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Der Fall eines Häuptlings

. Noch niemals sah man solche Bestürzung. Jeder der sechs Männer sah aus, als ob ihn der Schlag getroffen hätte. Silver aber überwand augenblicklich seine Enttäuschung. Seit Jahren waren alle seine Gedanken nur auf dieses Geld gerichtet. Wie ein Rennpferd war er darauf zugerast. Nun war er in einem Augenblick zum Stillstand gekommen. Verspielt! Aber er bewahrte den kühlen Kopf, hielt seine Nerven zusammen und wechselte seine Taktik, noch ehe die andern sich von der Enttäuschung erholt hatten.

»Jim,« flüsterte er, »nimm das und gib acht auf die Böen.«

Damit übergab er mir eine doppelläufige Pistole.

Zu gleicher Zeit bewegte er sich unauffällig nach der Nordseite, und mit ein paar Schritten hatte er das Loch zwischen uns und die fünf anderen gebracht. Dann schaute er mich an und nickte, als ob er sagen wollte: »Da sieht's gefährlich aus,« womit er wohl auch das Richtige getroffen haben mochte. Seine Blicke waren nun ganz freundlich, und ich war so entrüstet über seinen fortwährendem Frontwechsel, daß ich nicht umhin konnte, ihm zu sagen: »So, da habt Ihr noch einmal Farbe gewechselt!«

Es blieb ihm keine Zeit zu antworten. Mit Flüchen und Verwünschungen sprangen die Räuber nacheinander in das Loch und fingen an mit ihren Händen zu graben, wobei sie die Bretter zur Seite warfen. Morgan fand ein Goldstück. Er hielt es in die Höhe mit einem wahren Wasserfall von Flüchen. Es war ein Zweiguineenstück, das sie eine Minute lang von Hand zu Hand passieren ließen.

»Zwei Guineen!« brüllte Morgan, indem er das Geldstück drohend vor Silver schüttelte. »Und das sind unsere siebenhunderttausend Pfund! Wie? Du bist wirklich ein Mann, auf den man sich verlassen kann! Du bist also der, der niemals eine Dummheit macht, du hohlköpfige Landratte!«

»Grabt, Jungens!« sagte Silver mit kaltblütiger Unverschämtheit. »Sollte mich nicht wundern, wenn ihr ein paar Pfeffernüsse findet.«

»Pfeffernüsse?« wiederholte Merry mit einem gellenden Schrei. »Habt ihr das gehört, Jungens? Ich sage euch, der Mann hat das von Anfang an gewußt. Seht sein Gesicht! Da steht es geschrieben.«

»Ah, Merry,« bemerkte Silver, »wieder mal Kandidat für den Kapitänsposten! Bist ein strebsamer Junge, das muß man zugeben!«

Diesmal aber waren sie alle auf George Merrys Seite. Silver bewegte sich nicht. Aufrecht stand er auf seiner Krücke und beobachtete sie kaltblütiger wie je. Zweifellos war er ein tapferer Mann.

Schließlich schien Merry zu denken, daß vielleicht eine Rede am Platz wäre.

»Kameraden,« sagte er, »dort drüben stehen zwei allein; der eine ein alter Krüppel, der uns diese Suppe eingebrockt hat, und der andere das Küken, dem ich jetzt sein Herz herausreißen werde. Also, Kameraden –«

Er erhob Arm und Stimme. Es war klar, daß er den Angriff führen wollte. Aber gerade in diesem Augenblick krachten drei Gewehrschüsse im Busch. Merry fiel mit dem Kopf zuerst in den Graben; der Mann mit der Binde flog herum wie ein Kreisel und fiel auf den Boden in den letzten Todeszuckungen. Die anderen drei wandten sich zur Flucht.

Fast im selben Moment hatte Silver zwei Pistolen auf den verwundeten Merry abgefeuert, und als der Mann im letzten Todeskampf seine Augen auf ihn richtete, sagte er: »George, ich denke, ich hab' dir's besorgt!«

Und schon kamen Doktor Livesey, Gray und Ben Gunn mit rauchenden Musketen aus dem Busch.

»Vorwärts!« rief der Doktor. »Beeilt euch! Wir müssen sie von den Booten abschneiden.«

Wir liefen so schnell wir konnten, Silver nicht langsamer wie die anderen. Der Doktor war mit mir der Ansicht, daß die Anstrengungen, deren er sich dabei unterzog, indem er auf der Krücke hüpfte, bis jeder Muskel zum Zerspringen angespannt war, ihresgleichen noch nie gesehen hatten bei irgendeinem gesunden Menschen. Dennoch blieb er zuletzt einige dreißig Meter zurück und war nahe am Ersticken, als wir den Rand des Abhanges erreichten.

»Herr Doktor!« rief er, »keine Eile! Sehen Sie dorthin!«

Wir brauchten uns wirklich nicht zu beeilen. Man konnte sehen, wie die drei Überlebenden in einer Lichtung des Plateaus noch immer in der gleichen Richtung nach dem Besanmasthügel rannten. Wir waren schon zwischen ihnen und den Booten, so daß wir Zeit hatten, uns ein wenig zu verschnaufen, während der lange John uns schweißtriefend einholte.

»Ich danke Ihnen vielmals, Herr Doktor,« sagte er. »Sie kamen gerade noch rechtzeitig für mich und Jim Hawkins. – Also du bist es, Ben Gunn!« fügte er hinzu. »Na, du bist mir der richtige!«

»Ich bin Ben Gunn, gewiß,« antwortete der Mann und wandte sich dabei wie ein Aal vor lauter Verlegenheit. »Wie geht es Ihnen, Herr Silver? Ziemlich gut, danke sehr, werden Sie wohl sagen.«

»Ben, Ben,« murmelte Silver, »wenn ich mir vorstelle, daß du es warst, der mich hereingelegt hat!«

Doktor Livesey schickte Gray zurück, um eine der Hacken zu holen, die die Meuterer bei ihrer Flucht zurückgelassen hatten, während wir gemächlich zum Strand hinuntergingen, wo die Boote lagen. Währenddessen erzählte der Doktor in kurzen Worten alles, was inzwischen vorgefallen war, eine Geschichte, die natürlich Silver ganz besonders interessierte, zumal da Ben Gunn, der Halbidiot, von Anfang bis zu Ende dabei die Hauptperson war.

In seinen langen, einsamen Wanderungen auf der Insel hatte Ben eines Tages das Skelett gefunden und auch geplündert. So fand er den Schatz, grub ihn aus und schleppte ihn in vielen mühsamen Tagewerken von dem hohen Baume nach seiner Höhle am zweispitzigen Hügel an der Nordostecke der Insel, und da lag er wohl und geborgen schon seit zwei Monaten vor Ankunft der »Hispaniola«.

Als der Doktor ihm am Nachmittag nach dem Angriff sein Geheimnis entrissen hatte, und er am nächsten Morgen das Schiff nicht mehr auf dem Ankerplatz sah, ging er zu Silver und gab ihm die jetzt überflüssig gewordene Karte und ebenso die Vorräte, denn Ben Gunns Höhle war wohl gefüllt von gesalzenem Ziegenfleisch, gab mit einem Wort alles preis, um in Sicherheit aus der Stockade herauszukommen nach dem zweispitzigen Hügel, wo es keine Malaria gab und man das Geld bewachen konnte.

»Was dich anbelangt, Jim,« fügte er hinzu, »so fiel es mir gewiß schwer, aber ich mußte zuerst an die treugebliebene Mannschaft denken, und wenn du nicht dabei warst – war es meine Schuld?«

Als der Doktor an jenem Morgen merkte, daß ich mit verwickelt werden könnte in die schreckliche Enttäuschung, die er den Meuterern bereiten wollte, lief er so schnell er konnte zurück zur Höhle und machte sich sogleich wieder auf den Weg mit Gray und Ben Gunn, während der verwundete Kapitän als Wache zurückblieb. Mit den beiden Leuten lief er quer über die Insel, um noch rechtzeitig zum Baum zu kommen. Bald mußte er merken, daß unsere Partie einen zu großen Vorsprung hatte. Der leichtfüßige Ben wurde deshalb allein vorausgeschickt und machte sich den Spaß des Geisterspuks, der eine solche Verzögerung verursachte, daß Gray und Doktor Livesey tatsächlich doch noch früher ankamen und sich ungestört in den Hinterhalt legen konnten.

»Ah,« sagte Silver, »es war mein Glück, daß ich Hawkins hier an meiner Seite hatte. Ich bin überzeugt, Herr Doktor, daß Sie unberührt zugesehen hätten, wie man den alten John in Stücke schlug.«

»Gewiß,« antwortete Doktor Livesey gut gelaunt.

Über diesen Gesprächen hatten wir die Boote erreicht. Nachdem der Doktor das eine mit seiner Hacke zerstört hatte, gingen wir alle in das andere und ruderten nach der Nordbucht. Es war eine Strecke von einigen acht oder neun Seemeilen. Silver, der halbtot war vor Erschöpfung, bekam wie wir anderen ein Ruder in die Hand gedrückt und bald schossen wir ordentlich vorwärts in einer glatten See. Bald waren wir am anderen Ende der Straße und umschifften die Südostecke der Insel, um welche wir vor wenigen Tagen die »Hispaniola« gebracht hatten.

Beim Passieren des zweispitzigen Hügels sahen wir die schwarze Öffnung von Ben Gunns Höhle und daneben eine auf eine Muskete gestützte Gestalt. Es war der Gutsherr, dem wir zuwinkten und mit einem kräftigen Hurra begrüßten, in das Silver tüchtig mit einstimmte.

Drei Meilen weiter, noch gerade in der Bucht, sahen wir zu unserem größten Erstaunen die »Hispaniola« allein beim Winde kreuzen. Die letzte Flut hatte sie flott gemacht, und wäre ein stärkerer Wind aufgekommen oder wären hier die Gezeiten so stark gewesen wie in der Südbucht, so hätten wir sie bestenfalls als Wrack noch einmal wiedergesehen. So aber war außer dem verlorenen Großsegel kein Schaden angerichtet. Ein weiterer Anker wurde klargemacht und in anderthalb Faden Wasser niedergelassen. Wir alle ruderten zurück nach Ben Gunns Höhle, worauf Gray allein nach der »Hispaniola« zurückfuhr, wo er die Nacht als Wachmann zubrachte.

Bei unserer Ankunft begrüßte uns der Gutsherr. Mich empfing er warmherzig und gütig wie immer und äußerte sich auch weiter nicht über meine Seitensprünge. Bei Silvers höflichem Gruß stieg ihm das Blut in den Kopf.

»Silver,« sagte er, »Ihr seid ein unerhörter Bösewicht – ein monströser Bösewicht, Herr. Man gab mir den Rat, Euch nicht zu verklagen. Gut, ich werde es nicht tun. Aber die Geister der Erschlagenen, Herr, hängen wie Mühlsteine um Euren Hals.«

»Ich danke Ihnen gütigst, Herr,« antwortete John mit einem zweiten Salut.

»Wagt es, mir zu danken!« rief der Gutsherr. »Es ist eine schwere Verletzung meiner Pflicht. Schert Euch fort.«

Dann gingen wir alle in die Höhle. Sie bestand aus einem großen, luftigen Raum mit einer Quelle und einem von Farnkräutern eingesäumten Wassertümpel. Der Boden bestand aus Sand. Vor dem Feuer lag Kapitän Smollett, und in der hintersten, vom flackernden Feuer kaum erhellten Ecke sah ich Haufen von Münzen und Vierecke von Goldbarren. Das war Flints Schatz, um dessentwillen wir von so weither gekommen waren und der bereits siebzehn Menschenleben gefordert hatte an Bord der »Hispaniola«. Ich wagte mir nicht auszudenken, wieviel Blut und Tränen daranhingen, wie viele gute Schiffe um seinetwillen in den Grund gebohrt wurden, wieviel brave Seeleute mit verbundenen Augen über das Plank springen mußten, wie viele Kanonenschüsse, wie viele Schandtaten, wie viele Grausamkeit, wieviel Blut an ihm klebte.

»Jim,« sagte der Kapitän, »bist ein guter Junge auf deine Art, Jim; aber ich glaube nicht, daß wir beide noch einmal Schiffsmaaten zusammen sein werden. Du hast mir zu viel von einem geborenen Günstling an dir. – Seid Ihr das, John Silver? Was bringt Euch hierher, Mann?«

»Zurück zum Dienst, Herr,« antwortete Silver.

»Ah!« sagte der Kapitän und das war alles, was er sagte.

An jenem Abend hatten wir ein herrliches Nachtessen. Silver saß dabei, beinahe aus dem Bereiche des Feuers, aß mit großem Appetit, sprang dienstfertig auf, wenn irgend etwas gewünscht wurde, und stimmte sogar in unsere Fröhlichkeit ein – ganz derselbe glatte, höfliche, dienstfertige Seemann, der er auf der Ausreise gewesen.


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