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Jim Hawkins setzt die Erzählung fort: Die Garnison in der Stockade

. Sobald Ben Gunn die Flagge sah, hörte er auf zu laufen, faßte mich am Arm und setzte sich hin.

»Siehst du,« sagte er, »da sind ja deine Freunde.«

»Eher sind's die Meuterer,« antwortete ich.

»Das!« rief er. »Nein, in einem solchen Platze, wo niemand hinkommt als Glücksritter, würde Silver ganz gewiß nur die rote Piratenflagge hissen. – Nein, das hier sind deine Freunde. Schläge hat es inzwischen auch schon abgesetzt, und es sieht so aus, als ob deine Freunde als Sieger daraus hervorgegangen sind. Da sitzen sie nun in der alten Stockade, die Flint vor vielen Jahren gebaut hat. – Ah, Flint war der Mann für so etwas! Abgesehen vom Rumtrinken hat's ihm noch keiner gleichgetan. In seinem ganzen Leben hat er sich vor niemand gefürchtet, es sei denn vor Silver – ja, Silver war der Gentleman.«

»Das mag so oder so sein,« antwortete ich, »um so mehr Grund für mich, mich zu beeilen, daß ich zu meinen Freunden komme.«

»Nein, Kamerad,« antwortete Ben, »so geht es nicht. Du bist ein guter Junge, wenn ich mich nicht irre; aber du bist schließlich doch nur ein Junge. Ben Gunn aber ist klug und weise. Rum könnte ihn nicht dorthin bringen, bis er seinen geborenen Gentleman gesehen und sein Ehrenwort erhalten hat. Und du wirst auch nicht meine Worte vergessen: ›Ein sehr großes Stück (so wirst du sagen), ein sehr großes Stück mehr Vertrauen‹ – und dann wirst du ihm den Stoß geben.« Dabei stieß er mir zum drittenmal vertraulich in die Seite mit derselben verschmitzten Miene.

»Und wenn du Ben Gunn brauchst, so weißt du wo du ihn zu finden hast, Jim. Gerade dort, wo du ihn heute gefunden hast. Und er, der kommt, soll ein weißes Ding in der Hand tragen: und er soll allein kommen, oh! und du wirst dieses sagen: ›Ben Gunn,‹ wirst du sagen, ›Ben Gunn hat seine eigenen Gründe.‹«

»Gut,« sagte ich, »ich glaube ich habe dich verstanden. Du hast etwas vorzuschlagen und du möchtest deshalb den Gutsherrn oder den Doktor sprechen an der Stelle, wo ich dich gefunden habe. Weiter nichts?«

»Und zu welcher Zeit? wirst du fragen,« fügte er hinzu. »Nun etwa von der Mittagshöhe bis zu sechs Glas.« »Schön,« sagte ich, »kann ich nun gehen?«

»Und wirst du es auch nicht vergessen?« fragte er mit ängstlicher Miene. »Ein gutes Stück, und seine eigenen Gründe, seine eigenen Gründe, wirst du sagen. Seine eigenen Gründe, das ist das Backstag vom Ganzen; von Mann zu Mann. Gut also« – noch immer hielt er mich fest – »ich denke du kannst gehen, Jim. Und, Jim, wenn du Silver sehen solltest, so wirft du ihm nichts von Ben Gunn verraten? Wilde Pferde werden es aus dir nicht herausziehen können? Nein, sagst du? Und wenn diese gerade die Nacht am Lande zubringen sollten, was würdest du sagen, wenn am Morgen Geister aufstünden?«

Hier wurde er unterbrochen durch einen lauten Knall und eine Kanonenkugel, die durch die Bäume kam und keine hundert Meter vor uns den Sand aufwühlte. Im nächsten Augenblicke war jeder von uns nach einer anderen Richtung verschwunden.

Während einer vollen Stunde widerhallte die Insel von dem Kanonendonner und die Kugeln fuhren krachend durch das Gehölz. Es war mir, als ob sie mich verfolgten, und ich hüpfte von Versteck zu Versteck auf der Flucht vor den Schrecken erregenden Geschossen. Gegen Ende der Beschießung begann ich jedoch wieder Mut zu fassen, wenn ich auch immer noch nicht einen Vorstoß wagte in Richtung der Stockade, wo die Kugeln am dichtesten fielen. Ich machte deshalb einen langen Umweg gegen Osten und schlich mich heran zwischen den Uferbäumen.

Die Sonne war gerade untergegangen, die Seebrise rauschte und raunte in den Baumkronen und kräuselte die graue Oberfläche des Ankergrundes. Es war tiefste Ebbe und lange Sandbänke lagen bloß. Die Luft schien rauh und kalt nach der Hitze des Tages.

Die »Hispaniola« lag noch immer vor Anker an ihrem alten Platze, aber richtig, es war der »Jolly Roger«, die schwarze Piratenflagge, die an der Gaffel flatterte. Während ich noch hinsah, blitzte es von neuem rot auf, ein weiterer Schuß widerhallte auf der Insel und eine Kugel kam pfeifend durch die Luft. Es war der letzte der Kanonade.

Eine Weile lag ich stille und beobachtete das Treiben, das dem Angriff folgte. Einige Leute waren damit beschäftigt, mit großen Äxten ein am Strande neben der Stockade liegendes Boot zu zerstören. Etwas weiter weg, nahe der Mündung des Baches, brannte ein großes Feuer zwischen den Bäumen, und zwischen jenem Punkte und dem Schiffe glitt eines der Boote hin und her, dessen Mannschaft, die vorher noch so mürrisch gewesen war, ihre Ruderschläge mit lustigen Rufen begleitete. Etwas in dem Klang ihrer Stimmen ließ auf reichlich genossene Rumrationen schließen.

Endlich wagte ich es doch, nach der Stockade zurückzukehren. Ich befand mich ziemlich tief unten auf der niedrigen Sandbank, die die Bucht von Osten einschließt und bei Ebbe mit der Skelettinsel verbunden ist. Als ich aufstand, sah ich in einiger Entfernung zwischen den niedrigen Büschen einen alleinstehenden Felsen, der ziemlich hoch und von eigentümlich weißer Färbung war. Ich dachte mir gleich, daß das der weiße Felsen sein müßte, von dem Ben Gunn gesprochen hatte, und daß wir also ein Boot zu finden wüßten, wenn wir es gebrauchten.

Weiter schlich ich durch das Gehölz, bis ich die Rück- oder Landseile der Stockade erreicht hatte, wo ich herzlich empfangen wurde durch meine Freunde.

Nachdem ich meine Geschichte erzählt hatte, begann ich mich ein wenig umzusehen. Das ganze Blockhaus – Dach, Boden und Wände – bestand aus unbearbeiteten Baumstämmen. Der Boden war an einzelnen Stellen fast einen Meter hoch über dem Sande. Über der Tür war ein vorspringendes Dach, und unter diesem sprudelte eine kleine Quelle, die in einem großen eisernen Schiffskessel gefaßt war, dessen Boden man ausgeschlagen und in den Sand vergraben hatte.

Außer dem äußeren Rahmen war nicht viel mehr von dem Hause übrig, mit Ausnahme einer Steinplatte, die als Herd dienen sollte und einem alten rostigen Eisenkorb als Feuerbehälter.

Der kalte Abendwind, von dem ich eben schon gesprochen habe, pfiff durch jede Ritze des rohen Gebäudes und übersäte den Boden mit einem unaufhörlichen Regen von feinem Sand. Bald hatten wir Sand in den Augen, in den Zähnen, in unserem Nachtessen. Er tanzte in der Quelle auf dem Boden des Kessels wie eine Portion Hafermehl, die eben zu kochen anfängt. Nur ein kleiner Teil des Rauches in der Hütte fand seinen Ausweg durch das viereckige Loch, das die Stelle des Schornsteines versehen sollte. Der übrige kroch in der Hütte umher und beschäftigte uns mit Husten und mit dem Reiben der entzündeten Augen.

Gray, der neue Mann, trug eine große Binde über dem Gesicht, als Folge des Messerstiches, den ihm seine Flucht vor den Meuterern eingetragen hatte. Der arme alte Tom Redruth lag noch immer unbegraben neben der Wand.

Hätten wir Zeit dazu gehabt, so wären wir alle trübsinnig geworden über den traurigen Aussichten. Aber Kapitän Smollett war nicht der Mann, uns so etwas zu erlauben. Alle Mann wurden aufgerufen und in Wachen eingeteilt, wie es sich gehört an Bord eines guten Schiffes. Der Doktor, Gray und ich waren in der einen, der Gutsherr, Hunter und Joyce in der anderen. Müde wie wir waren, gab es doch keine Unterbrechung der Arbeit. Zwei Mann wurden ausgeschickt auf die Suche nach Brennholz, zwei weitere mußten das Grab für Redruth graben; Doktor Livesey wurde zum Koch ernannt, ich bekam eine Stellung als Wachtposten vor der Tür, während der Kapitän von einem zum anderen ging, uns Mut zusprach und tätig mithalf wo es eben nötig war. Von Zeit zu Zeit erschien der Doktor in der Tür, um ein wenig Luft zu schnappen und die Augen zu kühlen, die schon beinahe aus seinem Kopfe herausgeräuchert waren. Immer hatte er dabei ein Wort für mich.

»Dieser Smollett,« sagte er einmal, »ist ein besserer Mann als ich. Und wenn ich so etwas sage, so will das etwas heißen, Jim.«

Ein andermal kam er heraus und schaute eine Weile still vor sich hin. Dann sah er mich von der Seite an. »Ist dieser Ben Gunn ein Mann, auf den man sich verlassen kann?« fragte er.

»Ich weiß nicht, Herr,« antwortete ich. »Ich weiß nicht einmal recht, ob er ganz bei Sinnen ist.«

»Er muß es wohl sein,« erwiderte der Doktor. »Ein Mann, der drei Jahre lang seine Fingernägel gekaut hat auf einer einsamen Insel, kann nicht so normal erscheinen wie einer von uns. Das wäre nicht natürlich. – Also Käse hat er gewünscht?« »Ja Herr, Käse« antwortete ich.

»Siehst du, Jim,« sagte er, »das kommt davon, wenn man ein Feinschmecker ist. Du hast gewiß schon meine Schnupftabaksdose gesehen, nicht wahr? Und doch hast du mich niemals schnupfen gesehen. In dieser Dose habe ich nämlich ein Stück Parmesankäse – einen in Italien verfertigten sehr nahrhaften Käse. – Nun, ich will meinem Herzen einen Stoß geben, Ben Gunn soll ihn haben!«

Noch vor dem Nachtessen begruben wir den alten Tom im Sande und standen noch eine Weile um sein offenes Grab in der Abendbrise. Eine schöne Menge Brennholz war inzwischen hereingebracht worden, aber lange nicht genug für den Kapitän, der den Kopf schüttelte und uns sagte, daß wir morgen fleißiger sein müßten. Nachdem wir das Fleisch gegessen hatten und jeder ein steifes Glas Grog zu sich nahm, zogen sich unsere drei Herren zurück, um in einer stillen Ecke unsere Aussichten zu besprechen.

Es schien, als ob sie am Ende ihres Lateins waren, denn unsere Vorräte waren so gering, daß wir längst ausgehungert sein mußten, ehe irgendwelche Hilfe in Sicht kam. Unsere einzige Rettung bestand darin, daß wir so viele der Räuber erledigten, daß sie gezwungen waren ihre Flagge niederzuholen oder sich auf und davon zu machen mit der »Hispaniola«. Einen guten Anfang hatten wir da schon gemacht. Von ursprünglich neunzehn war ihre Zahl schon auf fünfzehn zusammengeschmolzen; zwei andere waren verwundet und wenigstens einer von ihnen – der Mann, der neben der Kanone getroffen wurde – schwer verwundet, wenn nicht gar tot. Wenn immer wir Gelegenheit haben sollten diese Zahl noch weiter zu vermindern, ohne dabei allzugroße Gefahr zu laufen für unser eigenes Leben, mußten wir es tun. Und wir hatten auch zwei tüchtige Verbündete: Rum und das Klima.

Was den ersteren anbelangt, so schien er schon recht fleißig an der Arbeit zu sein. Obwohl wir eine halbe Seemeile entfernt von ihnen waren, konnte man bis spät in die Nacht hinein ihr Brüllen und Singen hören. Und bezüglich des zweiten Punktes war der Doktor bereit, seine Perücke zu wetten, daß die Hälfte von ihnen auf dem Rücken liegen würde, noch ehe eine Woche vergangen wäre; denn sie kampierten mitten im Sumpfe und besaßen keinerlei Medizin.

»Wenn sie nicht alle zuerst totgeschossen werden,« fügte er hinzu, »werden sie froh sein, wenn sie wieder ungeschoren nach dem Schoner zurückkehren können. Denn es ist immerhin ein Schiff, und sie können damit wieder ihr altes Seeräuberhandwerk aufnehmen, dächte ich.«

»Es wäre das erste Schiff, das ich je verloren habe,« sagte der Kapitän.

Ich war natürlich todmüde nach all den Aufregungen, und als ich mich endlich niederlegte, fiel ich sogleich in tiefen Schlaf. Die andern waren schon lange auf, hatten bereits gefrühstückt und den Haufen Brennholz um das Doppelte vermehrt, als ich durch Lärm und Unruhe aufgeweckt wurde.

»Parlamentärsflagge,« rief eine Stimme; und gleich darauf mit einem Ruf des Erstaunens: »Silver selbst!«

Ich sprang auf von meinem Lager, rieb die Augen und rannte nach einer Schießscharte im Zaune.


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