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Auf der Schatzsuche – Die Stimme im Walde

. Teils infolge des ausgestandenen Schreckens, teils um Silver und dem Kranken etwas Ruhe zu gönnen, sahen sie sich veranlaßt, sich ein wenig hinzusetzen, als sie den Gipfel des Plateaus erreicht hatten. Das Plateau war gegen Westen etwas abgeflacht, so daß man von unserem Standpunkt aus eine weite Aussicht hatte. Silver orientierte sich mit seinem Kompaß.

»Dort steht ein ›großer Baum‹,« sagte er, ungefähr in der Richtung der Skelettinsel. »Der niedrigere Punkt dort hinten wird wohl die Fernglasschulter sein. Ein Kind könnte jetzt den Stoff finden. Ich hab' gute Lust, jetzt erst was zu essen.«

»Ich hab' gerade keinen großen Appetit,« schimpfte Morgan; »der Gedanke an Flint wird mir ihn wohl verdorben haben.«

»Ah, mein Sohn,« sagte Silver, »du kannst von Glück reden, daß er tot ist.«

»Er war ein häßlicher Teufel!« rief ein dritter, »und so blau im Gesicht!«

»Der Rum hatte ihn so gemacht,« meinte Murry. »Blau, ja das war er wohl, die meiste Zeit war er das.«

Seitdem sie der grausige Fund auf diese Gedankenrückgänge gebracht hatte, war ihre Unterhaltung leiser und leiser geworden, bis sie jetzt zu einem Murmeln herabgesunken war, das kaum noch die Stille des Waldes störte. Plötzlich aber erhob sich mitten in den Baumkronen vor uns eine dünne, hohe, zitterige Stimme, die das uns allen so wohl bekannte Lied anstimmte:

»Fünfzehn Mann auf der Totenkist',
Jo-ho-ho, und 'ne Buddel Rum!«

Nie in meinem Leben hatte ich so bestürzte Menschen gesehen, wie diese Piraten. Alle Farbe wich aus ihren Gesichtern. Einige sprangen auf und hielten einander fest. Morgan fiel auf den Boden, »'s ist Flint, bei Gott!« rief Merry.

Das Lied verstummte so plötzlich, wie es angefangen hatte. Mitten in der Note brach es ab, gerade wie wenn jemand seine Hand auf des Sängers Mund gelegt hätte.

»Kommt,« sagte Silver, der kaum die Worte über seine aschfahlen Lippen brachte, »so kommen wir nicht weiter. Klar zum Wenden, Jungens! Das ist ein falscher Kurs, und die Stimme kann ich auch nicht erkennen. Aber 's ist einer, der sich über uns lustig macht – einer aus Fleisch und Blut! Da könnt ihr Gift darauf nehmen.«

Sein Mut kehrte zurück mit seinen Worten, und ebenso ein wenig von der Farbe in seinem Gesicht. Auch die anderen begannen wieder zu sich zu kommen, als dieselbe Stimme sich wieder hören ließ. Diesmal war es aber kein Singen, sondern ein fernes Rufen, das in den Felsen ein vielfaches Echo fand.

»Darby Mac Graw!« rief es mit weinerlicher Stimme, »Darby Mac Graw! Darby Mac Graw!« Und dann wieder und wieder und schließlich etwas lauter und mit einem Fluch, den ich lieber nicht niederschreibe. »Bring den Rum nach achtern, Darby!«

Die Seeräuber standen wie angewurzelt, und ihre Augen traten förmlich aus den Höhlen. »Genug!« sagte einer, »gehen wir zurück.«

»Das waren seine letzten Worte,« klagte Morgan, »seine letzten Worte auf dieser Erde.«

Dick holte seine Bibel heraus und betete ausgiebig. Er war guter Leute Kind und ein anständiger Bursch, ehe er in schlechte Gesellschaft kam.

Nur Silver war noch nicht besiegt. Ich hörte, wie die Zähne in seinem Munde klapperten; aber ergeben hatte er sich noch nicht.

»Niemand auf dieser Insel hat je etwas von Darby gehört,« murmelte er, »niemand außer uns.« Und dann mit einer großen Anstrengung: »Kameraden! Ich bin hierhergekommen, um den Stoff zu finden, und Menschen und Teufel sollen mich nicht darum betrügen. Im Leben habe ich mich nicht vor Flint gefürchtet. Nun werde ich es auch nicht vor dem Toten tun! Siebenhunderttausend Pfund liegen dort oben, nicht eine Viertelmeile von hier. Wo hat je ein Glücksritter sein Heck gezeigt vor so vielen Dollars, bloß wegen eines versoffenen alten Seemanns – und der noch tot obendrein!«

Aber die Worte verfehlten ihre Wirkung auf seine Begleiter, die eher noch mehr in Schrecken versetzt wurden durch seine unehrerbietigen Worte.

»Laß das nach, John!« sagte Merry, »reize die Geister nicht.«

Die andern waren überhaupt zu bestürzt, um etwas zu sagen. Am liebsten wären sie alle davongelaufen. Aber die Furcht hielt sie zusammen, dicht an Johns Seite, der inzwischen seine Schwächeanwandlung niedergekämpft hatte.

»Geist? Vielleicht,« meinte er. »Aber eins ist mir dann nicht klar. Man hörte doch ein Echo. Nun hat aber doch noch niemand jemals einen Geist mit einem Schatten gesehen; was also soll er mit einem Echo anfangen, möchte ich wohl wissen? Logisch ist das sicher nicht! Oder?«

Das Argument war schwach genug. Man kann indes niemals wissen, was den Aberglauben beeinflußt, und wirklich schien George Merry zu meinem Erstaunen recht erleichtert.

»Ja, so ist's,« sagte er, »du hast einen Kopf auf deinen Schultern, John. Wenden, Jungens! Diese Mannschaft ist auf dem falschen Kurs, wie mir scheint. Und wenn ich es mir recht überlege – es war wohl so wie Flints Stimme, aber doch wohl nicht so klar. Es war mehr wie eine andere Stimme – es war wie –«

»Beim Teufel, Ben Gunn!« brüllte Silver.

»Ja, so war's,« rief Morgan, der sich auf den Knien erhob.

»Ben Gunn war's!«

»Das wird wohl nichts ausmachen,« bemerkte Dick. »Ben Gunn ist hier so wenig in Fleisch und Blut wie Flint.«

Aber die anderen antworteten ihm verächtlich.

»Niemand kümmert sich um Ben Gunn. Niemand hat Angst vor ihm, tot oder lebendig.«

Es war erstaunlich, zu sehen, wie ihre Lebensgeister wieder zurückkamen und damit die natürliche Farbe ihrer Gesichter. Nur Dick hielt noch immer seine Bibel fest und schaute ängstlich umher; aber er fand nirgendwo Sympathie, und Silver machte sich sogar lustig über seine Ängstlichkeit.

»Ich habe dir ja gesagt, daß du deine Bibel verdorben hast,« meinte er. »Wenn sie nicht mehr gut genug ist, um darauf zu schwören, was beim Kuckuck sollten denn die Geister darauf geben? Nicht so viel!«

Aber Dick ließ sich nicht beruhigen; es war bald klar, daß der Junge krank wurde. Die Hitze, die Erschöpfung, die Angst, das von Doktor Livesey vorausgesagte Fieber begann zu steigen mit jeder Minute.

Es war hier oben gut zu marschieren in der kühlen Luft. Der erste hohe Baum, den wir erreichten, zeigte sich als der falsche, ebenso der zweite. Der dritte erhob sich zu mehr als hundert Fuß Höhe über einen niedrigen Busch; ein Riese von einem Baum mit einem roten Stamm so dick wie eine Hütte und einer Krone, die so groß war, daß eine Kompanie in ihrem Schatten kampieren konnte.

Es war indes nicht die Größe des Baumes, die meinen Gefährten imponierte, sondern die Tatsache, daß siebenhunderttausend Pfund irgendwo in seinem Schatten begraben lagen. Je näher sie kamen, je mehr verschlang der Gedanke an das viele Geld ihren vorherigen Schrecken. Ihre Augen brannten im Kopfe, die Schritte wurden leichter und schneller, ihr ganzes Wesen fieberte nur noch dem Schatze entgegen, der jedem von ihnen ein Leben in Lust und Verschwendung garantieren sollte.

Silver humpelte grunzend an seiner Krücke mit weitgeöffneten, zitternden Nasenlöchern. Er fluchte wie ein Besessener, wenn immer wieder eine Fliege sich auf sein heißes, schweißgebadetes Gesicht setzte. Wütend zog er an der Leine, und von Zeit zu Zeit warf er mir einen wütenden Blick zu. Er gab sich jedenfalls keine Mühe, seine Gedanken zu verbergen, die so klar wie gedruckt auf seinem Gesichte standen. Die unmittelbare Nähe des Schatzes hatte ihn alles andere vergessen lassen; sein Versprechen, die Warnung des Doktors waren vergangene Dinge. Es war kein Zweifel, daß er den Schatz zu finden hoffte, um dann bei Nacht und Nebel die »Hispaniola« zu finden und zu kapern und damit fortzusegeln, beladen mit Schätzen und Verbrechen, nachdem er zuvor noch jede ehrliche Gurgel auf der Insel durchgeschnitten hätte.

Der Schrecken und die Angst vor solchen Plänen war mir so in die Glieder gefahren, daß ich keinen Schritt zu halten vermochte mit dem schnellen Marschtempo der Schatzsucher. Immer wieder stolperte ich, und immer wieder zog mich Silver hoch mit der Leine und warf mir einen mörderischen Blick zu. Dick, der etwas zurückgeblieben war, plapperte vor sich hin in einem krausen Durcheinander von Gebeten und Flüchen, während das Fieber stetig höher stieg. Wir waren jetzt am Rande des Dickichts.

»Vorwärts, Jungens, alle zusammen!« rief Merry, während die vordersten zu laufen anfingen.

Dann plötzlich, nach etwa zehn Meter, blieben sie stehen. Man hörte einen leisen Schrei. Silver verdoppelte seine Geschwindigkeit. Wie ein Besessener arbeitete er mit seiner Krücke. Im nächsten Augenblick kamen auch wir zum Stillstand.

Vor uns lag eine Ausgrabung, die schon älteren Datums sein mußte, denn die Seiten waren eingefallen und der Boden war mit Gras bewachsen. Dort lag ein zerbrochener Axtstiel und zwei oder drei Bretter einer Kiste. Auf einem dieser Bretter war der Name von Flints Schiff »Walroß« eingebrannt.

Alles war sonnenklar. Das Versteck war entdeckt und ausgeräubert. Die siebenhunderttausend Pfund waren fort!


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