriefe und Erinnerungszeichen hatten sich dort vorgefunden, und Austin hatte sie als Beleg für die Richtigkeit seiner Aussage mitgebracht und hielt sie dem Bruder hin. Ich beobachtete Philipps Gesichtsausdruck in diesem Augenblick und muß gestehen, daß ich mir bis dahin keinen Begriff davon hatte machen können, in welchem Maß der Mensch noch hofft, wo keine Hoffnung mehr ist. Wir brachten den armen Teufel nach dem Lyoner Bahnhof und sahen ihn mit dem Schnellzug abdampfen. Austin hatte ihn mit hundert Pfund versehen und gab ihm sein Wort, daß er bei seiner Ankunft in Montevideo weitere zweihundert vorfinden solle, denn wir hatten uns für die Argentinische Republik entschieden. Als der Zug sich schon in Bewegung setzte, beugte Philipp sich aus dem Wagenfenster. »Austin,« sagte er, »es ist mir immer noch unbegreiflich – glaubst du wirklich, daß ich es gethan habe?«

Der Geistliche brach in Thränen aus und konnte nicht antworten; der Zug fuhr nun rasch davon, und ich lootste Austin Harvey so rasch als möglich aus der neugierigen Menge heraus.

»Der Arme!« hörte ich einen Herrn sagen. »Es war ohne Zweifel sein Bruder.«

Als wir nach dem Nordbahnhof fuhren – wir wollten noch mit dem Nachtzug nach England zurück – erkundigte ich mich, ob die Polizei denn wirklich noch immer nicht das Haus an der Strandpromenade, den Schauplatz des Mordes, in Besitz genommen habe.

»Doch,« erwiderte Austin, »man scheint gestern dort Nachfrage gehalten zu haben, und als ich heraustrat, bemerkte ich einen Mann, der offenbar Wache hielt.«

»Dann wird er in Marseille verhaftet werden,« sagte ich.

Austin ward leichenblaß und packte mich krampfhaft am Arm.

»Ist das Ihr Ernst?« rief er. »Es kann Ihr Ernst nicht sein!« Dabei brach er von neuem in Thränen aus; seine Nerven waren offenbar sehr angegriffen.

Auf dem Bahnhof wollte er die Fahrkarten für uns beide lösen, und als er an die Kasse trat, stand ich auf der Seite und beobachtete ihn, einmal weil ich nichts anderes zu thun hatte, und auch weil ich seit heute früh ein besonderes Interesse an Austin Harvey nahm. Ich sah ihn die Börse herausziehen, das Geld hinlegen, die Karten und die gewechselte Münze zu sich stecken – und alles dies mit der linken Hand. Von diesem Augenblick an war ich mir klar, daß, trotz aller Unwahrscheinlichkeit und aller widersprechenden Umstände, Austin Harvey der Mörder sein mußte.


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