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Der erste Schlag

. Eine Art Freude überkam mich, als ich so glücklich den Nachstellungen des langen John entronnen war. Ich fing an mich zu amüsieren und schaute mich neugierig um in dem fremden Lande.

Ich kam durch eine sumpfige Landstrecke voller Weiden und seltsamen schwammigen, ausländischen Bäumen, und schließlich stand ich am Rande eines offenen sandigen Landes, auf dem da und dort vereinzelte Tannen und überall eine große Anzahl knorriger kleiner Bäume ähnlich unseren Eichen, aber mit blassen Blättern standen. Etwa eine Seemeile weiter am anderen Ende der Öffnung, stand einer der Hügel mit zwei grotesken, zerrissenen Felskuppen, die lebhaft in der Sonne blinkten.

Zum ersten Male in meinem Leben fühlte ich die Freude des Entdeckers. Die Insel war unbewohnt, meine Schiffskameraden hatte ich hinter mir gelassen, und vor mir war nichts Lebendiges, als dumme Tiere und Vögel. Übermütig spazierte ich umher zwischen den Bäumen. Hier und da sah man seltsame Pflanzen und schöne Blumen, die ich nicht kannte, hier und da begegnete man Schlangen. Eine von diesen schoß von einer Felsplatte auf und zischte mich an mit einem Lärm gleich dem Brummen eines Kreisels. Keine Ahnung hatte ich davon, daß es ein tödlicher Feind war, und daß der Lärm das Rasseln einer Klapperschlange war.

Dann kam ich vorbei an einem Dickicht von niedrigen immergrünen Lebenseichen, die dicht über den Sand hin wuchsen mit undurchdringlichem Blattwerk und seltsam verschlungenen Zweigen. Das Dickicht, das auf einer sandigen Anhöhe begann, erstreckte sich breiter werdend bis zum Rande einer breiten, schilfigen Vertiefung, durch welche der nächste der kleinen Flüßchen seinen Weg zu der Bucht hinunter arbeitete. Der Sumpf dampfte und die Umrisse des Fernglases zitterten in der heißen Sonne.

Mit einem Male fing es an lebendig zu werden im Busch; eine wilde Ente flog auf mit lautem »Quak, quak!«, gleich folgte eine andere, und bald war die ganze Oberfläche des Sumpfes bedeckt mit einer Wolke von flatternden, schreienden Vögeln. Bald hörte ich in der Ferne den dumpfen Ton menschlicher Stimmen, die ständig näher kamen.

Das jagte mir große Furcht ein. Ich verkroch mich unter dem Schutze der nächsten Lebenseiche und lag still und lauschend wie eine Maus.

Eine andere Stimme antwortete, und dann fuhr die erste, die ich als Silvers Stimme erkannte, wieder fort in einem Strom, der nur da und dort durch Bemerkungen des anderen unterbrochen wurde.

Der Klang ihrer Stimmen zeigte, daß sie ernsthaft und beinahe wütend miteinander verhandelten, aber zunächst war kein zusammenhängendes Wort zu verstehen.

Endlich machte der Redner eine Pause und schien sich gesetzt zu haben, denn sie kamen nicht näher, und die Vögel selbst schienen sich zu beruhigen.

Auf allen Vieren arbeitete ich mich langsam näher heran, bis ich sie durch eine Öffnung im Blattwerk in einem von Bäumen dicht umgebenen grünen Tale bemerkte, wo der lange John Silver und ein anderer Mann der Mannschaft einander gegenüber standen in eifriger Unterhaltung. Die Szene wurde grell beleuchtet von der Sonne. Silver hatte seinen Hut neben sich auf den Boden gelegt, und sein großes, glattes, helles Gesicht glänzte vor Hitze, während seine Augen den anderen beinahe flehentlich anschauten.

»Kamerad,« sagte er, »ich tue es nur deshalb, weil ich Goldstaub von dir denke – Goldstaub, das kannst du mir glauben! Meinst du, daß ich mich dazu hergegeben hätte, dich zu warnen, wenn es anders wäre, wenn ich nicht zu dir halten würde wie Pech und Schwefel? Alles ist ja schon erledigt – du kannst da auch nichts mehr daran ändern. Ich rede hier nur, um deinen Kopf zu retten, ganz nur in deinem Interesse und auf meine eigene Gefahr; denn wenn einer von den Tollhäuslern dort unten etwas davon erfahren würde, Tom – nun, sage du selbst, wo wäre ich dann?«

»Silver,« sagte der andere Mann mit einem roten Gesicht und einer Stimme, die heißer war wie die einer Krähe und zitterte wie ein steif geholtes Tau. »Silver, du bist ein alter Mann und du bist ehrlich, zum mindesten hält man dich dafür. Du hast auch Geld, und das ist mehr als man von den meisten Matrosen sagen kann; du bist auch tapfer, wenn ich mich nicht sehr irre. Und da willst du mir sagen, daß du dich verführen ließest von so einer Gesellschaft von traurigen Trotteln? So wahr Gott mich sieht, ich würde eher meine Hand verlieren, als daß ich untreu werde an meiner Pflicht –«

In diesem Augenblicke wurde er unterbrochen durch einen Aufschrei. Ich hatte hier einen der ehrlichen Leute gefunden – nun, in diesem Moment kam Nachricht von einem anderen. Von weit draußen aus dem Sumpf kam plötzlich ein Laut wie ein ärgerlicher Ruf, dann ein anderer, und dann ein schauerlicher, gellender, langgezogener Aufschrei, der in den Felsen des Fernglases ein wildes Echo weckte. Alle Vögel flogen mit einem Male wieder auf und verdunkelten den Himmel mit ihrem flatternden Aufruhr. Und gleich nach dem Todesschrei war die Stille wieder eingekehrt, und weit und breit war nichts mehr zu hören als das Rasseln der zurückkehrenden Vögel und das ferne Donnern der Brandung in der friedlichen Stille des heißen Nachmittags. Tom war aufgesprungen wie ein gehetztes Tier, aber Silver blieb völlig unberührt. Leicht auf seine Krücke gelehnt stand er noch immer auf derselben Stelle und beobachtete seinen Gefährten mit lauernder Miene wie eine Schlange, die sich zum Sprunge bereit hält.

»John!« sagte der Matrose, indem er ihm seine Hand hinstreckte.

»Hände weg!« rief Silver und sprang zurück.

»Hände weg, wenn es dir so paßt, John Silver,« sagte der andere. »Dein schwarzes Gewissen läßt sich von mir erschüttern. Aber um des Himmels willen sage mir, was war das?«

»Das?« wiederholte Silver mit einem verschlagenen Lächeln, das seine funkelnden Augen klein wie Stecknadelknöpfe machte. »Das? Oh, ich denke, das war Alan.« Da sprang der arme Tom auf wie ein Held.

»Alan!« rief er. »Friede seiner Seele als der eines braven Seemanns! Und was dich anbelangt, John Silver, – lange bist du mein Kamerad gewesen, aber du bist es nicht mehr. Wenn ich sterbe wie ein Hund, so falle ich mit meiner Pflicht. Du hast Alan umgebracht! So töte mich auch, wenn du kannst, aber wage es!«

Damit drehte ihm der tapfere Bursche den Rücken zu und ging zum Strande hinunter. Er sollte nicht weit kommen. Mit einem wilden Aufschrei erfaßte John einen Ast, zog die Krücke aus der Achselhöhle und sandte das ungeschlachte Wurfgeschoß wie einen Pfeil durch die Luft. Mit der Spitze zuerst traf es Tom mit solcher Gewalt genau zwischen die Schultern, daß er mit erhobenen Händen und einem dumpfen Seufzer rückwärts zu Boden fiel. Er hatte keine Zeit, sich zu erholen, denn ohne Bein und Krücke kam Silver, flink wie ein Affe herbei und stieß das Messer zweimal bis zum Heft in den wehrlosen Körper. Von meinem Versteck aus konnte ich hören, wie er laut aufschnaufte bei jedem Stoß.

Ich weiß nicht, wie einem eigentlich bei einer Ohnmacht zumute ist, aber so viel weiß ich, daß in den nächsten Minuten die ganze Welt wegschwand wie in einem treibenden Nebel. Silver und die Vögel, der hohe Fernglashügel gingen alle um und um vor meinen Augen, und in meinen Ohren klang es wie von vielen Glocken und fernen Stimmen.

Als ich wieder zu mir kam, hatte das Scheusal sich aufgerichtet, mit der Krücke unter dem Arm und dem Hut auf dem Kopfe. Vor ihm lag Tom regungslos auf dem Boden, aber der Mörder schien ihn gar nicht zu beachten, während er das blutige Messer mit einem Grasbüschel abwischte. Im übrigen war die Welt ganz wie zuvor. Die Sonne brannte noch immer erbarmungslos auf den dampfenden Sumpf und die hohe Bergspitze, und ich konnte es bei alledem noch kaum fassen, daß hier ein Mord begangen worden war.

Nun holte John eine Pfeife aus seiner Tasche und blies damit in verschiedenen Tonarten, die weit in die heiße Luft hinein schallten. Obwohl ich nichts von der Bedeutung dieses Signals verstand, erweckte es doch gleich meine Furcht. Mehr Menschen, so sagte ich mir, würden kommen und sicherlich würden sie mich entdecken, wenn ich hier bliebe. Sie hatten bereits zwei anständige Menschen erschlagen. Wer sagte mir, daß ich nicht der nächste sein würde nach Tom und Alan?

Sogleich begann ich mich aus meinem Versteck herauszuarbeiten und kroch zurück so schnell und lautlos wie ich nur konnte. Als ich in einem lichteren Teile des Gehölzes angekommen war, konnte ich deutlich die Rufe zwischen dem alten Seeräuber und seinen Kameraden hören, und das beflügelte noch mehr meine Schritte. Sobald ich aus dem Dickicht heraus war, rannte ich wie noch nie in meinem Leben, ohne auf die Richtung zu achten, solange sie mich nur wegführte von den Mördern; und im Laufen wuchs meine Angst mit jeder Minute, bis sie sich zu einer Art Ekstase steigerte.

In der Tat, konnte jemand mehr verloren sein wie ich? Wie konnte ich es wagen, bei dem verabredeten Kanonenschuß wieder zu den Booten zurückzugehen unter jene Teufel, auf denen noch das dritte Kainszeichen ihrer Verbrechen stand? Würde nicht der erste beste von ihnen mir den Hals umdrehen, sobald er meiner ansichtig würde? Würde nicht meine Abwesenheit allein für sie schon Grund genug sein zu Verdacht? Es war alles vorbei, dachte ich, ade »Hispaniola«, ade der Gutsherr, der Doktor, der Kapitän! Was stand mir noch Besseres bevor, als ein langsamer Hungertod oder ein grausames Ende durch die Hände der Meuterer?

Während diese Gedanken durch meinen Kopf gingen, lief ich noch immer weiter, ohne mich sehr um die Richtung zu kümmern, bis ich an den Fuß des kleinen Hügels mit den zwei Gipfeln kam, wo die Lebenseichen nicht so dicht wuchsen und mehr wie Waldbäume ausschauten. Zwischendurch sah man vereinzelte Tannen von 15 bis 20 Meter Höhe. Auch die Luft war frischer als unten neben dem Sumpfe. Aber gerade hier zeigte sich ein neuer Schrecken, der mich in vollem Laufe zum Stillstand brachte mit klopfendem Herzen.


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