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Wieder der »Schwarze Punkt«

. Die Beratung der Seeräuber hatte schon eine Weile gedauert, als einer von ihnen zurückkam mit demselben, wie mir schien, etwas ironischen Gruß und für einen Augenblick die Fackel entlieh. Silver bewilligte das mit einem kurzen Kopfnicken, der Mann zog sich zurück und wir blieben im Dunkeln.

»Da kommt eine Brise, Jim,« sagte Silver, der inzwischen schon einen ganz freundlichen und familiären Ton mir gegenüber angenommen hatte.

Ich schaute durch die nächste Schießscharte. Halbwegs zwischen dem Haus und der Stockade waren die Verschwörer versammelt, der eine hielt das Licht, der andere kniete in ihrer Mitte und hielt in den Händen ein Messer, das vielfarbig schillerte im Mond- und Fackellicht. Die übrigen standen alle etwas vornübergebeugt, als wollten sie die Bewegungen des letzteren beobachten. Ich konnte gerade noch sehen, daß er ein Buch sowohl als ein Messer in der Hand hatte, und ich wunderte mich eben, wie so etwas Unmögliches in ihre Hand gekommen wäre, als die ganze Gesellschaft zurückkehrte.

»Sie kommen,« sagte ich und kehrte gleich wieder an meinen alten Platz zurück, denn sie sollten nicht glauben, daß ich sie belauscht hätte.

»Laß sie kommen, Junge,« sagte Silver fröhlich, »laß sie kommen! Ich habe immer noch einen Schuß in meiner Büchse!«

Die Tür ging auf und die fünf eng zusammengehuddelten Menschen schoben einen aus ihrer Mitte voran. Wäre es nicht so traurig gewesen, man hätte lachen müssen über den Burschen, wie er zögernd näher kam, mit der geschlossenen Faust vor dem Gesicht.

»Komm nur heran, mein Junge,« rief Silver, »ich werde dich nicht fressen. Zeig es her, du Lümmel. Ich kenne die Regeln. Ich werde mich nicht vergreifen an einer Abordnung.«

Nach dieser Ermutigung kam der Mann schnell näher, und nachdem er Silver etwas in die Hand gedrückt hatte, ging er noch schneller wieder zurück zu seinen Gefährten. Der Seekoch betrachtete sich das Ding.

»Der schwarze Punkt! Das habe ich mir schon gedacht. – Wo habt ihr denn das Papier her? Was? Schau her! Das heißt man nicht gerade Glück! Ihr habt das aus einer Bibel gerissen. – Was für ein Narr würde eine Bibel zerreißen?«

»Ah, da habt ihr's!« sagte Morgan. »Da! Was habe ich gesagt? Nichts Gutes kann von so etwas kommen, hab' ich gesagt.«

»Da habt ihr etwas angerichtet,« fuhr Silver fort, »jetzt werde ich ihn sicher hängen müssen. Was für ein schwachköpfiger Lümmel hatte denn eine Bibel?« »Es war Dick,« sagte einer.

»Dick, so? Dann kann Dick sich nun aufs Beten verlegen. Er hat sein letztes bißchen Glück erlebt.«

Aber da unterbrach ihn der lange Bursche mit den gelben Augen.

»Laßt das Geschwätz, John Silver,« sagte er. »Diese Mannschaft hat Euch in ernstem Rate pflichtgemäß den ›Schwarzen Punkt‹ zugesprochen. Tut nun auch Eure Pflicht. Dreht es um und seht, was darauf geschrieben steht.«

»Danke, Georg,« erwiderte Silver. »Du warst von jeher ein Geschäftsmann und kennst die Regeln, wie ich zu meiner Freude feststelle. – Nun, was ist's denn überhaupt? – Ah, ›abgesetzt‹ – also so steht es? Sehr hübsche Handschrift in der Tat! Wie gedruckt! Deine Handschrift, Georg? Warst ja in letzter Zeit ein führender Mann in dieser Mannschaft. Sollte mich nicht wundern, wenn man dich demnächst als Kapitän sehen wird. Leihe mir, bitte, nochmal den Holzscheit. Diese Pfeife will nicht ziehen.«

»Mach zu,« sagte Georg, »du wirst diese Mannschaft nicht länger zum Narren halten. Bist ein spaßiger Mann, wenn man dich so hört; aber nun hast du ausgespielt, und vielleicht bist du jetzt so gut und kommst vom Faß herunter und hilfst uns beim Wählen.«

»Ich dachte, du kenntest die Regeln,« antwortete Silver verächtlich. »Ich wenigstens tue es und warte hier – und bin nach wie vor euer Kapitän, bis ihr mir eure Klagen vorgebracht und ich darauf geantwortet habe. Inzwischen ist euer ›Schwarzer Punkt‹ nicht so viel wert wie ein Biskuit. Nachher können wir weitersehen.«

»Oh,« antwortete Georg, »du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind hier alle ehrlich. Zunächst einmal hast du diese ganze Reise verpfuscht – du wirst selbst nicht den Mut haben, das zu leugnen. Zweitens hast du ohne Grund und Not den Feind aus dieser Falle gelassen. Warum wollten sie hinaus? Ich weiß es nicht, aber daß sie es wünschten, ist doch nur zu klar. Drittens wolltest du uns nicht erlauben, sie beim Abmarsch anzugreifen. Und dann viertens – da ist dieser Junge!« »Ist das alles?« fragte Silver ruhig.

»Ich dächte, das wäre genug,« antwortete Georg. »Wir werden alle hängen und an der Sonne trocknen für deine Stümperei!«

»Gut,« sagte Silver, »ich werde nun eure vier Punkte hübsch der Reihe nach beantworten, darauf könnt ihr euch verlassen. – Also ich habe die Reise verpfuscht? Ihr alle wißt, was ich wollte, und ihr wißt auch alle – oder solltet es wenigstens wissen –, daß wir nach meinem Plane heute noch alle lustig und lebendig, voll gutem Pudding und mit dem Schatz an Bord auf der »Hispaniola« wären. Wer fiel mir, dem rechtmäßigen Kapitän, dabei in die Arme? Wer überreichte mir den ›Schwarzen Punkt‹ am Tage der Landung und begann damit diesen ganzen Tanz? – Ah, es ist ein feiner Tanz – da gebe ich euch recht –, und es sieht mächtig so aus wie ein Knoten an einem Tauende im Hinrichtungsdock zu London. Und wer hat uns das alles eingebrockt? Es war Andersen und Hands und Georg Merry! – Und du, der letzte an Deck von dieser tappigen Mannschaft, hast noch die Frechheit, hier aufzutreten und Kapitän zu spielen über mich – du, der du uns alle zum Sinken gebracht hast! Beim Teufel! Das ist toller als das tollste Garn, das ich jemals gehört habe!«

Einen Augenblick unterbrach Silver seine Rede, und man konnte an den Gesichtern der anderen sehen, daß diese Worte nicht umsonst gesprochen waren.

»So viel zu Nummer eins!« rief der Angeklagte, während er sich die Stirne wischte; denn er hatte mit einer Donnerstimme gesprochen, die das Haus erzittern machte. »Auf mein Wort, ich bin es müde, mit euch zu argumentieren. Ihr habt weder Verstand noch Gedächtnis, und ich möchte wohl wissen, was in eure Mütter gefahren war, als sie auf den Gedanken kamen, euch zur See zu schicken. – See! Glücksritter! Ich glaube, Schneider wär' euer richtiger Beruf gewesen!«

»Vorwärts, John,« sagte Morgan. »Komme zu den anderen Punkten!«

»Ah, die anderen!« antwortete John. »Die sind auch noch eine feine Gesellschaft, nicht wahr? Ihr sagt, daß diese Reise verpfuscht ist. Oh, bei Gott, ihr würdet Augen machen, wenn ihr verstehen könntet, wie sehr sie verpfuscht ist! Wir sind so nahe dem Galgen, daß mein Hals steif ist, wenn ich daran denke. Ihr habt sie alle schon gesehen, wie sie dort in Ketten hängen, mit Vögeln, die um ihre Köpfe fliegen, und Seeleuten, die auf sie mit den Fingern weisen, während sie mit der Flut stromabwärts fahren. ›Wer ist das?‹ sagt einer. ›Das? Das ist doch John Silver. Ich kannte ihn gut,‹ sagt ein anderer. Und sie können die Ketten klirren hören, wenn sie über Stag gehen und nach der anderen Boje segeln. So weit wären wir nun glücklich. Jeder Mutter Sohn unter uns dank ihm und Hands und Andersen und den anderen Pfuschern. Und wenn ihr nun etwas fragt über Nummer vier und diesen Jungen – ja, zittere meine Seele! Ist er nicht eine Geisel? Sollen wir eine Geisel hergeben? Nein, nicht wir in unserer Lage! Vielleicht ist er unsere letzte Rettung; es sollte mich gar nicht wundern, wenn es so wäre. Den Jungen umbringen? Nicht wir, Kameraden! – Und zu Nummer drei! Ja, siehe da! Da wäre eine ganze Masse zu sagen zu Nummer drei. Vielleicht ist es auch einerlei, ob ein richtiger studierter Doktor euch alle Tage besucht dich John, mit dem zerbrochenen Kopf, und dich, Georg Merry, der noch vor sechs Stunden auf dem Rücken gelegen hat mit Fieber und Schüttelfrösten, und der auch in dieser Stunde noch Augen hat wie Zitronenschalen? Und vielleicht, ich glaube gar, ihr habt es vergessen, daß binnen kurzem ein Hilfsschiff kommen wird! Und dann wird sich's ja zeigen, ob wir eine Geisel gebrauchen können oder nicht. Und was endlich Nummer zwei betrifft, und warum ich auf den Handel einging – aber ihr kommt ja auf euren Knien, um mich darum zu bitten – auf euren Knien kommt ihr aus lauter Mutlosigkeit – und wäret heute verhungert, wenn ich es nicht getan hätte, aber das ist schließlich Nebensache! Aber schaut her – das ist es, warum ich es tat!«

Mit diesen Worten warf er ein Papier auf den Boden, das ich sofort wieder erkannte – es war kein anderes als die Karte auf dem gelben Papier mit den drei Kreuzen, die ich vor Zeiten in dem Öltuchbündel auf dem Boden der Seekiste des Kapitäns gefunden hatte. Es war mir unerklärlich, warum der Doktor sie ihm gegeben hatte.

Den überlebenden Meuterern schien das Auftauchen der Karte geradezu unglaublich. Sie sprangen darauf wie die Katze auf eine Maus. Einer riß sie aus des andern Händen, und wenn es nach ihren Flüchen, dem Rufen und dem kindischen Lachen gegangen wäre, hätte man meinen können, sie hätten schon das bare Geld und wären sicher damit auf hoher See.

»Ja,« sagte einer, »das ist wirklich Flints Unterschrift. J. F. und ein Kreuzknoten darunter; so hat er es immer gemacht.«

»Sehr hübsch,« meinte Georg, »aber wie sollen wir das Zeug fortschaffen, wir ohne Schiff?«

Silver sprang plötzlich auf, indem er sich mit einer Hand an der Wand hielt: »Ich warne dich, Georg,« rief er aus. »Noch ein Wort, und du sollst es von mir aus haben. – Wie? Woher soll ich das wissen? An dir wäre es, mir das zu sagen – an dir und den anderen, die mir meinen Schoner verloren haben. Zum Henker mit euch allen! Von dir bekommen wir keins. Da könnten wir lange warten. Du hast nicht die Phantasie einer Küchenschabe. Aber wenigstens kannst du höflich sein. Und das wirst du auch, Georg.«

»Das ist nicht mehr wie recht,« sagte der alte Morgan.

»Recht! Man sollte es meinen!« sagte der Seekoch. »Ihr habt das Schiff verloren, und ich fand den Schatz. Wer ist der bessere von uns? Und jetzt, beim Donner, nehme ich meinen Abschied! Wählt, wen ihr wollt zum Kapitän. Ich bin fertig damit.«

»Silver!« riefen sie alle. »Es lebe Bratrost! Bratrost als Kapitän!«

»Also daher bläst der Wind?« rief der Koch. »Georg, ich glaube, du mußt noch ein wenig warten, mein Freund, und es ist dein Glück, daß ich nicht rachsüchtig bin. Aber das war nie meine Art. – Und nun, Kameraden, was ist's mit dem schwarzen Punkt? Wohl nicht viel wert? Dick hat damit sein Glück verdorben und die Bibel zerrissen.«

»Man wird das Buch aber immer noch küssen können,« murrte Dick.

»Eine Bibel mit einer herausgerissenen Seite!« rief Silver. »Das möchte ich nicht probieren! Die hilft nicht mehr als ein Balladenbuch.«

»Tut sie das nicht?« rief Dick erfreut. »Nun, ich glaube, so etwas hat auch seinen Wert.«

»Da, Jim – da hast du eine Sehenswürdigkeit,« sagte Silver, indem er mir das Papier zuwarf.

Es war rund und ungefähr so groß wie ein Taler. Die eine Seite – es war die letzte – war weiß, auf der anderen einige Verse aus der Offenbarung Johanni, darüber auch einer, der sehr den Umständen entsprach: »Draußen sind Hunde und Mörder.« Die gedruckte Seite war mit Holzasche geschwärzt, auf der leeren Seite stand das Wort »Abgesetzt!«

Ich habe das Ding vor mir, indem ich dieses schreibe, aber außer einem Kratzfuß ist keine Spur mehr übriggeblieben von dem Geschriebenen.

So endete das nächtliche Abenteuer. Gleich darauf legten wir uns nieder zum Schlafen, nachdem Silver zuvor noch Georg die Nachtwache zuerteilt hatte unter fürchterlichen Drohungen für den Fall der Unachtsamkeit.

Lange konnte ich kein Auge zumachen, und das war wirklich kein Wunder nach den vergangenen Abenteuern. Aber Silver schlief friedlich und schnarchte laut. Trotz aller seiner Schlechtigkeit tat mir mein Herz doch weh bei dem Gedanken an die Gefahren, die ihn umgaben, und das schmachvolle Ende am Galgen, das seiner wartete.


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