Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Ende des Blinden

. Die Neugierde siegte indes über meine Furcht. Ich kletterte zurück auf die Uferbank, von wo ich hinter dem Schutz eines Busches das Stück der Straße vor unserer Tür übersehen konnte. Ich hatte mich kaum zurückgesetzt, als die Feinde schon ankamen. Sieben oder acht Mann rannten schnell über die Straße hinter dem Mann mit der Laterne, der einige Schritte vorausging. Drei Mann liefen Hand in Hand, und als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß der Mittlere der blinde Bettler war. Im nächsten Augenblicke hörte ich seine Stimme.

»Herunter mit dem Tor!« rief er.

»Jawohl, Herr!« antworteten zwei oder drei, und alle stürmten auf den »Admiral Benbow«, nur der Laternenträger blieb einige Schritte zurück. Dann konnte man sehen, wie sie plötzlich anhielten und mit halblauter Stimme sprachen, gerade so, als ob sie überrascht wären, die Türe offen zu finden. Aber es war nur eine Pause von wenigen Sekunden, die der Blinde mit seinen scharfen Kommandos unterbrach. Seine Stimme war laut und hoch, voll feurigem Eifer und brennender Wut.

»Hinein, noch einmal hinein!« rief er fluchend.

Vier oder fünf der Leute gehorchten sofort, während zwei auf der Straße blieben bei dem gefährlichen Bettler. Wieder erfolgte eine Pause, dann ein Ruf der Überraschung, und schließlich hörte man eine Stimme aus dem Hause:

»Bill ist tot!«

Aber der Blinde fing von neuem an zu fluchen über ihre Langsamkeit.

»Durchsucht ihn, einige von euch lahmen Landratten, und marsch hinauf mit den übrigen! Holt mir die Kiste!«

Ich hörte trampelnde Tritte auf der alten Treppe, die das Haus erzittern ließen und gleich darauf neue Ausrufe des Erstaunens. Das Fenster in des Kapitäns Zimmer wurde aufgemacht mit einem Stoß und dem Klingen von zerbrochenem Glas. Ein Mann schaute heraus ins Mondlicht und sprach mit dem blinden Bettler auf der Straße.

»Pew,« rief er, »sie sind schon hier gewesen. Irgend jemand hat die Kiste von unten nach oben durchwühlt.«

»Ist es dort?« brüllte Pew.

»Das Geld ist dort.«

Der Blinde fluchte noch mehr als zuvor.

»Zum Teufel mit dem Geld! Flint's Faust meine ich.«

»Wir können es hier nirgends sehen,« antwortete der Mann.

»Halloh, dort unten! ist es an Bill?« rief wieder der blinde Mann, worauf dann ein anderer Bursche in der Tür des Hauses erschien. »Bill ist schon überholt worden,« sagte er, »nichts übrig geblieben.«

»Es waren diese Wirtsleute – der Junge. Ich wollte ich hätte ihm die Augen ausgekratzt,« rief der Blinde. »Vor einer halben Stunde waren sie noch hier. Die Tür war verriegelt, als ich sie öffnen wollte. – Auseinander, Jungens! Vorwärts, findet sie!«

»Da haben sie doch ihren Glimmstengel hier gelassen,« sagte der Bursche am Fenster.

»Auseinander und findet sie! Durchsucht das Haus!« wiederholte Pew und stieß dabei ungeduldig auf die gefrorene Straße.

Es folgte nun eine wilde Hetzjagd durch alle Räume unseres alten Hauses. Schwere Füße stampften hin und her, Möbel wurden umgeworfen, Türen eingetreten mit einer Gewalt, daß es ein Echo weckte in den benachbarten Felsen. Nach und nach kamen sie wieder heraus und erklärten, daß sie nichts gefunden hätten. Und gerade jetzt vernahm man wieder, aber diesmal zweimal wiederholt, dasselbe Pfeifen, das uns schon erschreckt hatte, als wir über des Kapitäns Geld saßen. Damals hatte ich vermutet, es sei sozusagen des blinden Mannes Trompete, die seine Mannschaft zum Angriff rief, jetzt aber bemerkte ich, daß es ein Warnungssignal vom jenseitigen Hügel in der Nähe des Dorfes war.

»Da ist Dirk schon wieder,« sagte einer der Leute, »zweimal! es scheint mir höchste Zeit, daß wir uns drücken, Kameraden.«

»Drückt euch, ihr Drückeberger,« rief Pew. »Dirk war sein Leben lang ein Narr – wollt ihr euch von dem imponieren lassen? Sie müssen ganz in der Nähe sein; sie können nicht weit weg sein; ihr habt beinahe eure Hände darauf. Auseinander und sucht sie, Hunde! Oh, wenn ich Augen hätte!«

Diese Beschwörungen schienen einigen Eindruck zu machen, denn einige Burschen begannen hier und da unter dem Plunder zu suchen, wenn auch ohne festen Willen und mit einem halben Auge auf der Suche nach einem Ausweg, während der Rest unentschlossen auf der Straße stand.

»Ihr habt eure Hände auf Tausenden, ihr Narren, und da wollt ihr zögern! Reich wie Könige werdet ihr sein, wenn ihr es findet. Ihr wißt, daß es hier ist und dennoch steht ihr da und mault. Nicht einer von euch hat es gewagt, vor Bill's Augen zu treten, und ich hab's getan – ich, ein blinder Mann! Und nun soll ich um euretwillen die Gelegenheit verpassen! Ich soll noch weiter ein armer kriechender Bettler sein, der da und dort um ein Glas Rum schnorren muß, wenn ich in der Kutsche daherrollen könnte! Ihr könntet sie heute noch erwischen, sage ich euch, wenn ihr nur den Mut einer Made in einem Schiffszwieback aufbringen wolltet.«

»Zum Teufel, Pew, wir haben die Dublonen!« murrte einer von den Leuten.

»Vielleicht haben sie das Ding versteckt,« sagte ein anderer. »Nimm die Pfunde und stehe hier nicht wie eine Wetterbö.«

Aber Pew's Ärger stieg nur höher bei allen diesen Einwendungen, bis er sich zuletzt nicht mehr kannte vor Wut und blindlings um sich schlug mit seinem Stock. Die anderen schimpften wieder auf die blinde Mißgeburt und versuchten ihm den Stock aus der Hand zu winden.

So oder so war der Streit jedenfalls unsere Rettung, denn während er noch tobte, kam Pferdegetrappel vom Dorfe herüber, und fast zur selben Zeit vernahm man einen Revolverschuß aus einer Hecke. Dies war offenbar ein verabredetes Gefahrensignal, denn die Räuber wandten sich sofort zur Flucht nach allen Richtungen, die einen zur Bucht, die anderen über den Hügel, nur Pew blieb allein und verlassen in namenloser Aufregung auf der Straße und rief nach seinen Kameraden:

»Johnny, Dirk« und andere Namen, »ihr werdet doch den alten Pew nicht verlassen, Kameraden – den alten Pew!«

Gerade in diesem Augenblicke kamen die Pferde über die Anhöhe; Pew wandte sich zur Flucht mit einem gellenden Aufschrei und rollte dabei in den Graben. Sogleich war er wieder auf seinen Füßen, stürzte aber in seiner Verwirrung gerade unter die Hufe des nächsten Pferdes. Der Reiter versuchte vergeblich ihn zu retten. Pew fiel nieder mit einem Schrei, der laut in die Nacht hinaushallte; die vier Hufe gingen über ihn hinweg, er fiel zur Seite und bewegte sich nicht mehr.

Ich sprang auf und rief nach den Reitern, die erschreckt anhielten und voll Bestürzung über den Unglücksfall. Sogleich erkannte ich sie. Der eine, der etwas zurückgeblieben war, war ein Bursche, der von dem Dorf fortgeritten war, um Doktor Livesey zu holen, die andern waren Zollbeamte, die er auf dem Wege getroffen hatte und die gleich mit ihm hiehergekommen waren. Die Nachricht von der Anwesenheit eines Kutters in Kitts Loch war bis zu den Ohren des Inspektors Dance gedrungen und hatte ihn zu dem Ritt veranlaßt.

Pew war tot, mausetot. Was meine Mutter anbelangt, so war sie bald wieder hergestellt mit Hilfe von ein wenig kaltem Wasser. Der ausgestandene Schrecken hatte für sie weiter keine nachteiligen Folgen, obwohl sie noch immer den Verlust des Geldes beklagte.

Ich ging mit Herrn Dance zurück nach dem »Admiral Benbow«, der sich in einem fürchterlichen Zustande befand, obwohl nichts verschwunden war, als der Geldbeutel des Kapitäns und ein bißchen Silber aus der Theke. Herr Dance vermochte sich keinen Vers zu machen auf diese Szene.

»Sie fanden das Geld, nicht wahr, Hawkins; aber was zum Teufel wollten sie noch? Mehr Geld?«

»Nein, Herr,« antwortete ich. »Ich glaube, daß sie nicht darauf Jagd machten. Ich glaube sogar, daß ich das gesuchte Ding in meiner Tasche habe, und es wäre mir lieb, wenn ich es irgendwo in Sicherheit wüßte.«

»Wahrhaftig, Junge, da hast du recht,« sagte er. »Ich werde es an mich nehmen.« – »Ich dachte, vielleicht Doktor Livesey – « begann ich.

»Wirklich,« unterbrach er mich freundlich, »ganz recht – ein feiner Herr und ein Magistrat. Und weil ich gerade daran denke, so könnte ich selbst hinüberreisen und ihm und dem Gutsherrn die Sache berichten. Herr Pew ist tot; daran ist nichts mehr zu ändern, und ich könnte auch nicht gerade sagen, daß ich das bedaure, aber da er nun einmal auf diese Weise umgekommen ist, werden die Leute, wenn irgend möglich, versuchen, daraus einen Strick zu drehen für einen Beamten in Seiner Majestät Zolldienst. Weißt du was, Hawkins, ich werde dich mitnehmen, wenn du willst.«

Ich dankte ihm herzlich für das Angebot, und wir gingen nach dem Dorf, um die Pferde zu holen.

»Dogger,« sagte Herr Dance, »laßt den Jungen hinten aufsitzen.«

Sobald ich oben war und mich an Doggers Gürtel festhielt, gab der Inspektor das Kommando, und wir setzten uns in flottem Trab in Bewegung.


 << zurück weiter >>