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Ein Vierteljahrhundert mag ins heilige Land Tirol gezogen sein, seit der Kleingütler Nasele, so benannt nach dem Hausnamen seines bescheidenen Anwesens, seinen letzten Botengang aus dem Defereggenthal nach Lienz im Pusterthal absolvierte. Wie 's Nasele die schwere Kraxe (Rückenkorb) über Berg und Thal schleppte und viele Jahre hindurch bis zu seinem hohen Alter Kommissionen vermittelte, mag ihm wohl selber in Vergessenheit geraten sein, was für Streiche er als Wildpratschütz in seiner Jugendzeit verübte. Wer den Alten auf seinen Botengängen sah, das kleine magere Manndl mit der kühn geschwungenen Adlernase und den stark hervortretenden Backenknochen im scharf geschnittenen Gesicht, gekleidet in verwetzten grauen Loden und selten ganz weißen Strümpfen und über dem klugen Kopf den spitzigen schwarzen Filzhut, der mochte wohl über die ganze an Meister Reinecke erinnernde Erscheinung einen Moment stutzen, aber die stets demütige Haltung des schwer unter seiner Last daherkeuchenden alten Mannes zerstreute sofort alle Gedanken an ein bewegtes Vorleben desselben. Und dennoch war der Alte ein verschmitzter Wilderer allerersten Ranges, freilich zu einer Zeit, wo Tirol und seine engere Heimat noch wildreich war zur Freude aller Waidgerechten. Just im Defereggenthale werden über diese Zeit die Jahre, die ein Menschenleben ausmachen, verflossen sein. Damals verhielt sich 's Nasele als etwa dreißigjähriger Kleingütler so still, daß selbst die Berufsjäger beschworen hätten, daß alle Defereggenthaler eher wildern, denn der so ruhige Nasele. Sie haben ihn eben selten, höchst selten, vielleicht im ganzen bloß zweimal auf 70 frischer That ertappt. Jahrelang fröhnte 's Nasele ungestraft seiner unbändigen Jagdlust mit einer beispiellosen Verwegenheit und List und stets allein, nur auf eigene Kraft und die nie fehlende Kugel bauend. Zwei seiner Thaten haben sich im Gedächtnisse erhalten, doch führten auch sie nicht zur Bestrafung des äußerst verschlagenen Burschen, weil es ihm dennoch gelang, aus den sicheren Händen der Jäger in entrinnen.
Eine stetig geübte Gepflogenheit war es vom Nasele, den Schauplatz seiner wildraubenden Thätigkeit zu verändern und oft machte er die anstrengendsten Märsche über weite Gebirgskämme, um plötzlich in gutgehegte Reviere einzubrechen, die wohl noch nie von einem Bewohner des Defereggenthales mit dem Stutzen in der Faust besucht worden waren.
Eines Tages im September wilderte 's Nasele im gemsen reichen Lamnitzgraben, unbekümmert um Jäger und Jagdrecht, vertrauend auf sein treues Jagdglück und bauend darauf, daß er, selbst wenn's schief geht und er den Jägern in die Hände laufen sollte, dennoch eine Gelegenheit zum Entweichen finden werde. Nur ein so fermer unermüdlicher Steiger kann es unternehmen, ins wildeste Gewänd einzusteigen, der Gemse nachzupirschen, wo schier kein Raum mehr ist für einen Menschenfuß. Heute läßt ihn sein Glück zwar einigermaßen im Stich, wohl hat er einen starken Bock zur Strecke gebracht, aber der Gams ist in so wildes Geklüft gefallen, daß 's Nasele ihn unmöglich heraufbringen kann. Es ist schon eine Kühnheit sondergleichen, sich an den Steilwänden hinabzulassen, mit dem schweren Bock aber könnte höchstens ein gut ausgewachsener Adler sich aufschwingen, 's Nasele aber kann alles, nur noch nicht fliegen. Einer Fliege gleich hängt der Kleingütler an der Felswand und späht nach kleinen Buckeln in derselben, die ihm kaum Halt in Messerbreite gewähren, woran der gottversuchende Mensch sich klammert. Aber er kommt hinunter und kümmert sich den Teufel darum, ob er denselben »Weg« wieder hinauf 71 kann. Jetzt hockt er beim Gams und weidet sich an dem stolzen Anblick mit fiebernden Pulsen. Ewig schade, wenn der Kapitalbock nicht aus dem Geklüft herauszubringen sein sollte. Und wieder studiert 's Nasele über einen Ausstieg. Hinauf geht's ohne Flügel nimmer, mit dem Bock schon gar nicht und hinunter ist der Sturz in einem vielklafterigen Abgrund mit dem Gams unvermeidlich. Absausen und unten zerschellen will 's Nasele aber doch nicht, lieber läßt er, wenn auch mit schwerem Herzen, den Gams im Stich. Aber halt! Die Decke und das Krickel kann er dennoch retten und so bricht er den Bock gelassen auf, hackt sich das Gehörn des stolzen Bockes aus, verwahrt Krickel und Haut im Schnerfer und sucht dann einen Abstieg, von dem er sich selber sagen muß, daß es ein Wunder ist, wenn er mit ganzen Knochen hinunter kommt. Und wie es schon so manchem Gemsenjäger ergangen ist, das Unglaubliche für den ersten Blick gelingt der festen Entschlossenheit, dem unbeugsamen Mut und dem eisernen Muß, nicht minder aber der vieljährig erprobten Geschicklichkeit im Felswandern und gemsengleichen Klettern. Richtig klettert 's Nasele aus der Felswildnis, er springt kühn von Platt zu Platt, läuft kaum handbreite Felsbänder aus und setzt über Wandln hinab, bis daß das gefahrlosere Kar ihn aufnimmt, von wo es für einen Wilderer vom Range des Nasele ein Spaziergang wie auf blumiger Au abwärts bis zur Diensthütte des Jagdpersonals ist. Ein anderer wäre dieser Diensthütte ausgewichen wegen der sicher drohenden Gefahr, gerade hier unvermutet überrascht und auf die bequemste Art für den Jäger abgefangen zu werden. 's Nasele aber will justament in der Diensthütte mit fremdem Mehl und Schmalz sein spätes Mittagbrot kochen und wer weiß, ob gerade während seiner Anwesenheit ein Jäger in diese letzte und höchstgelegene Hütte kommt. Gelassen bricht er das Schloß auf, öffnet die Thüre und läßt sich behaglich in »seiner« Hütte nieder. Bald prasselt ein lustiges Feuer – die Jäger hatten für strohtrockenes Holz 72 gesorgt – und richtig ist auch Mehl und Schmalz zur Genüge vorhanden. Das Wasser zum Retzelanmachen holt sich Nasele vom nahen Sturzfall und beginnt seine Kocherei mit beneidenswerter Gemütsruhe. Eben brodelt das Schmalz in der Pfanne, just rührt er den dickflüssigen Mehlbrei, um ihn ins zischende Fett zu gießen, da ertönt es hinter ihm: »Guten Morgen!«
Der Nasele dreht den Kopf und sagt: »A da Jaager, bischt aa da?!«
Und der Jäger im Glauben, dem kleinen Wilderer ohnedies Herr zu werden, macht nicht die geringsten Anstalten, den Burschen dingfest zu machen. Im Gegenteil, er tritt näher und meint vertrauensselig, der Nasele soll auch gleich für zwei das Essen bereiten, er, der Jaager hätt' auch Hunger.
»Woll, woll!« erwidert 's Nasele, nimmt die Pfanne und schüttet das glühheiße Schmalz dem ahnungslosen Jäger ins Gesicht. Mit einem Wehruf sinkt der Ärmste zusammen, 's Nasele aber packt seinen Stutzen und Schnerfer und nimmt Reißaus!
Unbehelligt kam er wieder heim und blieb es auch, denn der arme Jäger verlor sein Augenlicht, eine Agnoszierung war unmöglich geworden.
Die nächste Zeit arbeitete der Wildschütz auf seinem Gütchen wie der fleißigste Bauer, schnitt den kargen Hafer und richtete Holz für den Winter zurecht. Dann aber verschwand er wieder.
Wohl an drei Tage marschierte der Gütler ins Hochgebirge, die kühlen Nächte in den Felsen verbringend, bis er das fürstlich X.sche Revier erreichte. Jetzt gilt es vorerst auszuspekulieren, ob die fürstlichen Jäger sich im Gamsrevier befinden. Stundenlang lag 's Nasele auf der Lauer und suchte das Terrain mit dem Glase ab. Nichts ist zu sehen vom Schutzpersonal, wohl aber starke Gemsen, die des Jägers Herz pochen machen. 's Nasele darf jetzt bloß den 73 Graben durchqueren, hier hinab und jenseits vorsichtig im guten Wind hinauf, dann kommt er sicher zu Schuß und der drüben im Gewänd äsende Bock gehört sein. Also lautlos ab- und drüben eingestiegen. Wie eine Katze klettert der Wildschütz aufwärts in die Latschen, kein Steinchen geht ab unter seinen vorsichtigen Tritten, jetzt kriechend weiter über den Felsbuckel, von wo aus der Blick frei ist auf den im Gewänd stehenden Bock. Das dichte Latschengeäst ist etwas lästig unterm Buckel, es erschwert das Emporkriechen, vielleicht geht es links davon besser in die Höhe, also wieder abwärts gerutscht und links eingestiegen. Dann eine seitliche Wendung um ein kleines Wandl – o verflucht! Da sitzt ein Jäger wie angemauert und beider Blicke begegnen sich.
»Ah, a neuer Jagdgast!« höhnt der Jäger und zieht im selben Moment auf.
Schnell entschlossen legt aber 's Nasele seinen Stutzen nieder und den Schnerfer dazu, er giebt sich freiwillig und sagt dies auch zum Jäger, der sofort mit einem Sprung herunten ist und sich des Wildschützens bemächtigt. Wer er ist und von woher?
Natürlich sagt 's Nasele, er wär ein Gütler Namens S. von – Kals (Glocknergebiet) und weil er dem Jaager so schön in die Hände gelaufen ist, will er sich auch gleich gutwillig ergeben und einliefern lassen. Vielleicht ist der Jaager gar Familienvater mit Weib und Kinder, diese möcht' er durch ein Geräufe in den Wänden herinnen nicht um den Ernährer bringen und nicht selber verunglücken. Dabei sandte der Nasele einen den Absturz schätzenden Blick zur Tiefe.
Dieses Fügen ins unabänderliche Schicksal, die freiwillige Ablieferung des Gewehres und die ergebungsvolle Rede des Wilderers beschwichtigten das ursprüngliche Mißtrauen des Jägers und weil der Wilderer über Hunger jammerte, gab der gutherzige Jagdgehilfe gerne Speck und Brot aus seinem eigenen kargen Vorrat. Demütig dankbar nahm 's Nasele die Gabe, verzehrte sie mit größtem Appetit und bat auch 74 um ein Glasl Schnaps. Richtig langt der Jäger in die Tasche, holt das strohumflochtene Fläschlein heraus und reicht es dem Nasele.
»Vergelt's Gott tausendmal!« sagt Nasele und packt im selben Augenblick mit seiner Eisenfaust den Jäger an der Gurgel. Ein Riß und beide kollern in die steinige Reuschen. Wie mit einer Klammer hält selbst im Fallen der Wilddieb die Kehle des Jägers zu, indes seine linke Hand nach Sand und Geröll greift und alle Augenblicke damit in des Jägers Augen schlägt. In rasendem Sturz geht es abwärts, dennoch erwischt der Wilderer mit der linken Hand noch einen Daxboschen und nun schlägt Nasele dem Jäger die Nadeln ins Gesicht. Ein Felsblock inmitten der Reuschen hemmt plötzlich den Sturz, Nasele läßt sein Opfer los, schüttet noch einmal mit beiden Händen Sand in des Jägers Augen, packt seinen Stutzen, nimmt dem geblendeten Jäger noch die Büchse und flüchtet marschaus.
Auch diese Wildererthat blieb ungerochen und Nasele fröhnte seiner Jagdlust weiter in anderen Revieren, bis das zunehmende Alter ihn zu einer ruhigeren Thätigkeit zwang. Auf seinem Gütl vergantete er natürlich und that schließlich Botendienste, bis der göttliche Richter ihn zur Rechenschaft zog. 75