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Diesen Trumpf noch auszuspielen, war vielleicht thöricht und grausam, aber ich mußte mich ein wenig rächen, und die Widerspenstigkeit der jungen Dame verdiente einige Strafe. Unter der Anklage eines Mords – wahrhaftig! Ein junges Mädchen von zwanzig Jahren, den gebildeten Ständen angehörig, und dabei so kühl wie eine Gurke, und so hart, wie eine Semmel am Charfreitag.
So lang ich mir hatte denken können, des Pudels Kern sei eine Liebesgeschichte, war mir manches verzeihlich erschienen, aber nun war dieser mildernde Umstand ganz und gar außer Frage, und ich hatte gar keine Geduld mehr mit ihr. Wenn sie gehängt wird, so verdient sie es nicht besser, sagte ich mir, es war mir aber ganz und gar nicht ernst damit.
Meine Behauptung war keineswegs ins Blaue hinein aufgestellt. Der schwarze Koffer, der jetzt auf dem Polizeiamt stand, war von Greenwich nach Southend befördert worden, das war bewiesen durch den Gepäckzettel, den ich unter dem Pariser entdeckt hatte. War Fräulein Simpkinson gar nie in Greenwich gewesen, und hatte der erst vor vier oder fünf Tagen gekaufte Koffer immer in ihrem Zimmer gestanden, so war es nicht derselbe, der sich jetzt in Paris befand. Das hatte sie selbst mir verraten.
Allein die Jungfer hatte ihn als den nämlichen wiedererkannt. Es mußten demnach zwei vollständig gleiche Koffer vorhanden sein, von denen der eine Fräulein Simpkinson, der andre einer vorderhand noch unbekannten Person gehörte, und diese beiden Koffer mußten vertauscht worden sein. Wenn dem so war, so war Fräulein Simpkinson in diese Verwechslung eingeweiht. Ihr ganzes Gebaren verriet, daß sie von dem Vorhandensein des zweiten Koffers wußte und den Besitzer kannte, und man war versucht, anzunehmen, daß sie auch den Inhalt kannte, ehe der Koffer geöffnet wurde.
Somit war dies Mädchen die kühne Helfershelferin eines gefährlichen Verbrechers.
Es war mir schwer, dies von einem Wesen, das die Neigung eines so bezaubernden und grundehrlichen Mannes, wie Austin Harvey, gewonnen hatte, zu glauben. Aber ich konnte mir nur wiederholen, daß sie log und vielleicht noch ganz andre Dinge that, und so bemitleidete ich den jungen Geistlichen aus Herzensgrund.
Jetzt konnte ich mir auch Rechenschaft geben über die Schwierigkeit mit den Schlüsseln. Nach sorgsamer Ueberlegung gelangte ich zu dem Schluß, daß Fräulein Simpkinson von der Verwechslung der Koffer nichts gewußt hatte, bis die Untersuchung auf dem Zollamt stattfand. Ihr Widerstreben gegen das Aufknüpfen des Strickes setzte ich als ganz natürlich beiseite; ihre Bemerkung, daß dies das beste Mittel sei, Verdacht zu erregen, war, wie ich mir sagte, in ganz allgemeinem Sinn für »grundlosen Verdacht« gebraucht worden. Andrerseits mußte sie beim Oeffnen des Koffers zweifellos die Lage der Dinge und deren Tragweite mit einem Schlag erfaßt haben. In diesem selben Augenblick mußte sie die Person des Schuldigen erraten und den Entschluß gefaßt haben, ihn zu schützen, und vermutlich ahnte sie auch, wie und warum die That geschehen war.
Der Mord war von jemand verübt worden, der der alten Dame und Herrn Harvey nahestand – vermutlich von einem Verwandten. Der junge Geistliche sowie Fräulein Simpkinson waren ängstlich besorgt, diesen zu schützen – er, soweit Ehre und Gewissen es ihm gestatteten, sie noch ein gutes Stück weiter. Jedes handelte hierin, wie es seinem Wesen entsprach, ohne Zweifel geschah alles, was sie that, nur aus Liebe zu ihrem Verlobten.
Ich stand zwar immer noch vor einem Rätsel, war aber nicht ganz unzufrieden. Mein Besuch hatte mir mehr Nutzen gebracht, als ich hatte erwarten können; er war, wenn man so will, inkorrekt und abenteuerlich gewesen, aber das ist bei meinem Handwerk kein Fehler. Die Geschichte mit den Schlüsseln war nun aufgeklärt – es waren zwei Koffer von dem nämlichen Fabrikanten vorhanden, allein die Schlösser waren verschieden.
Damit erklärte sich auch das Fehlen der Adresse, und nur das Fehlen des Kofferzettels, der für die Fahrt von Southend nach London hätte aufgeklebt werden müssen, war noch unaufgeklärt.
Der Koffer war in Southend gewesen, und zwar war er von Greenwich aus dorthin gelangt. Fräulein Simpkinsons Koffer war in Southend gewesen, wahrscheinlich von Tooting oder von dem Londoner Geschäft dorthin geschickt. Wann war der Umtausch vor sich gegangen? Und wo? Auf welche Weise war der Koffer mit dem Leichnam nach Charing Croß gelangt? Wenn Fräulein Raynell in der Nacht, ehe die Simpkinsons nach Frankreich abreisten, ermordet worden war, und wenn die Damen diese Nacht in einem Hotel in London zugebracht hatten, wie konnte das junge Mädchen in das Verbrechen verwickelt sein?
Zunächst galt es nun, dem ursprünglichen Eigentümer des in Paris befindlichen Koffers nachzuspüren.