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»Hat denn ein jeder Mensch heute ein Stück Frachtgut zu versenden!« wettert der Beamte des Bahnhofs X. im Unter-Innthal und besieht die Berge von allen erdenklichen Frachtstücken, die im Bureau aufgestapelt der Verladung in den nächsten Sammelzug harren. Sonst geht doch alles seinen gemächlichen Gang auf der Station, besonders jetzt im Spätherbst, wo endlich die Touristen und Saisonreisenden aufgehört haben zu »wimmeln«. Die paar Gebirgsleute, die noch Fahrkarten verlangen, verursachen keine übermäßige Anstrengung beim Beamtenpersonale, der Frachtverkehr hat auch keine Bedeutung mehr, es wäre also ein dolce far niente für die Herren von der Eisenbahn. Und grade heute rollt Fuhrwerk auf Fuhrwerk herbei, Waren werden herbeigeschleppt, als sollte ganz Österreich mit Kaufmannsgütern aus X. versorgt werden. »Möcht' wirklich wissen, was für Zeug in all den Kisten ist?« sagt der Beamte und greift nach den Frachtscheinen. »Na ja, den Käse riecht man,« brummt er und schnüffelt in die mit verschiedenen Düften erfüllte Luft.
Draußen am Bahnsteig bimmelt das elektrische Signal, der Sammelgüterzug ist von der nächsten Station abgegangen. Zwei Gepäckbeamte schleppen die Frachtstücke an das Geleise, indes der Beamte die Frachtscheine mit der Stückchiffre vergleicht.
»Was zum Kuckuck ist denn da drinnen, die Kiste blutet ja,« ruft der Beamte, wie die Diener grade eine mächtige Kiste ans Geleise tragen. Im Frachtbrief steht verzeichne: X. Y. 503. Inhalt: Käse.
22 »Seit wann blutet denn ein Käse? Wer ist denn der Absender? Ei, ei, der Bergwirt droben!«
Ein blutender Käse, das ist ein Novum im Eisenbahnfrachtverkehr, das allgemeine Neugier erregt. Verwundert betrachtet der Beamte das Naturwunder, die Gepäckhelfer bringen den Mund vor Staunen nimmer zu, der Stationsvorstand wird benachrichtigt und kommt kopfschüttelnd herbeigelaufen. So was hat man noch nicht erlebt, seit die Bahn eröffnet ist! Ob nicht gar ein Verbrechen sich hinter dem blutenden Käse verbirgt?! Ha, vielleicht ein im Gebirge oben verübter Mord, und in der Kiste da liegt der Ermordete! Gräßlich! Ganz bleich vor Aufregung befiehlt der Vorstand, die höchst verdächtige Kiste zurückzuhalten bis die Gendarmerie komme. Der Güterzug geht ohne das Collo X. Y. 503 ab. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Kunde von der blutenden Kiste im Dorfe; von der Gendarmerie kommen zwei Mann im Sturmschritt mit aufgepflanztem Bajonett auf die Station gelaufen. Ein Telegramm ist schon an das nächste Bezirksgericht abgegangen.
Die Gendarmen bewachen unterdes, bis der Untersuchungsrichter mit dem nächsten Zuge kommt, die verhängnisvolle Kiste, aus der stetig Blut sickert. Sie haben angelegentlich am Kistendeckel gehorcht, ob der Ermordete nicht etwa ein Lebenszeichen von sich giebt; aber nichts, kein Röcheln, kein Seufzer ist zu vernehmen. Daß es Menschenblut ist an der Kiste, unterliegt gar keinem Zweifel. Wer hätte das gedacht, im Unter-Innthal eine so grauenerregende Mordthat! Und diese Frechheit, die Leiche deklariert als Käse am helllichten Tag nach Innsbruck auf der Bahn aufzugeben!
Der eine Gendarm hat nicht übel Lust, den Bergwirt oben gleich zu verhaften, indes will man doch lieber warten, bis der Richter mit der Kommission angekommen ist. Die Eisenbahnbeamten sind alle miteinander nervös geworden, sie können das Aufbrechen der Kiste kaum mehr erwarten.
Endlich fährt der Personenzug ein, eilig steigt die hohe 23 Kommission aus, kaum vermag sie durch die Menschenmenge durchzukommen, denn das halbe Dorf ist bereits auf der Station versammelt. Im Gepäckraume steht die schreckliche Kiste, auf einen Wink des Richters beginnen die Stationsdiener mit Stemmeisen und Hammer die Arbeit. In wenigen Minuten ist der Deckel offen, in höchster Spannung guckt der Richter in die Kiste – ein Hirsch im Aufbruch liegt drinnen.
Die Gerichtsherren sehen sich an, und ein homerisches Gelächter ertönt, man hält sich die Seiten vor Lachen. Ein Hirsch von zwei Gendarmen bewacht! Und darum Räuber und Mörder!
Doch gemach! Man telegraphiert nicht ungestraft nach einem Untersuchungsrichter. Der Umstand, daß der Bergwirt den Hirsch als »Käse« verfrachtete, läßt mit Sicherheit darauf schließen, daß der Hirsch gestohlen ist. Ergo wird zunächst der Hirsch konfisziert und die Gendarmerie erhält den Auftrag, den Bergwirt ins Untersuchungsgefängnis des Bezirksgerichtes zu bringen.
Der Hirsch war richtig »ohne Erlaubnis« geschossen worden. Die schlechte, nicht in den Fugen ausgepichte Kiste ward zum Verräter.
Bevor der Bergwirt »eingeladen« wurde sich im Kreisgerichtsgefängnis auf einige Wochen einzufinden, spielte sich im Curatiekirchlein des Dorfes E. noch eine Episode ab, wie sie charakteristischer für das spottlustige Bergvolk jener Gegend nicht erdacht werden kann. Am nächsten Sonntag nämlich wurde nach Unter-Innthaler Sitte während der Predigt ein sogenannter Gedenkzettel in der Sakristei abgegeben, den am Schluß der Predigt der Geistliche verliest und dann die Gemeinde auffordert der verlesenen Person im Gebete zu gedenken. Der diesmalige Zettel hatte die Inschrift: »Euer Lieb und Andacht wollen im Gebete eingedenk sein für den verunglückten Käsehändler N. N.« Ahnungslos verlas der Prediger diesen Zettel und wollte eben ein 24 Gebet für den Käsehändler beginnen, als ihn ein Kichern und Hüsteln stutzig machte. Er beendete seine Kanzelfunktion und erfuhr in der Sakristei, welchen Spott die übermütigen Bauern sogar bis in die geheiligten Kirchenräume getragen haben, nur um dem Bergwirt mit seinem »blutigen Käse« einen Schabernack zu spielen. Der Spitzname »Wirt zum blutigen Käse« ist dem Bergwirt fürder geblieben. Das ärgert ihn natürlich nicht wenig, aber er kann's nicht ändern und der Spott ist landläufig geworden. 25