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Winterliches Geflock wirbelt draußen lustig wirr durcheinander, und schneidend kalter Wind »singt« durch die Kamine. Weiß schimmern die Dächer des Häusermeeres, es ist selbst in der schneefeindlichen Stadt veritabler Winter geworden. Je toller es draußen stürmt, desto behaglicher ist es in der warmen Studierstube. Wenn es nur nicht Fasching wäre! Dieser Taumel in der vergnügungslustigen Großstadt, Ball auf Ball, Kränzchen, Hausbälle, Soireen und wie diese modernen Gesellschaftsmartern alle heißen. Verläßt man des Abends die Stube, so ist der dritte Mann zu einem gemütlichen Tarock sicher durch ein Karnevalsvergnügen verhindert. Hol' der Teufel den Fasching! Glücklicherweise ist meine Gattin derselben Ansicht; auch sie perhorresziert derlei Vergnügungen, allerdings in der Voraussetzung, daß eine schöne Gebirgsreise als Entschädigung im Sommer folgt. Wie ich nun mißmutig vorzeitig am Abend wieder heim komme, meint die teure Gattin: »Geh doch in die Berge, dort findest du Ruhe vor dem Fastnachtstaumel!« Tags darauf war ich unterwegs. Bis zum Bahnhof wußte ich allerdings noch nicht, soll ich ins bayerische Oberland oder in die Steiermark oder nach Tirol fahren. Den Ausschlag gab der zur Abfahrt nach dem Süden bereitstehende Schnellzug.
Es ist doch ein Glück, in München zu wohnen, weil man in zwei Stunden die Bergwelt erreicht, also am Fuße der Alpen wohnt und mit Leichtigkeit ab und zu bergeinwärts fahren kann, um frische Luft zu schöpfen. Südwärts rasselt der Schnellzug, Kufstein mit der Douane ist passiert; die 69 Serlesspitze, der »Altar von Tirol«, winkt entgegen, und jubelnd begrüßen die Insassen der direkten Wagen »Berlin–Rom«, »Berlin–Ala«, »Dresden–Meran« die weißschimmernden Berge.
»Jenbach, eine Minut'!« Ein, höchstens zwei Menschen klettern aus dem Zug, der gegen Innsbruck weiterpustet: er hat es eilig, soll er doch vor Mitternacht in Verona sein, und die Insassen der »Berlin–Rom«-Wagen wollen in der ewigen Stadt dinieren.
Diese entzückende Stille jetzt im Innthal: geschlossen all die im Sommer so belebten Schalter der Achensee-Zahnradbahn, Schnee auf den Geleisen wie auf den Fluren, die Häuser tragen hohe Zupfmützen, weil die Leute sich nicht die Mühe nehmen, den hartnäckigen Schnee abzukehren. Weiß die Berghänge und überzuckert der schwarze Tann. Das mächtige Schloß sieht trotzig wie immer vom Felsen herab auf das gewerbthätige Jenbach, dessen Schmelzhütten rauchen und Sensenschmieden klappern. Rasch ist die steil aufwärts führende Straße ins Achenthal erreicht, nun zeiget Beine, was ihr könnt. Die schweren Bergschuhe meistern den hartgefrorenen Weg, der auf der einen Geleiseseite stets tief gefurcht ist, weil die Sperrkette der thalfahrenden Schlitten die Straße resp. den Schnee stark aufreißt. Langsam, aber stetig geht's hinan den steilen Berg: neben der Straße donnert der weißschimmernde Kasbach, ein wilder Kamerad, der nicht erwarten kann, seine Schaumwellen in den Inn zu werfen, und daher nur selten gefriert.
Schweigend ragt der Wald auf, goldig leuchten die Felsen herüber, deren Spitzen sich im stahlblauen See wiederspiegeln. Meisen und Amseln bevölkern den stillen Tann, hier und da krächzt ein Häher oder Rabe. Schwach ausgetretene Hasensteige werden sichtbar, und am Waldessaum kann man die saubere Schnur Reinekes wahrnehmen, der jetzt noch böse Zeiten durchlebt. Immer aufwärts! Trotz der frischen Wintertemperatur ist die Joppe längst ausgezogen, der 70 Wanderer läuft den Bergpfad flott in Hemdärmeln und schwitzt fürs Vaterland. Endlich ist die Höhe erreicht. Alle Wetter, wo ist denn der See? Der weltberühmte, herrliche Achensee ist verschwunden, an seiner Stelle liegt eine verschneite große Wiese oder ein riesiggroßes Feld! Dieser Eindruck ist geradezu deprimierend, das Landschaftsbild ohne den prächtigen See so verändert, daß man irre werden könnte, ob man wohl überhaupt richtig gegangen ist. Und dann diese ungeheuren Schneemassen. Auf dem Geleise der Zahnradbahn ragt nur mehr die Warnungstafel: »Achtung auf den Zug!« aus dem Schnee, von Geländer &c. keine Spur, alles zugedeckt vom Leichentuch der Natur. Und wie kalt es hier oben ist. Rasch ist die schwere Lodenjoppe wieder angezogen, und keuchend geht es auf der ausgeschaufelten Bahn weiter. Auf den Bergen liegt der letzte Schimmer der scheidenden Sonne, Nebel steigt aus den Schluchten auf und zieht über den gefrorenen und überschneiten See. Friedlich liegen die Siedelungen der Pertisau drüben zu Füßen des wuchtig aufragenden Seeberges. Traulich quirlt der Rauch aus dem Gasthause am Seespitz, wo Freund R., der koburgische Jagdleiter, bereits auf mich wartet. Präcis wie immer! Ob Sommer oder Winter, ob schön, ob Regen, die Höhe wird in zweiundneunzig Minuten genommen. Es giebt nur eins in Tirol, was dem Bayer unausstehlich ist, und das ist: Tiroler Bier. Selbst wenn der königlich bayerische Staatsbürger mit einem Höllendurst nach scharfer Bergwanderung an gastlicher Stätte anlangt, vom Tiroler Gerstensaft wird er selten mehr als ein Glas hinunterwürgen können und lieber zum Wein greifen, ehe er die Gurgel und den verwöhnten Magen weiter beleidigt. So viel Mühe sich Vater Brummer, der Seespitzwirt, auch giebt, er kann ein Tiroler Bier nicht in Münchener Gerstensaft umtaufen. Also ein Viertele Rötel her! Und dann geplaudert, bis der bestellte Schlitten kommt. »Gelt, Freunderl! Das bisserl Schnee heroben, da schaust!« meinte Freund R. »Und es kommt noch besser, wir haben 71 drüben in der Pertisau gegen zweiundeinhalb Meter Schneehöhe!«
»Alle Achtung!«
Ein stiller Abend ist hereingebrochen, Schnee ringsum, lautlos das Gelände. Da, hol' mich der Schwarze! Was ist das, Schellengeklingel, Tamtamschläge, Trommelwirbel, eine veritable Katzenmusik, das entsetzliche Gequitsch einer Mundharmonika und der gräßlichste aller Schrecken: das Jammergeheul einer Ziehharmonika tönt durch den stillen Frieden der Bergeinsamkeit. »Die Faschingbuben kommen!« jubelt die Kellnerin und eilt dem Lärm entgegen. Ein Nebelhorn tutet dazwischen, Hafendeckel klappern, die Lümmel pfeifen auf Hausschlüsseln nerventötend. Und deshalb bin ich aus der Stadt und meiner ruhigen Studierstube geflüchtet herein in die stillen Berge?
Meinen vorwurfsvollen Blick beantwortete Freund R. mit dem Hinweis, daß es eben Fastnachtsmontag sei und die Leute doch auch ihr Vergnügen in den drei tollen Tagen haben möchten. Wenn Beelzebub einmal seine sämtlichen Satane, Teufel und Teufelchen losläßt und sie mit Musikinstrumenten ausrüstet, so kann der Spektakel unmöglich größer und betäubender sein, als wenn Achenthaler Bauernbuben in einer kleinen Wirtsstube ihre Faschingsmusik machen. Und weil der Schlitten noch nicht da ist, heißt es ausharren. Goethe hat leicht rufen: »Baumwolle her, der Kerl sprengt mir die Ohren!« Seine Excellenz sollen einen derartigen Ohrenschmaus einmal mitmachen! Da langt ein Centner Baumwolle nicht, der Lärm würde einen komplett Toten aufwecken. Und die Burschen ulken in dieser Weise bereits seit Sonntag Mittag. Wird einer matt vor Lärm und Trunk, so springt ein anderer für ihn ein: ein paar Stunden Schlaf, und die Komödie kann von neuem beginnen, bis der Aschermittwoch und mit ihm die Klerisei die Herrschaft antritt.
Mit einem Kutscher, der den Spektakel die ganze Sonntagsnacht mitmachte und auch nimmer ganz sicher auf den 72 Füßen stand, ging dann endlich die Schlittenfahrt vor sich, und in rabenschwarzer Nacht ward die Pertisau erreicht. Ich mit einem Satze heraus aus dem Schlitten und eilig den alten Weg anfallen, war eins. »Halt, Freunderl! Auf dem alten Weg geht's nimmer, verweht und klafterhoch verschneit, ausgetreten ist nur ein Pfad im Bogen durch den verstreuten Ort und dann hinab zum Forsthaus!«
»Recht erfreulich!«
»Und jetzt muß ich die Laterne anzünden, sonst finden wir alle zwei den Heimweg nicht.«
»Recht hübsch, alter Schwede!«
»So, aufpassen, junger Schwede, hübsch hoch geschnürt, Tritt für Tritt in die Fußstapfen des Vordermannes, nicht daneben!«
Ich brummte etwas in den Bart von den Folgen des langen Sitzenbleibens im Wirtshause und schlechtem Heimgang. Beim flackernden Scheine der Laterne fielen mir die gut ausgetretenen Hasensteige auf, wie die Riesenschneedecke überhaupt merkwürdig durchzogen war. Ich nahm mir vor, das Feld morgen bei Tag näher zu untersuchen und trat in diesem Augenblick daneben. »Haaalt!« Und bis an die Ohren lag Seine Gnaden Herr Arthur Achleitner im Schnee.
Das Fluchen des koburgischen Forstmeisters brachte mich aber nicht aus dem Schnee, weshalb ich im zartesten Italienisch bat, der Forstmeister möge mir in drei Teufelsnamen seinen Stecken herabreichen in den Schneeorkus. Beinahe wäre der wackere Jagdleiter auch noch herabgepurzelt bei dem Rettungswerk. Den Einzug ins Forsthaus kann man sich leicht vorstellen. Der Forstmeister bat mich, zu entschuldigen, daß wir den Fuchsbau von rückwärts beziehen müssen, da des Schnees wegen der vordere Zugang nicht benutzbar ist. Die rückwärtige Einfahrtsröhre hätte ohnehin ausgeschaufelt werden müssen.
Nach dem gemütlichen Abendbrot im behaglich erwärmten Speisezimmer fragte Freund R., ob ich nicht Lust hätte 73 »auszugehen«. Davon wollte ich begreiflicherweise nicht das geringste wissen, während Forstmeisters Töchterchen, die liebreizende Olga, nicht übel Lust zu einer arktischen Expedition und zum Faschingsvergnügen im Dorfwirtshause zu haben schien. Da aber Mama sich auf Seite des Gastes schlug, für den ein Schneebad zum Entree gerade genug sei, blieb's beim Bleiben am heimischen Herd. Für mich sind diese traulichen Abende in Forsthäusern etwas Entzückendes, und ziehe ich die Gesellschaft von Förstersleuten und -Familien jeder anderen vor.
Als dann das Gläschen: »Gute Nacht«-Schnaps, ein echt steierischer Tropfen aus der Waldheimat des Forstmeisters, mit Andacht und Wonne geschlürft war, ging's ins Kämmerlein.
O diese entzückende Ruhe, dieser Bergfrieden! Kein Wagengerassel, keine Pferdebahn mit ihrem Lärm, keine hastenden Menschen. Göttliche Ruhe!
Die Sonne war endlich über die Zillerthaler Berge emporgeklettert und spendete von der Jochhöhe aus ins Achenthal die leuchtenden Strahlen. Also raus aus den Federn, die Fenster auf und die erquickende Morgenluft eingeatmet in langen Zügen. Alle Wetter, was ist denn das? Ist der Gast gegen alle Gewohnheit in einem anderen Zimmer zu ebener Erde einquartiert worden? Der Schnee reicht ja schier bis an den Fensterrahmen! Doch nein, das Zimmer ist das alte, und nur der Schnee liegt so hoch, daß er fast bis zum ersten Stockwerk reicht. Die Bäume im Garten ragen nur mehr mit den äußersten Spitzen aus der Schneedecke, kleinere Bäume, Gesträuch und die jungen Zaunfichten sind zugedeckt auf viele Monate: sie sehen das Tageslicht erst wieder im April oder, wenn's rasch geht, Ende März. Um diese kümmerliche Äsung im Förstergarten versammeln sich die vom Geschlechte Lampe, und auch Kahlwild zieht herab, sofern die Schneedecke harstig genug ist.
Eine besondere Liebenswürdigkeit des Forstmeisters war es, mit der Aufschüttung in der Pletzach zu warten, bis ich 74 auch mitgehen konnte. Soweit der Pfad ausgetreten war, hinein in die Bergwildnis, und durch den Wald ist die Wanderung ein Hochgenuß sondergleichen am frischen Morgen. Blauer Himmel über uns, rein und klar die Berge in nächster Nähe, ein Flimmern und Glitzern in der Morgensonne, als sei die Welt mit Juwelen und Brillanten übersäet. Und wie bald sind mit dem Glase die Gemsen im schwarzen Winterkittel zu sehen, wie sie Äsung suchen oder Fangemännchen spielen im übermütigen Reigen. Glücklicher Jagdherr, der in diesem Idealrevier dem Gejaide obliegt!
Bei den Pletzachhütten hört der ausgetretene Pfad auf, nun wird rasch Heu gefaßt an einem herzoglichen Heuschober, die Jägerei marschiert voraus mit dem Futter für das notleidende Wild, und wir stapfen hinterdrein. Ein mühsam Waten durch die ungeheuren Schneemassen, von denen sich der Städter und der Flachländer keinen Begriff machen kann. Und durch muß der Jäger, der um diese Zeit der Not ein Heger seines Wildes sein muß und es durch Aufschüttung von Heu und Wildkastanien an verschiedenen Stellen vor dem Eingehen zu bewahren hat. Hier wird eine gut bemantelte Tanne, dort eine Gufel in den Wänden ausgesucht, um Futter zu deponieren, und herunten an der Thalseite bieten die eigens erbauten Wildschuppen Äsung wie Schutz vor den Unbilden der Witterung. Für den früher sehr ausgedehnten Wildstand benötigte die Jagdleitung in sämtlichen Revieren der Riß bis herüber an den Achensee über jeden Winter an viele Tausende Centner Heu und ebensoviel Centner Wildkastanien, welch kolossale Quantitäten sich seit der Reduktion des Hochwildstandes auf sechshundert Stück natürlich bedeutend vermindern.
Die Not ward gelindert, und wir konnten den Rückmarsch in die Pertisau antreten, der den Appetit anders schärft als ein Spaziergang auf dem Straßenpflaster der qualmigen Großstadt.
Wieder ward es Abend, und bei traulichem Lampenschein saß die Förstersfamilie mit ihrem Gast. Wie freute ich mich 75 der Ruhe im stillen Forsthause, und ich begriff nun, warum dem heimgegangenen Herzog Ernst von Koburg just dieses Plätzchen mit dem schönen Blick auf Stanser Joch, Tristenkopf und Sonnenjoch so gefiel, das selbst zur Winterszeit den Beschauer entzückt. Der Mensch freut sich aber manchmal zu früh, und es kann auch ein Forstmeister einen Strich durch die Gastrechnung machen. Papa R. war der Meinung, daß ein herzig Mädel in jungen Jahren mit der Pertisauer Einsamkeit genügend gestraft sei und auf einige Stunden vom Faschingsdienstag doch ein klein wenig profitieren solle. Mir gab's einen Riß durch den ganzen Korpus; vergeblich meine Flucht aus der Großstadt in die stille Pertisau. Dem Münchener Karnevalstrubel wollte ich entrinnen, und dem Lärm faschingtoller Tiroler Bauern falle ich in die Hände. Eine Weigerung meinerseits bringt Försters Töchterlein um das ohnehin sehr bescheidene Tanzvergnügen, und das kann ich doch nicht verantworten. Allein zu Hause bleiben, frühzeitig das Bett aufsuchen, geht nicht an: also hinaus in die Schneewüste, durch Nacht und Schnee hinüber zum Pfandlerwirtshaus. Im Gänsemarsch ward der nächtliche Gang zum »Vergnügen« angetreten; vorn der Forstmeister mit der Laterne, Frau und Tochter hinterher und am Schluß des geisterhaften Zuges meine ebenfalls lichtbewaffnete Wenigkeit mit »Napo«, dem berühmten Dackel.
Durch die roten Fenstervorhänge blinkt das Wirtshauslicht den Gästen entgegen, blutig gefärbt sieht der Schnee aus. »Donau«, der Hofhund, giebt Hals und signalisiert den Zug. Heißer Dunst und stickiger Qualm strömt aus der Wirtsstube dem Eintretenden entgegen; die gräßliche Ziehharmonika ertönt zum Steinerweichen, in Hemdärmeln strampfen die Bauern und Holzknechte, wuchtig schlagen ihre schweren Bergschuhe auf den Boden auf, daß die Scheiben zittern. Ein betäubender Juhschrei begrüßt die Ankommenden, und noch ehe wir am ersten Tisch Platz genommen, ist einer der Riesen schon bei Forstmeisters Töchterlein. Ein linkischer Kratzfuß, 76 eine täppische Verbeugung vor dem Fräulein, dann die auch im Bauernleben usuelle Anfrage: »Mit Verlaub, Herr Forstmeister!« und stolz führt der Holzknecht seine zierliche Tänzerin auf den kleinen Tanzplatz, den man durch Hinauswurf einiger Tische und Bänke hergestellt hatte. Der Musikant zog das scheußliche Instrument auseinander, drückte es im Polkatakt wieder zusammen, und zu dieser tollen, Polyhymnien beleidigenden Musik hopste nun alles durcheinander, die Kellnerin unbekümmert um die Gäste mit dem Hausknecht, Bauerndirndln mit Burschen, alte Bauern mit ihren Weibern, ein Menschenwirrwarr in ausgelassenster Lust, schweißtriefend und die Bauern mit der Pfeife im Mund. Dazu wurde geschnackelt, gejauchzt, gestrampft und geschuhplattelt, als sei dieses Tanzvergnügen das Herrlichste auf Erden. Man verstand das eigene Wort nicht mehr und der Qualm war so dicht, daß man über den Tisch nicht sehen konnte. Heißa, juheißa, wie ist das Leben schön! Ging den Tanzenden endlich der Atem aus, dann trat eine kurze Pause ein: gravitätisch ward die Ronde gemacht, würdevoll wie auf einem Hofball, und war die Tänzerin auf ihren Platz geleitet, bedankte sich der Tänzer mit einem treuherzigen: »Vergelt's Gott!« In stiller Resignation saßen wir, die »Alten« in der Ecke, und mir muß wohl eine gelinde Verzweiflung aus den Augen geleuchtet haben, denn Papa R. sagte in seiner försterlichen Trockenheit: »Gelt, Achleitner, das g'fallt dir!«
»Und ob!« seufzte der Verspottete.
»Kann mir's denken,« lispelte die stille Frau Forstmeisterin.
Das Töchterlein aber ging von Hand zu Hand, vier Stunden lang ward es im Kreise gedreht, bis jeder der Bauern und Knechte der Ehre, mit Forstmeisters Töchterlein getanzt zu haben, teilhaftig worden ist. »Das muß so sein!« erklärte Papa R., eine Verweigerung bedeute eine geradezu tödliche Beleidigung und habe bedenkliche Folgen. Einer spröden Schönen sei schon ins Fenster geschossen worden, eine einseitige Bevorzugung des einen oder anderen Tänzers habe 77 die größte Unannehmlichkeit für den Vater einer Tänzerin zur Konsequenz gehabt.
Aus meiner eigenen Erfahrung konnte ich das Gesagte allerdings bestätigen, und stieg mir manche Scene, in welcher ich den Kürzeren gezogen und durchgeprügelt worden war, vor das geistige Auge. »Ohne Hiebe keine Liebe!« heißt's bei uns im Bayerischen.
»Et in vino veritas!« ergänzte der Forstmeister. »Leni, noch einen Liter Roten!« – »Trink nur zu, Alter,« meinte Papa R., »der Wein ist zwar sauer, aber –«
»Dünn!« glaubte meine Wenigkeit ergänzen zu müssen. Dann quiekste die verfluchte Harmonika wieder, die Bauern sangen Schnaderhüpfl, wobei sie sich aber sichtlich einer gewissen Mäßigung, einer Rücksicht auf die Damen befleißigten. Dann lockte das entsetzliche Instrument wieder zum Tanz, die Tortur begann aufs neue. Allgemach ward die Luft zum Ersticken, der Dampf des groben Packl-Tabaks senkte sich immer tiefer herab, zudem dunsteten die auf den heißen Ofen gelegten Joppen der Bauern ein schauerliches Odeur aus.
»Halt nur aus, Freunderl, um Mitternacht kommt die Erlösung, und zur Belohnung kriegst daheim ein Stamperl (Gläschen) Steirerschnaps!« ermunterte Papa Forstmeister.
Inzwischen blickten die Tänzer auffällig oft auf die Zimmeruhr, deren Zeiger sich gottlob immer mehr der Mitternachtsstunde näherten. Noch zehn Minuten vor zwölf!
»Oan kinna ma no rischkiern!« ruft der Holzknecht. (»Einen Tanz können wir noch wagen!«) »Musi, aufg'spielt den letzten G'strampften!« Und noch einmal ging das Gestampfe und Gehoppe los, dem sich eine Art wilder Galopp anreihte. Punkt zwölf Uhr aber erschien der weinschwere Wirt auf der Bildfläche und gebot: »Feierabend, Aschermittwoch ischt's!« Willig fügte sich die Bauernschar dem katholischen Kirchengebote, das nach zwölf Uhr in der letzten Fastnacht einen Tanz nicht mehr gestattet und dessen Übertretung den Bauern den Kaplan auf den Hals bringen würde.
78 Nun noch eine Verschnaufpause für das arg erhitzte försterliche Töchterlein, und dann ward im Gänsemarsch der Heimweg durch die Schneewüste angetreten.
Als ich am anderen Morgen den Marsch über den Achenpaß gegen Tegernsee antrat, rief mir Papa R. beim Scheiden nach: »Pereat Ziehharmonika.«
Pfingsten, das liebliche Fest, stand diesmal für die dritte Maiwoche in Sicht, und wieder reifte der Entschluß, auch diesen Festtagen mit ihrem großstädtischen Trubel aus dem Wege zu gehen. Wohin aber? Gewitzigt durch die Pertisauer Karnevalserfahrungen konnte dem »heiligen Land Tirol« kein besonderes Vertrauen entgegengebracht werden, im bayerischen Hochland hingegen wimmelt es um Pfingsten von Touristen, die die Hauptstadt auszuspeien pflegt, und welche so ziemlich jedes Thal und jeden Berg auf eine Entfernung von zwei Tagen unsicher machen, zum Jammer der Jägerei. Da einer meiner Gönner in Steiermark eben die freundliche Einladung schickte, aus seinem Revier einen Urhahn herabzuholen, so war die Wahl sehr leicht, und vierundzwanzig Stunden später befand ich mich in einem stillen Seitenthal des Ennsgrundes. Wenn es nachweisbar wäre, daß die Hahnen absichtlich vergrämt worden seien, der Oberjäger würde nachträglich gehenkt und gespießt und lotweise den Fischen der Enns preisgegeben. Ein veritabler Schneider blieb ich trotz mancher geopferten Nacht, und als der Geduldsfaden endlich riß, hatte der Oberjäger, den ein menschlich Rühren erfaßte, doch den einen Trost zu verkünden, daß es dem alten Jagdleiter auch nicht besser ergangen sei, daß auch er, der Brave, als Schneider heimkehren mußte.
Wie ich nun am Sonnabend früh vor Pfingsten draußen an der Bahn im Ennsgrunde stand, unschlüssig, ob nun west- 79 oder ostwärts zu fahren, entschlossen nur, dem Festtagsrummel auszuweichen, und wenn ich bis ans Adriatische Meer fahren müßte, da schoß mir der Gedanke durch das Hirn: suche den alten Speci, Oberförster S., in Vordernberg auf. In diesem stillen, engen Hochthal, das jetzt von der Zahnstange der Erzbergbahn durchzogen ist, findest du Ruhe und eine Aufnahme, welche der schönen Frau Oberförster einen Ruf in der ganzen Steiermark verschafft hat. Der Schnellzug brachte den Flüchtling bald in das gastlichste Haus, zumal Freund S. und die liebreizende Gattin den Ausreißer mit eigenem Fuhrwerk in Leoben in Empfang nahmen. Welch herrliche Fahrt in den wonnigen Maiabend durch das herrliche Thal, in die berühmten Jagdgründe eines Baron Mayr-Melnhof und eines Peintinger, deren Wildreichtum und Gehege nur von den kaiserlichen Revieren übertroffen wird! In diesen herrlichen Jagdgründen singen die Berufsjäger spottend auf weniger beglückte Waidgenossen:
»Herunten leicht Jaager derfragst
Auf Hühner, auf Has'n und Füchs:
Wo droben aber's Edelweiß wachst,
Da taug'n die mehreren – nix.«
Wer da beglückt von eines Mayr oder Peintingers Freundschaft ausziehen dürfte in die Schrofen und Einständ' des Gamsrevieres zu fröhlichem Gejaide, zur Birsch auf Hochwild! – – Beati possidentes, sagt der Lateiner, der wahrscheinlich weder Mayr noch Peintinger geheißen hat, als er seinen Spruch in seinem »nichts durchbohrenden Gefühle« niederschrieb.
Die Hochöfen warfen ihren Glutschein in die Schatten der Nacht, hier und da noch ein später Abstich, dann Feierabend auch im eisenreichen Markte Vordernberg. Einer der Eisenfürsten ist der schlichte Bürger Peintinger mit einer Jagd, um die ihn Fürsten beneiden können, und seine Pferde kann der Mann getrost vor Königsequipagen stellen. Wir flogen förmlich, trotz der steten Steigung, in das immer enger 80 werdende Thal, und wie der Wagen endlich vor dem Verweserhause hielt, das der Hochofenverweser und der Peintingersche Oberförster S. bewohnen in trauter Harmonie der beiderseitigen Familien, da stand dank weiser Anordnung der schönen Förstersfrau auch ein leckeres Souper bereits auf dem gastlichen Tische. Ist's ein Wunder, daß es dem so entzückend liebenswürdig aufgenommenen Gaste erging wie Martin Luther, der da sagt: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, und daß der Gast in überquellender Herzensfreude ein Poem verbrach:
Bei Gösser Bier und Ungarwein,
Die schönste Frau zur Seit',
Im Aug' den Waidmann fein,
Mir wird das Herz so weit!
Hell klingen die Gläser: Hoch die Dame des Hauses! Waidmannsheil den steierischen Genossen, und Waidmannsheil euch drüben im Reiche, die ihr nicht so glücklich seid, in dieser Tafelrunde zu sitzen!
Jubelnd bricht der Sonntagsmorgen an mit flatterndem Morgenrote, es erröten die starren Felsen ob des Morgenkusses Aurorens, die grünen Wiesen und Matten erglänzen funkelnd: ein Wetter, wie es für den Kaiser gemacht werden sollte. Und still ist's im Gelände, der richtige Tag des Herrn, den die Glocken feierlich einläuten. Schöner hätte ein Pfingstmorgen nicht zugebracht werden können als im »fürstlich« Peintingerschen Garten mit dem Blick aufs Gamsgebirg. Ich hätte mit dem Herrgott von Frankreich nicht getauscht an jenem Morgen!
In glücklichster Stimmung dann der schönen Frau des Hauses den »guten Morgen« auf die zierliche Hand geküßt, welch zarter Scene der allzeit trockene Forstmann S. ein grausames Ende machte mit der prosaischen Frage: »Was ist's mit dem Frühschoppen?« Doch ehe es dazu kam, baten die Vergißmeinnichtsterne der herrlichen Frau: »Einschreiben ins försterliche Fremdenbuch!«
81 Ja, einschreiben, das ist immer leichter verlangt, als gethan. Ein Augenblick des Gedankensammelns, dann kritzelt die Feder:
»Im grünschimmernden Gelände
Bei S.'s bet' ich inbrünstig,
Es stammelt der Mund, aufjubelt das Herz:
Gott erhalte die Lieben mir günstig.«
Und nun zum Frühschoppen, so drängte der fluchbeladene Poet, der das heilige Pfingstfest durch solches Gedicht entweihte. – –
Feurige Pferde schäumen ins Gebiß, auf den Präbichl geht die Fahrt; im Alpenhaus auf hoher Höh', nahe dem steierischen Erzberg wollen wir den Nachmittag verleben.
Um Himmels willen, was ist das? In der Veranda des Alpenhauses wimmeln Menschen wie Ameisen, alle Lokale besetzt: eben keucht ein Separatzug die Zahntrace herauf, Hunderte von Wiener Bergsteigern entfliehen den Käfigen und stürmen das Alpenhaus, hungrig und durstig nach durchfahrener Nacht; von den Bergen wimmeln Touristen herab in hellen Scharen, daß das Almvieh entsetzt die Flucht ergreift, von Leoben herauf bringt ein Zug die Ausflügler rudelweise, Wien, Linz, Graz und wie die »Nester« alle heißen: alle werfen Menschenmassen just auf das hochgelegene Fleckchen Erde, wo wir in Einsamkeit einen stillen Nachmittag in trautestem Kreise verleben wollen. Der arme Bergwirt! Einhundert Touristen hat der Draht von Wien angemeldet, und dreimal mehr sind da, ungezählt die Scharen, die zu Fuß herauspilgerten. »Waschechte« Indianer können eine einsame Farm nicht wilder und raubgieriger überfallen, als Wiener Touristen nun Küche und Keller plünderten. Man reißt der Köchin das blutige Fleisch aus den Töpfen, Fässer werden fortgerollt und im Walde angeschlagen, tot ist das Landrecht, hoch lebe das Recht der eisernen Faust! Machtlos der Wirt in Erstarrung, in Thränen die Wirtin: ein Chaos im Hause, Damen eingekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge, Sessel 82 werden geraubt, obwohl Leute daraufsitzen, Biergläser einfach weggenommen. Hoch der Alpinismus! Und dort in der Ecke ein veritables Alpengigerl, das, eben gesättigt durch ein Stück geraubten Rinderbratens, zur Erheiterung der wahnwitzig gewordenen Menge eine Ziehharmonika hervorzieht und in schauerlichen Griffen den wirren Lärm steigert zur Unerträglichkeit.
Trotz des losbrechenden Gewitters, trotz Wolkenbruchs und Sturmgeheuls flieht ein Mensch die Hochstraße hinab in hoher Flucht gleich einem hochgemachten Hirsch. Und hinterher rasselt ein Wagen, dem es aber bei aller Schnelligkeit nicht mehr gelingt, den Flüchtling einzuholen. Naß zum Auswinden, aber gerettet vor der – Ziehharmonika, ward der schützende Port des Forsthauses zu Vordernberg erreicht.
Tags darauf suchte der Flüchtling die Einsamkeit in Kärntens Bergen, um dann über den Brenner heimzukehren an den Isarstrand. Wenn ein Lebenszeichen aus dem Forsthause zu Vordernberg nach München wandert, stehen regelmäßig zwei inhaltsschwere Worte darauf: »Pereat Ziehharmonika!« 83