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Israel Hands

. Der Wind war uns wieder gefällig und sprang zu rechter Zeit nach Westen um. So konnten wir viel leichter von der Nordostecke der Insel nach der Nordbucht segeln. Nur mußten wir warten, bis die Flut richtig hereingekommen war, da wir nicht ankern konnten. Der Bootsmann erklärte mir, wie man das Schiff beidrehte, was ich auch schließlich fertigbrachte nach einigen vergeblichen Bemühungen. Dann setzten wir uns schweigend zu einer weiteren Mahlzeit hin.

»Kapitän,« sagte Hands mit demselben ungemütlichen Lächeln, »da liegt mein alter Schiffskamerad O'Brien. Wie wär's, wenn du ihn über Bord würfest? Ich bin sonst nicht gerade empfindlich und ich mache mir nichts daraus, daß ich es ihm besorgt habe. Aber eine Verzierung ist er hier gerade nicht.« – »Ich packe ihn nicht und außerdem gefällt mir die Arbeit nicht. Darum soll er liegen bleiben wo er ist,« sagte ich.

»Das ist wirklich ein unglückliches Schiff, diese ›Hispaniola‹,« fuhr er fort mit lauernder Miene. »Ein Haufen von Menschen ist umgebracht worden auf dieser ›Hispaniola‹ – eine große Anzahl von armen Seeleuten haben da ins Gras beißen müssen, seit du und ich gemustert haben in Bristol. In meinem Leben hab' ich solches Pech noch nicht gesehen. Da ist dieser O'Brien, nun – er ist tot, nicht wahr? Nun ja, ich bin kein Gelehrter, aber du bist ein Bursch, der lesen und schreiben kann – und damit ich's gerade heraus sage: glaubst du, daß die Toten auch wirklich ganz tot sind, oder daß sie am Ende doch wieder lebendig werden?«

»Ihr könnt den Körper totschlagen, aber nicht die Seele, Herr Hands, das solltet Ihr eigentlich schon wissen,« antwortete ich. »O'Brien hier ist schon in einer anderen Welt, und vielleicht beobachtet er uns eben.«

»Ah!« meinte er. »Das ist fatal! Es scheint als ob das Umbringen verlorene Liebesmüh wäre. Indes, nach dem was ich gesehen habe, zählen Geister nicht für voll. Ich nehme es auf mit den Geistern, Jim. Und nun, da du so gerade herausgesprochen hast, wäre ich dir wirklich dankbar, wenn du nach der Kajüte gingst und mir – nun, ein – verdammt! Ich kann mich nicht auf den Namen besinnen; also, du wirst mir eine Flasche Wein holen, Jim – dieser Schnaps ist zu stark für meinen Kopf.«

Das Zaudern des Bootsmanns schien mir recht erkünstelt und unnatürlich, und was seine Vorliebe für Wein vor dem Branntwein anbelangte, so schien mir diese durchaus unglaubhaft. Die ganze Geschichte war offenbar ein Vorwand. Es war offensichtlich, daß er mich von dem Verdeck weg haben wollte. Aber aus welchem Grunde? Seine Augen trafen nie mit den meinen zusammen. Sie wanderten hin und her, auf und ab, schauten abwechselnd zum Himmel und streiften dann wieder mit einem flüchtigen Blick den toten O'Brien. Dabei zeigte er mir noch das gleiche Lächeln und streckte schuldbewußt und verlegen die Zunge heraus, daß ein Kind sich sagen mußte, daß er Hintergedanken hatte.

Vor einem so beschränkten Burschen schien es jedoch leicht, den aufsteigenden Verdacht zu verbergen, und so antwortete ich prompt:

»Wein? das dürfte Euch wohl besser bekommen. Weißer oder roter?«

»Nun, ich denke es kommt wohl auf dasselbe heraus, Kamerad,« antwortete er, »die Hauptsache ist wohl, daß er stark ist und daß man viel davon bekommt.«

»Gut,« antwortete ich, »ich werde Euch Portwein bringen, Herr Hands, werde ihn aber erst heraussuchen müssen.«

Mit diesen Worten ging ich zunächst so laut und lärmend wie möglich die Treppe hinunter, zog dann meine Schuhe aus und lief schnell wieder hinauf, um ihn über den Rand des Verdecks hinweg zu beobachten. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden noch übertroffen.

Er hatte sich auf Hände und Knie aufgerichtet und – obwohl ihn sein Bein offensichtlich schmerzte beim Gehen – schleppte er sich doch ziemlich schnell über das Verdeck. Im Augenblick hatte er die Backbord Speigatten erreicht und holte aus einer Taurolle ein langes Messer, eher einen kurzen Dolch, der bis ans Heft von Blut gerötet war. Einen Augenblick schaute er es an mit vorgezogenem Unterkiefer, dann probierte er die Spitze mit seiner Hand, und dann, nachdem er es rasch unter dem Busen versteckt hatte, humpelte er wieder zurück an seinen alten Platz.

Das war alles, was ich wissen wollte. Israel war bewegungsfähig; er war bewaffnet und offensichtlich trachtete er mir nach dem Leben. Was er nachher zu tun beabsichtigte – ob er über die Insel hinweg zum Lager im Sumpfe zurückkriechen, oder ob er den »Langen Tom« abfeuern wollte, um seine Kameraden zu Hilfe zu rufen, das konnte ich natürlich nicht sagen.

In einem Punkte, in dem unsere Interessen gleichartig waren, konnte ich ihm jedenfalls vertrauen. Das war das Bergen des Schoners. In unserem beiderseitigen Interesse lag es, den Schoner sicher auf den Strand zu setzen an einem sichern Platze, der ein leichtes und ungefährliches Landen erlaubte. Und bis dahin – dachte ich – ist mein Leben gesichert.

Während nun diese Gedanken und Erwägungen durch meinen Kopf gingen, war ich auch sonst nicht müßig. Ich hatte mich wieder in die Kajüte zurückgeschlichen, war dort schnell wieder in meine Schuhe geschlüpft und hatte irgendeine Flasche Wein aufgegriffen, mit der ich wieder an Deck ging.

Dort fand ich Hands noch immer auf derselben Stelle liegen, ganz in sich zusammengesunken, mit gesenkten Augenlidern, als ob sie zu schwach wären, um das Licht zu ertragen. Bei meinem Kommen schaute er jedoch auf, brach den Hals der Flasche auf eine Art, die von langer Übung zeugte, nahm einen guten Schluck und lag dann wieder eine Weile ganz still. Dann zog er einen Block Tabak hervor und bat mich, ihm einen Priem abzuschneiden.

»Schneide mir ein Stück davon ab,« sagte er, »denn ich habe kein Messer, und selbst wenn ich eins hätte, wäre ich doch zu schwach für so etwas. Ach Jim, Jim, ich glaube, daß ich aufs falsche Pferd gesetzt habe! Schneide mir einen Priem. Es wird der letzte sein, mein Junge, denn ich bin auf der Fahrt nach dem langen Heimathafen.«

»Schön,« sagte ich, »ich werde dir etwas Tabak schneiden, aber an deiner Stelle, wenn ich mich wirklich so schlecht und schwach fühlte, würde ich meine Gebete sagen wie ein Christ.« »Warum?« sagte er, »sage mir warum.«

»Warum?« rief ich. »Gerade vorhin habt Ihr Euch bei mir erkundigt über die Toten. Ihr habt Euer Wort gebrochen. Ihr habt in Blut und Sünde gelebt. Zu Euren Füßen liegt ein Mann, den Ihr eben erst umgebracht habt. Und Ihr fragt mich warum? Um Gottes Vergebung willen, Herr Hands!«

Ich hatte ziemlich hitzig gesprochen, im Gedanken an den Dolch, den er in seiner Tasche stecken hatte und an seine finsteren Pläne, mit denen er mir nach dem Leben trachtete. Er selbst nahm einen großen Schluck aus der Weinflasche und setzte seine Rede fort mit ganz ungewöhnlicher Feierlichkeit.

»Dreißig Jahre fahre ich nun zur See,« sagte er, »und habe dabei Gutes und Schlechtes, Besseres und Schlimmeres gesehen, gutes und schlechtes Wetter, kurze Rationen und was sonst noch. Aber ich kann dir das eine sagen: Noch nie habe ich etwas Gutes vom Guten kommen sehen. Wer zuerst schlägt, ist nach meinem Geschmack. Die Toten beißen nicht; das ist meine Ansicht – Amen, und so ist es. – Und nun, schau her,« fuhr er fort in verändertem Tone, »wir haben lange genug geschwatzt. Führe meine Befehle aus, Kapitän Hawkins, und wir segeln glatt hinein, damit wir damit fertig werden.«

Im ganzen betrug die Entfernung zur Nordbucht kaum zwei Meilen, aber es war schwierige Schiffahrt. Der Eingang zur Nordbucht war nicht nur eng und untief, sondern zog sich zudem noch von Ost nach Westen, so daß es einer geschickten Manöverierung bedurfte, um hineinzukommen. Ich vermute, daß ich ein guter und williger Untergebener gewesen bin, und ich bin ganz gewiß, daß Hands ein ausgezeichneter Lotse war. Wieder und wieder gingen wir über Stag und schlichen uns immer so hart vorbei an den Riffen, daß es eine rechte Freude war.

Kaum hatten wir die Spitze am Eingang passiert, als wir auch schon in einem völlig landumschlossenen Hafen lagen. Die Ufer der Nordbucht waren ebenso dicht bewaldet wie die am südlichen Ankergrund, aber der Platz war länger und enger und mehr wie die Mündung eines Flüßchens, die es in der Tat auch war. Gerade vor uns, im südlichen Winkel der Bucht, sahen wir das im letzten Stadium des Verfalls befindliche Wrack eines Schiffes. Es mußte einmal ein großer, stolzer Dreimaster gewesen sein, aber so lange hatte es nun schon in Wind und Wetter gelegen, daß sein Rumpf mit einem dichten Gewebe von tropfendem Seegras überzogen war, während auf dem Verdeck allerlei Landbüsche wurzelten, die eben dicht mit Blumen bedeckt waren.

»Siehst du,« sagte Hands, »das hier ist ein hübsches Plätzchen, um ein Schiff auf den Strand zu setzen. Schöner, flacher Sand, niemals eine Katzenpfote voll Wind, Bäume ringsum und nebenan ein wahrer Blumengarten auf dem alten Wrack.«

»Und wenn es erst soweit ist,« fragte ich, »wie sollen wir das Schiff wieder frei bekommen?«

»Ganz einfach!« antwortete er, »bei Ebbe bringt man eine Jolle an Land, schlingt sie um einen Baum, bringt das Ende wieder an Bord, hievt es kurz am Gangspill und wartet auf die Flut. Beim höchsten Wasserstand hieven alle Mann am Gangspill und schon schwimmt der Kasten wieder wie eine Ente. – Und nun, Junge, steh klar! Wir sind beinahe an der Stelle und haben noch zu viel Fahrt. – Steuerbord ein wenig – so. – Stetig. – Steuerbord – stetig, stetig!«

So folgten seine Kommandos, die ich atemlos befolgte, bis er plötzlich ausrief: »Nun luff, Junge, luff! Ich drehte das Ruder hart über und die »Hispaniola« rannte geradewegs auf das bewaldete Ufer.

Die Aufregung des letzten Manövers hatte den scharfen Ausguck, mit dem ich bisher jede Bewegung des Bootsmanns verfolgte, etwas beeinträchtigt. Auch jetzt noch war ich so beschäftigt in Erwartung des Auflaufens des Schiffes, daß ich darüber alle drohenden Gefahren vergaß. Ich starrte über die Steuerbordwand und beobachtete die Wasserringe, die sich weit vor dem Bug ausdehnten, und wäre so wehrlos dem Verderben anheimgefallen, hätte mich nicht eine plötzliche Unruhe zum Aufsehen veranlaßt. Vielleicht hatte ich einen Schritt gehört, vielleicht hatte ich seinen Schatten gesehen mit einem Winkel meiner Augen, vielleicht war es nur eine Art Katzeninstinkt, der mich aufsehen machte, jedenfalls sah ich Hands, der schon halbwegs herangekommen war mit dem Dolch in der Hand.

Wir beide müssen laut aufgeschrien haben, als sich unsere Augen begegneten, ich vor Schrecken und er mit der dumpfen Wut eines angreifenden Stieres. Im selben Augenblick sprang er voraus und ich hüpfte zur Seite nach der Back. Ich verließ das Ruder, das scharf nach dem Lee sprang, und das rettete sehr wahrscheinlich mein Leben, denn es traf Hands mitten auf die Brust und warf ihn hin wie einen Toten.

Ehe er sich noch von dem Schlag erholen konnte, war ich entwischt aus der Ecke, in der er mich wie in einer Falle gefangen hatte und hatte nun das ganze Verdeck zum Davonlaufen. Gerade vor dem Großmast blieb ich stehen, zog eine Pistole aus der Tasche und zielte kaltblütig, obwohl er schon wieder gerade auf mich zu kam. Ich drückte auf den Hahn, der Hammer fiel, aber es folgte weder Feuer noch irgend ein Laut; das Seewasser hatte das Pulver verdorben. Ich verwünschte meine Nachlässigkeit. Warum hatte ich nicht schon längst das Pulver ersetzt? Ich brauchte dann nicht, wie jetzt, zu fliehen wie ein Schaf vor seinem Metzger.

Es war erstaunlich, wie schnell er sich bewegen konnte trotz seiner Verwundung. Sein angegrautes Haar fiel über sein Gesicht und dieses selbst war rot wie eine Signalflagge vor Hast und Wut. Ich hatte keine Zeit, meine zweite Pistole zu probieren, die übrigens wohl auch gebrauchsunfähig sein mochte. Das eine war klar: ich konnte die Flucht nicht ewig fortsetzen, ohne daß er mich schließlich irgendwo, wie vorher schon einmal, wieder im Bug gefangen halten würde, worauf dann zehn Zoll des blutigen Dolches meine letzte Erfahrung auf dieser Seite der Ewigkeit sein würde. Ich hielt die flachen Hände gegen den Großmast und wartete mit angespannten Nerven.

Sobald er sah, daß ich ihm ausweichen wollte, blieb er auch stehen, und so vergingen einige Augenblicke in fruchtlosem Hin und Her. Solches Spiel hatte ich zu Hause im »Admiral Benbow« schon oft gespielt, aber sicher noch nie mit einem so wilden Herzen. Immerhin war es ein Kinderspiel, in dem ich meinen »Mann« zu stehen hoffte gegen einen älteren Seemann mit einer verwundeten Hüfte.

Inzwischen lief die »Hispaniola« plötzlich auf und legte sich über nach Backbord, bis das Verdeck sich neigte in einem Winkel von etwa vierzig Grad und das Wasser in Strömen durch die Speigatten kam, wo es stand und stehen blieb wie ein Teich zwischen Verdeck und Bordwand. In demselben Augenblick kenterten wir beide und rollten zusammen in die Rinne, wo der rotmützige Bursche mit immer noch weit ausgestreckten Armen über uns fiel. Mein Kopf schlug gegen die Stiefel des Bootsmanns mit einer Gewalt, die mir die Zähne klappern machte. Trotzdem war ich wieder der erste auf den Füßen, da Hands sich nicht schnell genug von dem toten Körper freimachen konnte. Das plötzliche Überholen des Schiffes hatte das Verdeck unpassierbar gemacht und so mußte ich mir einen Weg zur Flucht ausdenken, denn Hands war direkt hinter mir. Mit Gedankenschnelle sprang ich auf die Parduhnen des Besanmastes und kletterte Hand über Hand hinauf bis zur Sahling.

Nur die Schnelligkeit hatte mich gerettet, denn der nachgeworfene Dolch stak kaum einen halben Fuß unter mir im Mast, und dort stand Israel Hands mit offenem Mund und erhobenem Kopf, die personifizierte Enttäuschung.

Jetzt, da ich einen Augenblick Ruhe hatte, lud ich von neuem meine Pistolen. Das verursachte eine wahre Bestürzung bei Hands. Sogleich sah er, daß das Spiel eine Wendung zu seinen Ungunsten nehmen wollte, und nach einem Augenblick des Zögerns stieg er selbst in die Parduhnen und fing an schwer und schmerzvoll aufzuentern mit dem Dolch in dem Mund. Das Nachziehen des verletzten Beines schien ihm unendliche Mühe und Schmerzen zu verursachen, und ich hatte meine Arbeit fertig, noch ehe er ein Drittel des Weges zurückgelegt hatte. Dann redete ich ihn an mit zwei erhobenen Pistolen:

»Einen Schritt weiter, Herr Hands, und ich schieße. – Die Toten beißen nicht,« fügte ich schmunzelnd hinzu.

Sogleich stand er still. Das Arbeiten seines Gesichtes verriet, daß er zu denken versuchte. Das dauerte eine Weile. Schließlich, nach mehrmaligem Schlucken, nahm er den Dolch aus dem Mund und fing an zu sprechen:

»Jim,« sagte er, »ich glaube wir beide sind in einer schlimmen Lage, ich und du. Wir werden einen Vertrag machen müssen. Ich hätte dich längst schon erwischt, wenn der Kasten nicht übergeholt hätte; aber ich habe kein Glück, ich nicht! So werde ich nun wohl meine Flagge streichen müssen, wenn es auch schwer fällt, da ich doch ein gelernter Seemann bin und du nur als Schiffsjunge gemustert hast, Jim.«

Noch trank ich seine Worte ein und lächelte dazu so stolz wie ein Hahn auf der Mauer, als plötzlich seine rechte Hand über seine Schulter fuhr. Etwas sang wie ein Pfeil durch die Luft. Ich fühlte einen Schlag und dann einen scharfen Schmerz, und schon war ich mit der Schulter am Maste festgenagelt. Zu gleicher Zeit gingen unwillkürlich und ohne eigentliches Zielen meine beiden Pistolen los und fielen mir aus der Hand. Sie fielen nicht allein. Mit einem unterdrückten Schrei ließ der Bootsmann seinen Griff an den Webeleinen fahren und stürzte kopfüber ins Wasser.


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