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Wie es dazu kam

. Als ich am nächsten Morgen an Deck kam, schien das Aussehen der Insel gänzlich verändert. Obwohl die Brise inzwischen ganz eingeschlafen war, waren wir doch während der Nacht ein gutes Stück weiter getrieben worden von der Strömung, und lagen nun bei völliger Windstille ungefähr eine halbe Seemeile im Südosten der flachen Ostküste, die großenteils von grauen Buschwäldern überzogen war. Diese gleichmäßige Farbe wurde stellenweise unterbrochen durch gelbe Sandstreifen in der Nähe des Wassers und viele schlanke, tannenartige Bäume, die über die anderen hinwegragten. Manche von ihnen standen einzeln, manche in Gruppen, aber im allgemeinen war das Bild einförmig und traurig. Die Spitzen der Hügel stiegen über die Vegetation hinaus zu nackten Feldkuppen. Alle diese Hügel hatten eine eigenartige Form, zumal der »Fernrohrberg«, der die anderen um reichlich drei- oder vierhundert Fuß überragte, war auch der auffallendste unter ihnen. Von allen Seiten stieg er steil an und oben auf dem Gipfel war er flach abgeschnitten.

Die »Hispaniola« rollte schwer in der langen Dünung. Die Bäume rissen an den Blöcken, das Ruder schlug donnernd hin und her, und das ganze Schiff war lebendig wie eine Fabrik vom Krachen, Ächzen, Stöhnen und Springen. Ich mußte mich gewaltsam an den Pardunen festhalten, um nicht auszurutschen. Alles tanzte vor meinen Augen, denn obwohl ich seefest genug war auf allen fahrenden Schiffen, hatte ich noch nicht gelernt, mich so herumwerfen zu lassen wie eine Flasche, zumal am frühen Morgen, bei leerem Magen.

Ein mühsames Stück Arbeit stand uns bevor, denn da nirgendwo eine Spur von Wind war, mußten die Boote ausgesetzt werden, um das Schiff etwa drei Seemeilen weit zu schleppen um das letzte Vorland der Insel und durch die enge Passage in den kleinen Hafen hinter der Skelettinsel. Ich meldete mich als Freiwilliger in einem der Boote, obwohl ich dort nichts verloren hatte. Die Hitze war unerträglich, und die Leute schimpften schrecklich über ihre Arbeit. Anderson, der in meinem Boote das Kommando führte, schimpfte am lautesten, anstatt Ordnung zu halten, wie es seine Pflicht war.

Während der ganzen Zeit stand der lange John neben dem Steuermann und spielte den Lotsen. Er kannte die Durchfahrt so gut wie seine Hosentasche, und obwohl der Mann am Lot stets größere Tiefen angab als die auf der Karte verzeichneten, zögerte John doch niemals einen Augenblick.

»Es ist hier ein starker Gegenstrom bei Ebbe, und diese Durchfahrt ist sozusagen mit einem Spaten durchgestochen.«

Wir kamen zu genau der Stelle, wo der Anker auf der Karte verzeichnet war, ungefähr eine Drittelseemeile vom Lande, zwischen dem Hauptlande und der Skelettinsel. Der Boden war hier aus reinem Sand. Das Fallen unseres Ankers scheuchte eine Wolke von Vögeln auf, die eine Weile flatternd und schreiend über dem Walde hingen, aber in weniger als einer Minute wieder herabfielen. Dann war alles wieder still wie zuvor.

Die Bucht war beinahe ganz vom Land umschlossen, tief vergraben in Wälder, deren Äste herunterhingen bis zur Hochwassermarke. Der Strand war zumeist flach und die Gipfel der Hügel standen ringsum im Hintergrund wie eine Art Amphitheater. Zwei kleine Flüsse – eher mochte man sie Sümpfe nennen – mündeten in diesen Teich, und das Blattwerk ringsum war von giftig aussehender Helle. Vom Schiffe aus konnte man nichts sehen von dem auf der Karte verzeichneten Hause, da dieses unter den Bäumen vergraben war.

Nirgendwo war ein Windhauch zu spüren, nirgendwo vernahm man einen anderen Laut, als das eine halbe Meile entfernte Donnern der Brandung an Strand und Felsen. Ein eigentümlicher fauler Geruch von dumpfen Blättern und verfaulten Baumstämmen lag in der Luft. Doktor Livesey schnüffelte in der Luft wie einer, der ein verdorbenes Ei untersucht.

»Ich weiß nicht wie es um die Schätze hier steht,« sagte er, »aber ich wette meine Perücke, daß hier Fieber zu finden ist.«

Schon im Boote war das Verhalten der Leute, wie gesagt, sehr beunruhigend, nun aber, da sie zurück an Bord kamen, nahmen sie eine drohende Haltung an. Schimpfend und maulend lungerten sie auf dem Verdeck umher. Der geringste Befehl wurde langsam und nachlässig, mit bösen Blicken ausgeführt. Auch die ehrlichen Leute schienen davon angesteckt zu sein, denn keiner machte eine Ausnahme. Meuterei hing über uns wie eine Wetterwolke.

Und nicht nur wir von der Kabinenpartei bemerkten die Gefahr. Der lange John tat was er konnte, um die Gemüter zu besänftigen. Er ging von Gruppe zu Gruppe und wurde nicht müde, zum Frieden und zur Vernunft zu raten. Und was vollends sein gutes Beispiel anbelangt, so übertraf er sich förmlich in Bereitwilligkeit und Dienstfertigkeit. Er lächelte wie immer. Sobald nur irgendein Befehl ausgerufen wurde, war John sofort auf seinen Krücken mit dem freundlichsten »jawohl, Herr!« da und wenn gerade nichts Besonderes zu tun war, sang er ein Lied nach dem andern, um das Mißvergnügen der andern zu verbergen.

Von allen düsteren Einzelheiten jenes gewitterdrohenden Nachmittags erscheint mir keine schlimmer, als die offensichtliche Furcht des langen John.

Wir hielten indes Kriegsrat in der Kajüte.

»Herr,« sagte der Kapitän, »wenn ich noch einen Befehl riskiere, werde ich das ganze Schiff gegen uns in Aufruhr bringen. So liegen die Dinge, Herr. Wenn ich irgendwie eine unhöfliche Antwort bekomme und eine Zurechtweisung folgen lasse, werden die Messer und Marlingspicken um mich herfliegen, Silver wird dafür sorgen, daß es gründlich getan wird. So wie die Dinge jetzt liegen, haben wir nur einen Mann, auf den wir uns verlassen können.« »Und wer mag das sein?« fragte der Gutsherr.

»Silver,« antwortete Kapitän Smollett; »er ist ebenso darauf aus wie wir selbst, um die Dinge nicht vorzeitig zum Ausbruch kommen zu lassen. Er wird es den Leuten schon ausreden, wenn man ihm Gelegenheit dazu gibt, und ich bin dafür, daß man sie ihm gebe. Geben wir den Leuten einen Nachmittag frei zu einem Spaziergang an Land. Wenn sie alle gehen, werden wir das Schiff verteidigen. Wenn keiner geht – nun, dann können wir immer noch die Kajüte halten und auf Gott und unser gutes Recht vertrauen. Wenn aber nur einige gehen, so können Sie sich darauf verlassen, daß Silver sie so zahm wie Lämmer zurückbringen wird.«

Demgemäß wurde auch beschlossen. Alle sicheren Leute bekamen geladene Pistolen. Hunter, Joyce und Redruth wurden in das Geheimnis eingeweiht und zeigten sich weniger erstaunt und erschreckt, als man vermutet hatte. Dann ging der Kapitän an Deck und sprach mit der Mannschaft.

»Wir haben ein heißes Tagewerk hinter uns, Jungens,« sagte er, »und ihr seid alle müde und schlechter Laune. Ein kleiner Ausflug an Land kann euch nur gut tun. Die Boote sind noch im Wasser, ihr könnt noch die Gig dazunehmen, und wer will kann an Land gehen. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang werde ich einen Kanonenschuß abfeuern lassen als Signal zur Rückkehr.«

Die einfältigen Burschen schienen zu glauben, daß man dort drüben auf dem Lande über die umherliegenden Schätze stolpern würde, denn plötzlich war ihre schlechte Laune verflogen und sie stürzten sich in die Boote mit einem Freudenruf, der ein Echo in den fernen Hügeln weckte und die Vögel noch einmal im Walde aufscheuchte.

Der Kapitän machte sich klugerweise unsichtbar. Sogleich verschwand er von der Bildfläche und überließ Silver die Organisierung der Partie. Wäre er an Deck geblieben, so hätte er wirklich auch nicht mehr den Schein der Unwissenheit aufrecht erhalten können. Es war alles nur allzu klar. Silver war der Kapitän und um ihn drängte sich eine äußerst rebellische Mannschaft. Die ehrlichen Leute – ich sollte bald sehen, daß auch von diesen noch einige an Bord waren – müssen in der Tat recht dumme Teufel gewesen sein. In Wahrheit war es wohl so, daß alle Mann mehr oder minder angesteckt waren von dem Beispiel der Rädelsführer, einige mehr, einige weniger, wenn sie auch nicht zur offenen Rebellion verführt werden konnten. Es ist eben doch ein Unterschied zwischen bloßer fauler Widersetzlichkeit und der offenen Absicht, ein Schiff zu nehmen und eine Anzahl unschuldiger Leute zu ermorden.

Endlich war die Partie zusammengestellt. Sechs Mann blieben an Bord und Silver und die übrigen dreizehn bestiegen die Boote.

Und gerade in diesem Augenblicke durchzuckte meinen Kopf eine jener wahnsinnigen Ideen, die soviel beitragen sollten zu unserer Rettung. Es war klar, daß unsere Partei mit sechs Mann das Schiff nicht nehmen und verteidigen konnten, und da andererseits Silver nur sechs Mann zurückgelassen hatte, stand es ebenso fest, daß meine Freunde augenblicklich nicht meiner Hilfe bei der Verteidigung bedurften. Es würde also keinen großen Unterschied machen, wenn ich auch an Land ginge. Im Augenblicke war ich über die Schiffsseite geschlüpft und hatte mich im vorderen Teile des nächsten Bootes verkrochen, als es vom Schiffe abstieß.

Niemand bemerkte mich, außer dem ersten Rudersmann. »Bist du das, Jim?« fragte er, »halte deinen Kopf unten.« Aber Silver, der in einem anderen Boote saß, schaute scharf herüber und fragte, was da los wäre. Und schon bereute ich meine schnelle Tat.

Die Bootsmannschaften ruderten um die Wette nach dem Strande, aber unser Boot war etwas voraus, und da es leichter und besser bemannt war, stieß sein Bug lange vor den andern gegen die Bäume am Ufer. Ich faßte einen Zweig und schwang mich hinaus. Ich tauchte unter in den nächsten Busch, als eben Silver und die anderen etwa hundert Meter hinter uns sich zum Landen anschickten.

»Jim, Jim!« hörte ich ihn rufen. Aber ich kümmerte mich nicht darum. Hüpfend und duckend sprang ich gerade, bis ich nicht mehr konnte.


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