Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXX   Schrei aus der Finsternis

Doktor Grätz hatte den Brief schon beiseite gelegt. Er wußte nichts damit anzufangen. Er konnte sich auch nicht an eine bestimmte Person Johanna erinnern. Diese Johanna, die den Brief unterzeichnet hatte nur mit diesem Vornamen, mußte aber vorausgesetzt haben, daß er sie kenne. Vor allem aber stieß er sich daran, daß das Schreiben aus dem Wuppertal kam. Und der Brief trug am Kopf den Vordruck: »Lager Osterloh/Wuppertal«. Es konnte sich wohl nur um ein Konzentrationslager handeln. Und sollte man ausgerechnet Leute von hier nach dorthin geschafft haben? Und Frauen noch dazu?

Er nahm den Brief noch einmal in die Hand und überprüfte Umschlag und Adresse. Das Kuvert paßte ganz und gar nicht zu dem Formular aus einem groben, gelblichen und mit Linien versehenen Papier. Der Umschlag war lichtblau und mit einem malvenfarbenen Seidenpapier gefüttert, roch auch ein wenig parfümiert. Und dann war die Adresse mit Tinte geschrieben und von einer ganz anderen Hand als derjenigen, die mit Kopierstift das Formular bekritzelt hatte. Und schließlich zeigte der Poststempel an, daß der Brief in Düsseldorf aufgegeben, also auf privatem und nicht auf amtlichem Wege aus dem Lager gegangen war.

Er las die Zeilen auf dem Formular noch einmal halblaut durch: »Seit Oktober bin ich nun schon hier und muß von früh bis spät am Waschfaß stehen oder an der Mangel. Die Aufseherin ist ein schrecklicher Drachen. Sie erzählt uns immerzu vom lieben Gott und schlägt uns mit einem Holzscheit. Wir sind über zwanzig Frauen hier, viele gesetzt, die meisten aber sind noch jung und haben in der Fabrik gearbeitet. Eine von uns war Lehrerin, und weil sie für die Rote Kinderhilfe tätig gewesen ist, dafür hat man ihr ein Auge ausgeschlagen, und hier heißt sie die Latrinen-Jule. Wenn der Kommandant aber kontrollieren kommt, dann nennt er sie eine alte Judensau, und sie muß sich 385 in den heißen Bottich setzen und singen: ›Haben Sie nicht den kleinen Kohn gesehn?‹ Manchmal werden auch welche von uns zum Verhör geholt, und wenn sie wiederkommen, schließt sie die Aufseherin in die Arrestzelle ein, oft acht Tage lang. Und wenn sie nachher wieder bei uns im Waschsaal sind und die eine oder andere sich den Rock hochhebt und den Hintern zeigt, dann ist er ganz schwarz und voller Blutkrusten. Aber sie müssen trotzdem am Waschfaß stehn, und wenn sie umfallen, dann kommt die alte Hexe mit dem Holzscheit und schreit: ›Die Männergedanken werde ich euch schon austreiben, ihr alten Schlampen! Nix weiter als Hurerei habt ihr im Kopf. Beten sollt ihr und arbeiten.‹ Und dann müssen wir alle hinknien und singen: ›Nun danket alle Gott‹ oder ›Liebster Jesu, wir sind hier‹. Von dem Essen bekommt man immer Bauchschmerzen, und meist sind auch schon Würmer in den Erbsen. Zwei Frauen, die eine aus Hannover und die andere aus Altona, sind schon verschwunden. Das läßt sich machen, wenn man sich nachts von den Soldaten zum Huren holen läßt. Die Soldaten haben sich einen Nachschlüssel zum Schlafsaal machen lassen. Bei mir ist das nicht mehr zu machen, was die Soldaten von uns wollen zu ihrem Vergnügen. Aber es ist ein anderer Mann da, der mich von hier fortschaffen könnte. Der will allerdings Geld haben, hier hat aber doch niemand Geld. Es kommt hier aber auch noch ein Bauer her. Mit dem könnte man reden, wie man mich hier herausholen kann. Der Bauer ist sehr freundlich zu mir. Ich habe es aber doch so satt, das elende Leben. Ich muß immer denken: Soll sich wirklich keine gute Seele finden bei Euch, weil ich doch so schrecklich habe aushalten müssen wegen der Äppelkarre. Es braucht niemand Angst zu haben. Der Brief geht über eine sichere Person. Laßt mich nicht solange warten. Es grüßt Euch Johanna.«

Doktor Grätz dachte hin und her, und er kam schließlich zu dem Entschluß, den Brief an Hillmann weiterzuleiten, vielleicht würde der aus dem ziemlich verworrenen Inhalt klug werden.

Er hatte den Brief noch in der Hand, als Anni aus der Stadt kam, von einem Besuch bei dem Schauspieler Otto im Sankt-Elisabeth-Krankenhaus. Und Doktor Grätz fragte: »Nun . . . was macht unser Freund? Besteht Hoffnung, daß er durchkommt?«

»Ich sprach den Professor; er meinte: ja.«

»Hast du Otto sehen dürfen?«

»Ja. Er lag aber unter Morphium, das Gesicht grün wie Galle. Zwei von den eingetretenen Rippen haben die Lunge durchbohrt. Acht 386 Rippenbrüche im ganzen. Scheußlich. Es sind Aufnahmen gemacht worden und an sicherer Stelle deponiert. Es war einfach nicht zum Aushalten, den armen Kerl anzusehn. Ich werde in der nächsten Woche aber noch einmal hingehn.«

»Sage mal, kanntest du hier in der Kolonie eine Johanna? Eine, die in Schutzhaft genommen wurde?«

»Nein . . . weggeschleppt haben sie eigentlich nur die Frau Butzky, und die heißt mit ihrem Vornamen Emilie, das weiß ich zufällig genau.«

»Dann lies doch bitte mal diesen Brief; er kam mit der Vormittagspost. Ich werde nicht klug daraus.«

Als Anni den Brief gelesen hatte und noch in der Hand hielt, sagte sie: »Ja . . . es muß wohl doch eine Frau von hier sein. Schauderhaft! Man wird etwas tun müssen. Hast du schon darüber nachgedacht?«

»Wenn ich nur einen Anhaltspunkt hätte!«

»Der scheint mir in dem Wort ›Äppelkarre‹ zu liegen. Es wird immerhin vorausgesetzt, daß du darum weißt. Halt, da fällt mir etwas ein. Wie hieß doch die Frau, die damals zugleich mit Etzien verhaftet wurde?«

»Darauf kann ich mich nicht mehr besinnen.«

»Ich habe es so in der Erinnerung, als wäre die Frau hier aus der Kolonie gewesen.«

»Das wird Hillmann genau wissen.«

»Frage doch mal erst bei Robert Steg an; Etzien ist ja da, der muß es doch am ehesten wissen, wie seine Partnerin hieß. Sei aber vorsichtig am Telefon.«

Doktor Grätz ging in das Nebenzimmer und ließ sich mit Rangsdorf verbinden. Es dauerte nur vier Minuten, bis er Anschluß bekam. Robert Steg wußte sofort Bescheid. Es handelte sich tatsächlich um jene Johanna, die mit Etzien zusammen verhaftet wurde. Robert Steg wollte Näheres erfahren. Doktor Grätz aber bat ihn zu warten, bis Anni wieder nach Rangsdorf käme.

Als er wieder das Wohnzimmer betrat, hatte sich Anni schon umgezogen. Der Brief lag auf der Kante des Sessels. Er nahm ihn wieder an sich und sah ihn noch einmal durch. »Du hattest recht, es handelt sich um jene Johanna, die mit Etzien illegal gearbeitet hat. Lag diese Frau aber nicht hier in einem Krankenhaus?«

»Gewiß, ich weiß es jetzt bestimmt. Kathleen hatte sie zuerst entdeckt und dann auch öfter besucht. Sie soll grauenhaft zugerichtet 387 gewesen sein. Und dann war sie eines Tages verschwunden. Wohin, das hat man damals nicht herausbekommen können.«

»Gut, ich werde mich sofort mit Hillmann in Verbindung setzen. Es muß etwas getan werden. Es scheint eine Möglichkeit zu bestehn, die Frau aus der Hölle herauszuholen.«

»Es wird wohl mehr ein Arbeitsdienstlager sein als eine Konzentrationshölle. Hast du übrigens auch die Rückseite gelesen?«

»Von diesem Brief, Anni? Nein.«

»Dann lies mal bitte.«

Doktor Grätz las: »Nicht Schinder und Menschenquäler, wie es die Greuellügen der Emigranten wissen wollen, sondern deutsche, soldatisch-harte Männer der braunen Sturm-Abteilungen, haben verführten Volksgenossen gegen ihren Willen, zum eigenen Besten, zur politischen Einkehr und zum Arbeits-Ethos zurückverholfen.

Die Lager-Sturmabteilung VII
gez. Kottsiefer
«

»Nun . . . das ist wohl kaum noch zu überbieten!«

»Man kann jetzt wirklich schon von einer Epidemie sprechen. Von einer Massen-Gehirnerkrankung. Aus einem normal funktionierenden Menschenverstand können solche Ausgeburten von Gemeinheit und Niedertracht wohl nicht gut herstammen.«

»Wenn du schon mit deiner Weisheit zu Ende bist . . .«

»Ich habe in den letzten fünfzehn Jahren vielleicht zweitausend Einzelfälle von Irrsinn in der Anstalt durchgearbeitet. Jede Verrücktheit hatte individuellen Charakter. Hier aber gleicht ein Fall dem anderen. Und da bleibt einem wirklich, vulgär ausgedrückt, die Spucke weg. Es gibt nur Parallelen bei dem sogenannten religiösen Wahnsinn.«

Als Hillmann den Brief von Doktor Grätz bekam, wollte er nicht recht heran, sofort eine Aktion zu unternehmen; er sträubte sich, von hier jemand nach dem Wuppertal zu schicken. Er hatte vielmehr vor, sich mit den dortigen Genossen in Verbindung zu setzen. Die würden eher eine Möglichkeit finden, an Johanna heranzukommen. Aber Leute von hier, ohne Lokalkenntnisse? Und dann die Reisekosten und was sonst noch alles dran hängt. Außerdem schien es ihm noch nicht ganz sicher, ob der Brief auch echt war. Am Ende steckte doch noch eine üble Schurkerei dahinter; um so mehr, als die Geheime Staatspolizei seit ein paar Wochen wieder an der Sache Etzien herumkaute. 388

Man hatte zuletzt die ganze Geschichte beim Schuster durchgesprochen, und ganz warm ist eigentlich keiner dabei geworden. Am Schluß aber sagte der Schuster: »Jeden können wir nicht aus dem Konzentrationslager herausholen und über die Grenze schaffen, das steht nun einmal fest und kann nicht zu unserem Schaden falsch ausgelegt werden, wir müßten denn Maschinengewehrbataillone und Minenwerfer-Kompagnien haben. Bei dieser Frau scheint es mir aber einfacher zu sein. Deshalb dürfen wir uns nicht drücken. Wenn die Geschichte Geld kostet, dann nehme ich sie auf meine Kappe. Ich habe da noch eine goldene Uhr aus meinen guten Zeiten, die kann man jetzt verkloppen. Wenn ich nur jemand wüßte, der erst mal an Ort und Stelle spionieren kann.«

Hillmann schlug darauf Kathleen vor, und der Schuster war damit auch einverstanden, nur wollte er nicht, daß auch noch der Argentiner mitfährt. »Der Junge geht mir gleich zu scharf vor und läßt sich womöglich noch auf Schießen ein. Nee, das Mädchen soll man alleine fahren.«

Es war ein glücklicher Zufall, daß Kathleen das Wuppertal kannte. Vor acht, neun Jahren war sie einmal dort gewesen zum Begräbnis ihrer Tante Felgenheuer. Und aus der Begräbnisreise war schließlich ein Erholungsaufenthalt von vier Wochen geworden. Tagtägliche Wanderungen durch die Waldungen und Täler, vom Ittertal bis in die Gegend von Hagen und Gummersbach. Fabriken, Felsenschluchten, Talsperren und altersmorsche Hammerschmieden, Schieferhäuser mit grünen Fensterläden, und von dem einen bis zum anderen Ende der langhingestreckten Zwillingsstädte Elberfeld-Barmen, heute mit Wuppertal bezeichnet, die Schwebebahn, vom Volksmund der braune Ringelpietz genannt. Rot das Proletariat und pietistisch-schwarz das Bürgertum. Auf den gebirgichten Höhen die Kleinbauern, oft noch in den alten westfälischen Blusen der Urväter, die schwarzseidene Ballonmütze auf dem Schädel. Und unten im Tal Bänder und Litzen, Gummischnüre und Schuhriemen, Knöpfe und Schnallen . . . das war die Industrie. Ein florentinischer Dreiröhrenbrunnen auf dem Schloßhof eines Großindustriellen, und auf einem Platz im Arbeiterviertel eine expressionistische Bronzefigur von Bernhard Hoetger. Das alles lebte in der Erinnerung von Kathleen wieder auf, als sie den Auftrag erhielt und sich bereit erklärte zu fahren.

Es wurde ausgemacht, daß sie sich zunächst einmal informieren sollte und dann den Versuch machen, Sprecherlaubnis mit Johanna zu 389 bekommen. Und nur, wenn eine Entführung aus dem Lager Aussicht hätte, hundertprozentig zu klappen, sollte sie telegraphisch Nachricht geben.

Kathleen erinnerte sich, daß eine Nichte ihrer verstorbenen Tante damals sehr nett zu ihr gewesen war, und mit der hatte sie auch die ausgedehnten Wanderungen gemacht. Inzwischen wird dieses Mädchen aber wohl geheiratet haben, und dann: Wo und wie wird man sie finden?

Es fiel ihr schließlich auch der Name ein: Augusta Sauerlandt. Die Straße, wo Augusta zu Hause gewesen war, wußte Kathleen nicht mehr dem Namen nach. An die Gegend konnte sie sich aber noch genau entsinnen. Es war ein Stück außerhalb von Elberfeld, auf dem Wege nach Kronenberg. Ein schmaler, steiniger Weg. Und in einem schmalen Tal ein paar altertümliche Häuser, mit Misthaufen und kleinen Kackhäuschen daneben. Über diese primitiven Häuschen hatte sie immer lachen müssen, wenn sie an die Wasserklosetts in Berlin dachte.

Es war acht Uhr in der Früh, als Kathleen in Elberfeld ankam und auf dem Döppersberg ausstieg. Sie hatte so gut wie gar kein Gepäck mitgenommen, einen kleinen Coupékoffer und die große Handtasche. Den Koffer ließ sie in der Gepäckaufbewahrung zurück und schlenderte in der Stadt umher, in einem ledergelben Regenmantel und einer blauen Baskenmütze. Sie sah aus wie ein schlaksiger Bursche, und sie bemerkte, daß sich in all den Jahren so gut wie nichts verändert hatte. Die gleichen Häuser noch, die alten Geschäfte und sogar die engen Straßen mit den hohen Steintreppen zu den höher gelegenen Stadtvierteln. Sie stieg eine von diesen Riesentreppen hinauf, 380 Stufen; als sie oben ankam, hatte sie das Herz in den Schläfen sitzen, und die Knie waren butterweich.

Bei Kremer, der bürgerlich vornehmen Konditorei, trank sie Kaffee und aß Spritzkuchen dazu und eine Burger Brezel. Sie ließ sich das Adreßbuch geben und fand darin auch einen Stadtplan. Den nahm sie sich zuerst vor und studierte ihn genau durch. Sie fand auch bald den Ostersiepen heraus, dieser stille Winkel existierte also noch. Und sie fand auf der Karte auch die Ortschaft Osterloh, zwischen Elberfeld und Ronsdorf, an der alten Chaussee.

Jetzt war sie schon ein bedeutendes Stück näher an die Sache herangerückt. Sie schlug im Adreßbuch die Seiten mit dem Buchstaben <S> auf und suchte unter Sauer . . . Sauerberg . . . Sauerkotten . . . Sauerwein . . . Sauerland . . . Sauerlandt. Davon gab es gleich ein ganzes Dutzend, in 390 der Bachstraße, Hofaue, Bökel, Nützenberg, Hatzenbeeck und Ostersiepen. Sie sah sich diesen Ostersiepen noch einmal auf der Karte an. Es war kein Zweifel mehr. Unter Ostersiepen Nummer vier stand verzeichnet: Abraham Elias Sauerlandt, Bandwirker. Dieser Mann wird sicher ein Verwandter von Augusta sein oder doch wenigstens von ihr wissen.

Es war mittlerweile zehn Uhr geworden, als sie sich auf den Weg machte. Eine halbe Stunde Spaziergang, weiter konnte es nicht sein. Eine elektrische Bahn fuhr nicht hin, das hatte man ihr schon in der Konditorei gesagt. Sie ging die Bahnstraße hinauf und dann die Steinbeeck. Auch hier hatte sich in all den Jahren nichts verändert. Es schien ihr so, als wäre sie vorgestern erst zum letzten Mal auf dieser Straße spazierengegangen. Damals aber, als Augusta Sauerlandt ihre Begleiterin war, liefen allerdings noch keine Braunhemden herum. Man stolperte auch jetzt noch nicht darüber, wie in Berlin zum Beispiel und München, in Essen und Hamburg. Es waren hier auf dieser engen, proletarischen Straße nur wenige zu sehen. Die roten, brutalkantigen Gesichter waren aber die gleichen wie überall, als stammten sie alle von einem Vater und von einer Mutter ab. Vielleicht auch bildete man sich das bloß ein, weil man nicht genau hinsah. Von einer Freude, die Burschen anzusehn, konnte man wohl nicht gut sprechen, hier und nirgendwo.

Hinter der Steinbeeck fing auch schon der Aufberg zur Kronenberger Chaussee an. Es mußte also gleich die Abbiegung nach dem Ostersiepen kommen. Kathleen hatte sich eine kleine Skizze gemacht. Sie verglich die Gegend, die sich hier auftat, mit der Aufzeichnung, und bog genau nach der Karte in die Kurve des Feldweges ein.

Es war noch kein Haus zu entdecken. Das Tal lag tief in einer Senkung der felsigen Wände. Am Ende der scharfen Kurve, wo auch der Weg wieder sich abwärts neigte, tauchten schwarzgraue Schieferhäuser unter Nußbaum, Esche und Roßkastanie auf.

Vor dem Haus Nummer 4 bückte sich eine ältere Frau über den Waschzober. Kathleen machte keine langen Umschweife und fragte nach Abraham Elias Sauerlandt.

»Der ist liefern gegangen; vor zwei wird er nicht zurück sein.«

»Ist vielleicht Frau Sauerlandt im Hause?«

»Die bin ich. Kommen Sie von der Gemeinde?«

»Ich komme von Berlin, Frau Sauerlandt.«

»Lebt denn dieser Hitler immer noch?« 391

»Ja . . . er hält immer noch die geschwollenen Reden. Also muß er wohl auch noch am Leben sein.«

»Kann man ihn denn nicht in den Keller stecken?«

»Das möchten wir alle. Und nicht nur in den Keller, besser gleich in die Schlinge. Aber . . . was ich fragen wollte: Sind Sie vielleicht mit der Augusta Sauerlandt verwandt? Sie müßte hier gewohnt haben, ich meine in dieser Gegend, wenn nicht gar in diesem Haus. Ich entsinne mich jetzt allerdings, daß damals zwei hohe Bäume vor der Tür standen.«

»Ja . . . die Augusta . . . die war weiter oben zu Hause, Nummer neun.«

»Sie sind also nicht verwandt mit ihr? Vielleicht wissen Sie aber, wohin sie von hier verzogen ist?«

»Verzogen nicht, fortgeheiratet. Nach Wermelskirchen.«

»Ist das weit von hier?«

»Vom Döppersberg mit der Bahn gute zwei Stunden. Mit dem Autobus über Kronenberg-Remscheid eine Stunde.«

»Das ist ein bißchen weit für mich heute. Schade, wir sind nämlich verwandt, die Augusta und ich.«

»Na, denn gehn Sie doch mal zu der Schwester mit ran, die wohnt noch Nummer neun.«

»Wie heißt diese Schwester eigentlich? Ich wußte gar nicht, daß Augusta noch eine Schwester hat.«

»Mit dem Vornamen heißt sie Bertha. Ihr Mann heißt Heinrich Mittelsten Scheidt.«

»Nummer neun, das ist wohl das letzte Haus vom Ostersiepen?«

»Das letzte nicht, und Sie sehen es auch noch nicht von hier.«

»Haben Sie schönen Dank für die Auskunft, Frau Sauerlandt.«

»Das ist gern geschehn. Also dann bis nachher.«

Als Kathleen endlich das Haus Nummer neun vor sich hätte, kam es ihr auch schon so bekannt vor, als hätte sie gestern noch darin gewohnt. Und Bertha glich der Schwester zum Verwechseln. Wenigstens so, wie Kathleen die Augusta noch in der Erinnerung hatte. Bertha war aber sechs Jahre jünger, eben erst zweiundzwanzig geworden und schon drei Jahre verheiratet.

Sie saß an der Spulmaschine, als Kathleen eintrat und sich entschuldigte, daß sie eigentlich der Augusta einen Besuch hatte machen wollen.

»Vielleicht kommt Augusta am Sonntag herüber. Aber ich kann mich auch noch entsinnen, daß Sie hier einmal zu Besuch waren. Ich bin damals noch zur Schule gegangen.« Sie stellte jetzt die Maschine 392 ab, holte einen strohgeflochtenen Stuhl heran und schob ihn Kathleen hin. Und als das Kind in der Kammer nebenan schrie, trug sie es heraus, setzte sich in die Fensternische und gab ihm die Brust. Sie hatte das Mieder so weit aufgeknöpft, daß auch noch die andere Titte herausrutschte. Schöngewölbte, feste und fleischige Brüste hatte diese junge Frau. Kathleen dachte mit Schrecken an die Mückenstiche, wie der Argentiner das nannte, was bei ihr die Brust ausmachte.

Bertha nährte das Kind mit einer heiligen Andacht. Im Hintergrund am Fenster die Fuchsien, blaublühender Efeu und die feuerroten Geranien in einem fetten, hellen Grün. Und davor dieser weißblonde, dick behaarte Frauenkopf, lange Wimpern, die schwere Schatten auf das weiße, von feinen blauen Adern marmorierte Gesicht warfen. Fast hätte man sagen können: eine aus dem Rahmen herausgestiegene Cranachsche Madonna. Eine bäuerlich-proletarische, eine üppig-blühende Frau!

Kathleen war eine ganze Weile irritiert. Sie kam aus einer viel flacheren, nervöseren Welt. Hier war alles Ruhe und Helldunkel, in einer schweren, scharfriechenden Luft. Man könnte beinahe meinen: rundherum satte Bauern, aus der friesischen, aus der flämischen Landschaft. Und doch waren es Arbeiterfamilien, von allen Schwankungen der Konjunktur auf den Weltmärkten dauernd beharkt. Flotte Zeiten und tote Zeiten in einem unberechenbaren Wechsel.

Kathleen erzählte nicht gleich, was sie hier in Elberfeld eigentlich wollte. Aber sie fragte Bertha, die das Kind wieder in die Kammer zurückgebracht hatte, wo man hier für ein paar Tage wohnen könne. In ein Hotel mochte sie nicht gern. Damals, mit der Mutter, hätten sie in einer kleinen Gastwirtschaft neben dem Hotel zur Post gewohnt.

»Wenn Sie in einem Hotel oder im Christlichen Vereinshaus nicht wohnen wollen, und es wird wohl auch zu teuer sein, und wenn es Ihnen nichts weiter ausmacht, dann können Sie ja oben bei uns in der Mansarde schlafen. Mutter, die sonst oben wohnt, ist für ein paar Wochen nach Waldbroel zu meinem Bruder gefahren. Jeder von uns füttert die alte Frau so durch, mal der Bruder, mal Augusta und mal ich. Die Männer verdienen heute ja nicht viel. Und der meine schon gar nichts.«

»Überall die gleiche Arbeitslosigkeit, wohin man kommt. Ich bin auch zwei Jahre hintereinander ohne Arbeit gewesen. Und in dem Haus, wo ich wohne, leben alle Männer von der Wohlfahrt. Dabei brüllt der Hitler in die Welt hinaus, er habe in Deutschland die marxistische 393 Seuche der Arbeitslosigkeit beseitigt. Gewiß, im Kohlenpott, da stinkt es nach Arbeit. Da rauchen die Schornsteine. Da stehn die Rangierbahnhöfe voll mit Kohlen, Schienen, Eisenträgern und Maschinenteilen. Da ist der Himmel rot, als ob es ringsum brenne. Ich bin nämlich über Essen gefahren, habe den kleinen Umweg gern gemacht. Die halbe Nacht bin ich vom Eisenbahnfenster nicht weggekommen. Auf der ganzen Strecke, von Hamm an, sah man Hochbetrieb. Es sieht nach Krieg aus. In der großen Schmiede an der Ruhr werden die Kanonen, die Tanks, die Panzerzüge und Granaten mit Hochdruck hergestellt. Deutschland ist entwaffnet, schrie der Hitler noch vor einem halben Jahr. Deutschland ist nie entwaffnet gewesen. Deutschland rüstet auf. Drei Millionen Menschen, die arbeitslos waren, haben ihr Brot in der Rüstungsindustrie gefunden und verdampfen jetzt ihren Schweiß zu dem Giftgas, darin sie bald ersticken werden. Eine grauenhaft verkehrte Welt!«

»Das sagt man hier auch. Die Schlotbarone halten den Hitler, weil er ihnen die Schornsteine rauchen macht. Aber in der Litzen- und Band-Industrie . . . da gibt es keine Wiederaufrüstung. Seit fünf, sechs Jahren ist hier die Arbeit immer magerer geworden. Mal hatte man vier Wochen lang etwas für den Bandstuhl, und dann wieder sechs, acht Wochen nichts.«

»Ihr Mann arbeitet in der Bandfabrik?«

»In der Fabrik direkt nicht. Wir haben einen eigenen Stuhl, im Shed, bei meinem Schwager. Es ist schon ein Glück, daß er bezahlt ist.«

»Wird Ihr Mann damit einverstanden sein, daß ich für ein paar Tage hier wohne? Ich möchte schon gern. Es gefällt mir hier. Man merkt nämlich nur wenig von dem, was sonst in Deutschland passiert. In Berlin ist das alles ganz anders. Da lebt man Tag und Nacht wie in einer Zange. Und dann der ewige Spektakel auf den Straßen.

»Wir merken hier gerade genug von der Pest, die sich in alle Häuser und Familien hineinfrißt. Fragen Sie bloß einmal hier bei den Nachbarn herum, und fragen Sie nach August Puppe. Bloß hier im Ostersiepen, Sie brauchen erst gar nicht nach dem Petroleumviertel zu gehn.«

»August Puppe . . . wer ist denn das?«

»Wer das ist? Der Totschläger von Elberfeld!«

»Ein Schwarzer?«

»Und was für einer! Der müßte seine ganze Uniform von oben bis unten mit Totenköpfen vollkleben haben, nicht bloß den einen an der Mütze. Denn wenn der nicht mindestens hundert von unseren Leuten 394 auf dem Gewissen hat, will ich nicht Bertha heißen. Dieser Pferdemetzger regiert hier. Der hat die Macht. Vor dem krauchen sie alle ins Mauseloch, sogar der Oberbürgermeister. Und solch ein Vieh jagt unsere Leute Tag und Nacht durcheinander. Und wenn er einen zu fassen kriegt, der ist erledigt, den muß man mit der Laterne suchen gehn. Manche Frauen haben immerhin noch Glück gehabt und fanden ihre Männer in der Wupper, in der Talsperre oder eingescharrt, oben im Mirker Wald oder auf der Königshöhe.«

»Sie haben doch nicht etwa auch Malheur gehabt mit Ihrem Mann? Es kribbelt mir nämlich schon im Blut.«

»Neun Wochen schon ist er fort. Tagelang haben wir die ganze Gegend abgesucht. Mindestens zehn von unseren Leuten waren unterwegs. Bis schließlich eine Karte von ihm kam. Und da schrieb er, daß er in Lüttringhausen säße, in Einzelhaft, wir möchten ihm etwas schicken, er hätte schrecklichen Hunger. Vier Pakete haben wir schon abgeschickt. Ob sie aber in seine Hände gekommen sind, das wissen wir nicht. Besuche sind nicht erlaubt. Und geschrieben hat er seitdem auch nicht mehr. Man muß eben abwarten.«

»War Ihr Mann in der Partei tätig? Vielleicht sogar Funktionär?«

»Der ist sozusagen aufgewachsen in der Partei. Und zuletzt: Heimlich organisiert sind sie wohl alle gewesen. Gefaßt haben sie ihn, als er in der Schwebebahn die ›Rote Fahne‹ verkauft hat.«

»Dann können wir uns ja auch ruhig aussprechen. Ich arbeite nämlich auch illegal.«

»Das habe ich gleich gewußt, als Sie den Fuß über die Schwelle gesetzt hatten.«

»Woran wollen Sie das gesehn haben? Das interessiert mich.«

»Man kennt doch seine Leute! Und man kennt auch die Hurenmenscher, die mit den Braunen oder Schwarzen gehn und für die Totschläger arbeiten.«

»Das wird schwer festzustellen sein, besonders, wenn jemand spionieren will, wohin er gehört. Ich bin schon ein paarmal als Mann herumgelaufen, in brauner Uniform.«

»Ich sage Ihnen, ob einer in seinen Gedanken braun angestrichen ist, das riecht man sieben Meilen gegen den Wind.«

»Was meinen Sie, soll ich jetzt den Koffer von der Bahn holen oder erst heute abend?«

»Warten Sie bis heute abend, dann gehe ich mit Ihnen.«

»Wird das nicht auffallen?« 395

»Wir halten hier alle zusammen. Einer warnt den anderen. Meinen Mann hätte der August Puppe gewiß nicht geschnappt, wäre er mit seinen Flugblättern und Zeitungen in die Fabriken gegangen.«

»Wissen Sie, ich halte es doch für richtiger, wenn ich alleine geh.«

»Dann nehmen Sie sich am Bahnhof aber ein Auto und fahren damit bis zur Wirtschaft von August Siepermann. Von dort hole ich Sie dann ab. Im Dunkeln nämlich ist der Weg hier nicht so einfach für einen Ortsfremden.«

»Schön, dann werden wir das so machen.«

»Und nun setzen Sie sich mal ans Fenster und sehen Sie sich die Gegend an. Ich werde unterdessen das Mittagessen machen. Braten gibt es allerdings nicht. Aber Panhas, das kennen Sie wahrscheinlich nicht. Wir essen es tagaus, tagein, diese Kost ist billig und stopft den Bauch. Manche Leute, die können sich auch das nicht einmal mehr leisten. Dafür sorgt schon der August Puppe. Wer nicht zu schnappen ist, der wird einfach ausgehungert.«

Kathleen mußte sich zwingen, nicht zu lachen. Dieses Geradeheraus der jungen Frau, die Dinge ohne schamhafte Umschreibung bei ihrem richtigen Namen genannt und dann der Dialekt . . . darüber vergaß man leicht die Bitterkeit, die aus jedem Wort sprach. Diese Frau: welch ein Gegensatz zu der nervösen, oft schon hysterischen Zerlassenheit der Frauen in der Großstadt!

Kathleen sah auf das schmale, von einem Wassergraben halbierte Tal hinaus. Auf den ansteigenden Grasflächen spannten sich große und kleine Wäschestücke und fingen die bleichende Sonne auf. In dem oberen, buschigen Teil des Tales kletterten Ziegen herum mit Glockengeschell. Und noch höher schimmerte der Buchenwald in einem patinagrünen, mattglänzenden Laub. Durch die oberen, offenen Fensterflügel strömte eine schwere, von holzigen Gerüchen getränkte Luft, die sich auf die Brust legte und das Atmen tiefer und ruhiger machte. Und vielleicht auch mit diesen erdigen Säften die Menschen schwerer beweglich und härter.

Kathleen betastete mit ihren großen neugierigen Augen, mit den vibrierenden Flügeln der schmalen Nase alles, was ihr neu und oft rätselhaft vorkam: Das in vielen Krümmungen hüpfende Wasser, das dunkle Grün der Wiese, das Flimmerspiel der Sonnenlichter im nahen Birnbaum, den Geruch der Violen und Reseden, der Zwiebeln und Küchenkräuter: Thymian, Lauch, Petersilie und Bohnenkraut aus den kleinen Gärten hinter den Häusern. 396

Dann kam das Essen, der Panhas und die roh in Fett geschmorten Kartoffeln, stark mit Zwiebeln und Estragon, mit Dill und Sellerie gewürzt. Es schmeckte Kathleen, die Augen liefen ihr über, und sie wunderte sich, mit welchem Appetit die junge Frau Mengen hineinschob in den Mund; wunderte sich über die großen weißen Zähne und über diese vollen fruchtroten, von Fett glänzenden Lippen. Und dazu immer wieder mußte sie die langen, dunklen Wimpern anschauen. Ein urgesundes Menschentier, etwas, das man anpacken konnte, von allen Seiten fest und kräftig. Manchmal verspürte Kathleen direkt einen Schauer durch das Blut rieseln, eine männliche Gier nach dieser Frau.

Nach dem Essen und Aufwaschen setzte Bertha sich wieder an die Spulmaschine, und Kathleen machte es sich in einem alten, abgeschabten und schon rostroten Sessel bequem. »Die illegale Arbeit geht also, trotz August Puppe, voran?« nahm Kathleen wieder das alte, bei der Mahlzeit unterbrochene Gespräch auf.

»In den Fabriken sind die Leute fast alle wieder organisiert. Wir haben unsere Zeitung, wir haben manchmal sogar unser Radio. Und für die Frauen, deren Männer der Puppe beiseite geschafft hat, wird gesorgt. Viel bleibt ja nicht hängen an diesen Spulen. Aber wenn man bei der einen Firma keine Arbeit mehr hat: nach ein paar Tagen bekommt man eine andere zugewiesen. Dafür sorgen unsere Leute.«

»In welchem Verhältnis zu den Nazis stehn eigentlich die vielen christlichen Sekten hier?«

»Mit den ganz Feinen haben die Nazis so ziemlich aufgeräumt. Baptisten, Apostolische, Bibelforscher, Evangelisten und wie sie sonst noch alle heißen . . . die gibt es nicht mehr. Das bißchen Geld, das diese Gemeinden hatten, ist ihnen genommen worden, und die Bethäuser hat man geschlossen, weil man sagte, es würden dort staatsfeindliche Handlungen vorgenommen. Es sind bloß die beiden lutherischen Konfessionen und die reformierte Gemeinde geblieben.«

»Und die läßt man in Ruhe?«

»Ja . . . da geht der August Puppe so leicht nicht ran. Man weiß zwar nicht recht, warum mit denen eine Ausnahme gemacht wird. Sie dürfen in der Kirche sogar gegen Hitler sein. Und auf den schimpfen die Pfarrer ja auch mit Vorliebe. Jeden Sonntag, vormittag und nachmittag, sind die Kirchen knüppeldick voll. Oft gehn sogar unsere Leute rein und hören sich das Wettern an und verteilen nachher Flugblätter an die Frommen.«

»Aus welchen Schichten stammen hier die Nazis?« 397

»Gott ja, in der Hauptsache sind es junge Bengels, Söhne von den Fabrikanten und Handwerksmeistern. Und dann Kommis, die waren ja schon immer deutschnational organisiert und gegen die Arbeiter eingestellt. Von den Proleten hat natürlich auch eine ganze Menge das braune Hemd angezogen; die meisten unter Druck. Zum Beispiel die von Bemberg, Schniewind und Frohwein. Alles große Firmen. Die Direktoren laufen, alle durch die Bank, in den schwarzen Totenkopf-Uniformen herum, Obernazis. Vor denen hat der August Puppe natürlich einen Höllenrespekt und muß sich auch das Deckeln von ihnen gefallen lassen. Aber sonst . . . heute läuft niemand mehr freiwillig zu den Braunen über. Der erste Schrecken ist vorbei. Und die meisten von denen, die immer noch braun sind, die tun das bloß nach außen hin.«

»Nun lachen Sie aber nicht, wenn ich noch etwas frage; das gehört aber dazu.«

»Weshalb soll ich lachen? Weil Sie so viel wissen wollen? Wir reden über den ganzen Mist nicht mehr viel. Und weinen kann man auch nicht mehr. Die Augen sind uns längst trockengelegt.«

»Ich wollte nämlich fragen: Haben Sie eine Wut auf Ihren Mann, weil er illegal gearbeitet und Sie nun allein gelassen hat, ohne Geld und mit dem Kind? Es gibt nämlich Frauen, die sind rabiat geworden, hauptsächlich gegen uns, weil wir die Schuld hätten, daß das Elend in den Häusern noch größer geworden ist. Ich arbeite ja hauptsächlich unter Frauen und muß manches dabei einstecken. Deshalb interessiert es mich, wie die Frauen hier über die illegale Arbeit denken.«

»Wut auf den Mann, weil er hochgegangen ist . . .? Nix zu machen! Wut haben wir bloß auf den August Puppe. Und wenn die Männer draufgehauen hätten, damals, als es noch Zeit war, würden wir mitgeholfen haben. Das Elend wollen wir schon tragen, denn es muß ja auch einmal ein Ende haben. Ich denke, lange kann diese Betrügerbande es nicht mehr machen. Man gewöhnt sich mit der Zeit an manchen Gestank, an diesen aber nicht, der stinkt mit jedem Tag gemeiner.«

»Das Ende wird schneller kommen, als wir es uns denken.«

»Man hat sich an das Aushalten ja auch schon so gewöhnt. Und das Fell wird einem immer dicker.«

»Hat man hier auch Frauen eingebunkert oder gar beiseite geschafft?«

»Na und ob! Da gibt es bei August Puppe keinen Unterschied. Im Gegenteil. Wenn die Braunen eine Frau geschnappt haben, dann ist am nächsten Tag der halbe Sturm vom Puppe immer noch besoffen. 398 Manchmal haben zehn, zwölf Kerle so ein armes Frauenmensch erst vergewaltigt, und dann sind sie ihr auf dem Leib herumgetrampelt. Und zuletzt haben sie den Fleischklumpen auch noch vollgeschissen und ihn dann ins Wasser geworfen. Nebenan gleich, in Nummer acht, die Frau Sengesbach, die hat es aushalten müssen. Sie war von den Ratten noch nicht angefressen, als die Männer sie nachts bei Vohwinkel aus der Wupper zogen. Und der Arzt, der die Leichenöffnung vorgenommen hat, der ist heute fertig für das Dollhaus. Das Protokoll und die Bilder von der Leichenschau haben die Leute nach Holland geschickt, wo man sie an sicherer Stelle aufbewahrt.«

»Hören Sie, Bertha . . . wegen einer Frau, einer Freundin von mir, der es ähnlich ergangen ist, bloß sie kam noch mit dem Leben davon, bin ich eigentlich hier.«

»Liegt sie denn hier im Krankenhaus?«

»Im Konzentrationslager.«

»Wir haben hier aber doch keins. In Schwelm, eine Bahnstunde von hier, wo das große Lager ist, sind nur Männer.«

»Was ist denn mit Osterloh?«

»Das ist ein Übungslager. Dort werden die Nazis für den Krieg ausgebildet. Gasübungen, Handgranatenwerfen, Schießen, Unterständebauen und was sonst noch alles dazu gehört. An die tausend Mann sind dort immer untergebracht. Das Lager ist gar nicht so weit von hier, eine gute halbe Stunde zu Fuß.«

»Frauen sind also nicht dort?«

»In der Lagerwäscherei sollen welche beschäftigt sein.«

»In der Wäscherei für die Nazi-Soldaten?«

»Zum Waschen und Kochen für diese fiesen Kerls, ja. Und wenn die Frauen jung sind und zu schmusen verstehn, dann müssen sie wohl auch in die Betten. So sagt man hier. Ich weiß es aber nicht.«

»Ob man dort wohl Sprecherlaubnis erhält?«

»Ich denke, die wird man schon bekommen. Genau weiß ich es aber nicht.«

»Es sind wohl keine hiesigen Frauen in dem Lager?«

»Das wird die braune Bande gewiß nicht riskieren. Dann kann es nämlich doch passieren, daß unsere Männer sie eines Nachts herausholen. Die Polizeiwache im Petroleumviertel ist von unseren Leuten schon zweimal gestürmt worden. Und jedesmal hat es Tote auf beiden Seiten gegeben.«

Kathleen brach jetzt das weitere Fragen nach dem Lager Osterloh 399 ab. Und Bertha fragte auch nicht weiter, wer diese Frau eigentlich sei und weshalb Kathleen die lange Reise gemacht habe. Es war mittlerweile dunkel geworden, das Kind schrie in der Kammer nach der Mutter, und Kathleen machte sich auf den Weg zum Bahnhof, den Koffer zu holen.

Sie war beinahe ausgelassen froh über das Glück, das sie bis jetzt gehabt hatte. Bertha gefiel ihr. Die ganze Atmosphäre in dem engen Tal Ostersiepen sagte ihr zu. Sie nahm die Kappe ab und ließ den Wind über das Haar hinstreichen. Das Ausschreiten auf dem holprigen Weg jagte das Blut schneller durch die Adern. Das Herz saß ihr oben im Hals, das Klopfen war eins geworden mit dem Takt der Schritte.

Am Bahnhof, es lief gerade ein Arbeiterzug aus Düsseldorf ein, ging sie erst noch eine Weile auf und ab und stellte sich dann an den Zeitungskiosk und studierte den braunen Mist. Ein junger Mann trat auf sie zu, drückte ihr den Generalanzeiger in die Hand und sagte: »Heute zwanzig Pfennige!«

Sie nahm die Zeitung und reichte ihm die zwei Groschenstücke.

Der junge Mann sagte nicht Dankeschön. Aber, mit einer gewissen Betonung: »Vorsicht! Einlage!«

So etwas hatte sie schon geahnt und ging mit der Zeitung auf die Toilette. Im Anzeigenteil steckte ein vierseitiges Blatt in Lexikon-Format. Es war der in ganz Deutschland verbreitete »Rote Aufruf«. Sie kannte diese Nummer längst. Aber sie las noch einmal die Überschrift: »Die Winterhilfe dient der Wiederaufrüstung!«

Einen Augenblick dachte sie daran, Bertha das Blatt mitzunehmen, dann aber zerknitterte sie es doch und warf es ins Klosett. Den Generalanzeiger klemmte sie sich unter den Arm. Als sie den Handkoffer ausgelöst hatte, traten zwei Schwarze heran und forderten die Zeitung. Sie klappten sie auseinander und suchten nach der Einlage. Sie machten lange Gesichter, als sie nichts fanden, und gaben das Papier Kathleen wieder zurück.

Sie winkte eine Autodroschke heran und rief dem Chauffeur laut zu, so daß es die Schwarzen hören konnten: »Hotel zur Post!« Kurz vor dem Hotel gab sie dem Chauffeur das richtige Ziel an. Der kniff das linke Auge zu und sagte: »Wir wissen Bescheid. Sie haben aber verflucht Glück gehabt, schönes Fräulein, daß die Falle nicht zugeschnappt ist. Ich habe den ganzen Käse mit angesehn. Das waren dem August Puppe seine Leute.«

Kathleen verspürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. 400

 

Kathleen hatte sich von Bertha einen kleinen Stadtkoffer ausgeliehen, ihn mit Keks, Schokolade, Kondensmilch und Geräuchertem gefüllt, einen Rosenstrauß gekauft und mit der Zeit sich so eingerichtet, daß sie um drei Uhr nachmittags vor der Umzäunung der Wirtschaftsgebäude des Lagers Osterloh stand. Die Baracken der zur Felddienstübung kommandierten SA lagen ein Stück weiter dahinter, von einem über mannshohen Stacheldrahtzaun umgeben.

Am Tor schritt mit geschultertem Karabiner ein Brauner auf und ab, und als Kathleen den Holzgriff der Klingel zog, kam er angestiebelt und fragte: »Nun, zu wem wollen Sie?«

»Zur Wäscherei will ich.«

»Damenbesuch ist hier aber verboten. Nur nachts am anderen Eingang erwünscht. Schöne Augen hast du, Mädchen!«

Kathleen antwortete, mit allem Ernst, den sie noch aufbringen konnte: »Melden Sie mich sofort bei der Schwester Rosamunde.« Diesen Namen der Oberin hatte sie in der Stadt in einem kleinen Konfitürengeschäft gehört. Und für diese Schwester Rosamunde war der Rosenstrauß bestimmt, um von vornherein gleich einen guten Eindruck zu machen, wenn sie um die Erlaubnis bitten wird, die Schutzhaft-Gefangene Johanna zu sprechen. Den Trick, als Beauftragte einer adligen Familie zu erscheinen, hatte sie sich in den letzten vierundzwanzig Stunden bis in die letzten Einzelheiten genau durchdacht.

Der Soldat grinste: »Was ist hier bei dem ollen Trampel noch viel anzumelden? Kommen Sie man rein!« Er sperrte das Tor auf und zeigte nach der links gelegenen, flachen und weit nach hinten gestreckten Baracke: »An der Tür dort, wo Sie das rote Schild sehn, müssen Sie noch einmal klingeln. Und wie wäre es heute abend mit uns, Mädchen? Ich habe um acht dienstfrei. Wir können in die Stadt gehn. Du gefällst mir. Ich glaube, daß man bei dir im Bett auf seine Kosten kommt.«

»Darüber kann man sich ja nachher noch einmal unterhalten«, antwortete Kathleen.

»Das wird gemacht, Mädchen! Und Spaß sollst du mit mir haben.« Der Soldat lachte und glaubte, daß er einen billigen und guten Fang gemacht habe.

Eine junge Frau in blauer Schwesterntracht öffnete und führte Kathleen in ein kleines Büro: »Kommen Sie in dienstlicher Angelegenheit zu Schwester Rosamunde?«

»Zunächst privat.«

»Gehn Sie bitte nebenan und warten Sie auf Schwester Rosamunde.« 401

Es war ein kleiner Raum mit einem Tisch, weiß gedeckt, mit vier Stühlen herum. Außer einem Hitlerbild, das an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand hing, war kein weiterer Bildschmuck in dem Raum vorhanden. In der dunklen Ecke hinter der Tür stand eine kleine, offene Anrichte mit Eßgeschirr.

Kathleen hatte sich so gesetzt, daß sie die Tür vor sich hatte; sie konnte die Eintretenden sofort übersehen. Und als nach einer kurzen Weile die Schwester Rosamunde angestelzt kam, ein großes knochiges Gestell mit herausgebleckten gelben Pferdezähnen und einer großen Hakenkreuzbrosche auf dem Plättbrett der Brust, federte Kathleen sofort hoch und überreichte die Rosen.

Darauf war die alte Schachtel nicht gefaßt und wurde rot wie ein junges Mädchen, das sich zum ersten Mal heimlich mit einem jungen Mann trifft.

»Ich habe die Ehre, mit Schwester-Oberin Rosamunde zu sprechen?«

»Das bin ich, meine Liebe! Steh ganz zur Verfügung. Bitte, setzen Sie sich doch. Diese herrlichen Rosen . . .«

»Ich komme von Potsdam«, begann Kathleen mit dem gut einstudierten Schwindel. »Ich komme mit Empfehlungen vom Königin-Luise-Bund. Ich komme auf direkte Veranlassung der Frau Gräfin Feckenstedt und der Frau Gräfin von Arnim.«

»Zu mir? Sehr schmeichelhaft!«

»In einem ganz speziellen Auftrag von den Damen.«

»Diese Rosen . . . wie mich das freut!«

»Die Frau Gräfin von Arnim ist davon unterrichtet, daß Sie, verehrte Schwester, hier an Frauen, die zum Schutz von Staat und Volk in Haft genommen sind, eine so segensreich wirkende Erziehungsarbeit leisten. Daß Sie die von marxistischen Ideen verunreinigten Seelen einer gründlichen Säuberung unterziehn und den vaterländischen Gedanken, im Sinne unseres Führers, einpflanzen.«

»Ich bin stolz, daß meine Erziehungsmethode bei den gräflichen Damen diesen Anklang gefunden hat.«

»Die Frau Gräfin von Arnim insbesondere hat nun den Wunsch, den ich hiermit übermittele, einen Ihrer Pfleglinge zu sprechen, das heißt: ich, in Vertretung. Es handelt sich um eine jetzt verheiratete Frau, die früher im Hause der Frau Gräfin als Kammerzofe beschäftigt war, aus leicht begreiflichen Gründen kann die Frau Gräfin natürlich nicht höchstselbst sich dieser Sache unterziehn und beauftragte mich daher. Ich bin mit den erforderlichen Ausweisen der Behörden versehen. Falls 402 Sie die Papiere zu sehen wünschen . . . bitte einen Augenblick.« Sie öffnete die Handtasche und kramte herum.

Die Schwester aber wehrte heftig ab: »Erledigt! Erledigt, meine Liebe! Steh ganz zur Verfügung. Um welche Person handelt es sich eigentlich?«

»Die Frau Gräfin hat mir das Erforderliche aufgezeichnet. Hier, bitte!« Sie reichte der Schwester einen kleinen Notizblock hin, worin sie den Vor- und Zunamen von Johanna sowie ein paar Daten aufgeschrieben hatte.

»Also die Johanna ist es? Und diese dumme Frau hat nie einen Ton davon gesagt, daß sie bei der Frau Gräfin von Arnim bedienstet war! Natürlich, ich hole sie sofort. Sie können sie gleich hier in unserem Eßzimmer sprechen. Sonst, in anderen Fällen . . . Sie wissen ja, wenn die Proletarierweiber kommen . . . für diesen Zweck haben wir eine vergitterte Sprechzelle. Wollen Sie mit Johanna allein sein? Es ist zwar gegen die Vorschrift, aber ich will mich in die wahrscheinlich sehr privaten Angelegenheiten der Frau Gräfin nicht einmischen.«

»Sehr liebenswürdig, Schwester Oberin! Ich werde höchstens zehn Minuten mit der Frau zu sprechen haben. Und hier habe ich ein paar Kleinigkeiten, die mir die Frau Gräfin für Johanna mitgab. Darf das der Haftfrau ausgehändigt werden?« Sie machte den Koffer auf, stellte die Sachen einzeln auf den Tisch und schob gleichzeitig der Schwester einen Karton Pralinen hin: »Darf ich bitten, diese kleine Kostprobe von mir anzunehmen?«

Die Schwester griff sofort zu und ließ das Konfekt in einer ihrer großen Taschen verschwinden. Dann betrachtete sie genau die einzelnen Gegenstände, die auf dem Tisch lagen. Und ging hinaus und holte Johanna.

Kathleen hatte Herzklopfen zum Umfallen. Auf ihrer Oberlippe perlte hauchfein der Schweiß. Sie fuhr sich mit der Puderquaste durch das Gesicht und versuchte, die Aufregung durch tiefes Atemholen zu beruhigen.

Die Schwester Rosamunde schob Johanna zur Tür herein, blieb hinter ihr stehn und sagte: »Meine Dame, das ist Johanna. Wenn die Unterredung beendet ist: an der Anrichte finden Sie einen Klingelknopf, bedienen Sie sich.« Dann drückte sie die Tür zu, und Kathleen hörte, daß sie nach vorn ins Büro ging.

Johanna stand noch immer dort, wo die Schwester sie hingeschoben hatte. Sie hielt den Kopf tief gesenkt, dünnes, graues Haar, in der Mitte gescheitelt. Sie war um zehn Jahre älter geworden in diesen elf Monaten Schutzhaft.

Kathleen stand jetzt auf, ging auf Johanna zu, packte ihre Schultern, drückte damit auch den Kopf hoch und küßte die steingrauen hohlen Wangen. »Hanna . . . !«

Und wenn Kathleen nicht dieses bohnengroße Muttermal noch in der Erinnerung gehabt hätte, von damals her, als sie Johanna im Krankenhaus besucht hatte, sie würde jetzt die Frau nicht wiedererkannt haben. Da stand ein Gespenst vor ihr, das Gesicht fahl und welk, voller Falten, dicke Augensäcke, die Stirn in der Mitte von einer senkrechten scharfen Rille zerrissen.

»Hanna, du hast geschrieben . . . an den Doktor. Der Genosse Doktor hat deinen Brief erhalten und schickt mich zu dir. Kennst du mich denn nicht mehr, Hanna?«

Eine ganze Weile standen sie sich gegenüber: Auge in Auge, die Gesichter ganz nahe. Kathleen drückte Johanna in den Stuhl und hielt ihre Schultern umschlungen. Und flüsterte: »Kennst du mich wirklich nicht mehr, Hanna?« Sie ließ Johanna los, setzte sich gegenüber und wartete. Durch das Blut Johannas stießen schwere Erschütterungen. Kathleen war mit einem Male ganz ratlos.

Erst nach einer langen Pause bekamen die Augen von Johanna ein wenig Glanz. Und dann öffnete sie auch die zusammengepreßten Lippen: »Ja, jetzt kenne ich dich . . . jetzt kenne ich dich . . . Der Bauer hat also doch Wort gehalten.«

»Wir haben deinen Brief bekommen, Hanna. Ich soll dich von hier wegholen, verstehst du?«

»Ich kann es noch gar nicht glauben, daß ihr an mich gedacht habt.«

»Wenn du mich jetzt wiedererkannt hast, Hanna, dann mußt du es auch glauben, daß wir dich nicht vergessen haben. Niemand von unseren Genossen im Konzentrationslager wird von uns vergessen. In Gedanken sind wir immer bei euch!«

»Ich habe viel aushalten müssen. Ich habe nicht mehr daran geglaubt, daß ich noch einmal einen anderen Menschen sehen werde . . . als hier diese Würmer und Tiere . . .«

»Nun hör mal gut zu, Johanna. Du hast geschrieben, daß du von hier fort möchtest. Hast du dir einen Plan gemacht? Hast du dir vorgestellt, wie sich das bewerkstelligen läßt? Du mußt mir das schnell erzählen, damit ich dir behilflich sein kann.«

»Wenn du mir helfen willst, dann habe ich einen Plan.« Ihre Stimme war heiser und ihr Gesicht ganz unbeweglich. Nur mit den Augen hielt sie Kathleen fest. Die Worte fielen gleichmäßig, ohne Betonung, wie 404 die aus der Traufe herausplätschernden Regentropfen: »Es ist hier ein Bauer, der jeden Samstagnachmittag Holz bringt. Immer mit zwei großen Karren kommt er. Und wir müssen das Holz abladen und in den Schuppen tragen. Die Schwester oder die Oberin ist nicht dabei. Aber der Posten am Tor paßt auf. Der Bauer hat mir einmal gesagt, daß ich schrecklich aussehe. Und er möchte mich von hier fortschaffen, wenn noch jemand da wäre, der für das Weitere sorgen würde. Wenn du mir helfen willst, daß ich von hier fortkomme, dann mußt du zuerst zu diesem Bauer gehn. Er wird dir alles sagen, was du wissen mußt. Du kannst dich verlassen auf den Mann.«

»Wo wohnt denn dieser Bauer, und wie heißt er? Sage mir das jetzt, Johanna. Ich werde alles tun, was nötig ist.«

»Ich weiß nicht, wie der Bauer heißt. Aber ich weiß, wo er wohnt. Auf der anderen Seite der Chaussee wohnt er, dort, wo der Wald anfängt. Es steht auch kein anderes Haus dort als der Bauernhof.«

»Ich werde nachher den Bauer aufsuchen, Hanna. Du mußt aber ganz ruhig bleiben. So ruhig, wie du jetzt bist. Und du darfst auch niemandem ein Wort sagen, sonst könnte es leicht schiefgehn, und du kommst niemals hier heraus. Willst du das tun, Hanna?«

»Ich kann nicht mehr lachen, ich kann nicht mehr weinen. Und wenn mich die Aufseherin schlägt, kann ich auch nicht mehr schreien.«

»Es wird dich jetzt niemand mehr schlagen, Johanna. Und du glaubst, daß der Bauer ein ehrlicher Mann ist? Kann es nicht doch eine Falle sein?«

»Der Bauer, wenn er hier ins Lager kommt, mit Holz und manchmal auch mit Kartoffeln, ist immer sehr traurig, wenn er uns sieht. Ich weiß nicht, wie er politisch denkt. Aber gegen diesen braunen Umstand hier ist er bestimmt. Und er sagte auch zu mir: ›Wenn du eine Möglichkeit weißt, wie man dich von hier herausholen könnte, dann sage es mir. Und wenn du jemandem von deinen Angehörigen schreiben willst, ich werde den Brief weiterbefördern . . .‹ Ich glaube, daß er ehrlich ist, dieser Mann.«

»Wir müssen trotzdem sehr vorsichtig sein, Johanna. Die Schwestern und die Wachleute dürfen nicht das geringste merken, vor allem nicht, daß wir beide uns kennen. Ich habe der Oberin vorgeschwindelt, daß du bei einer Gräfin von Arnim einmal in Stellung warst. Wenn sie dich ausfragen wollen wegen dieser Stellung, dann sagst du, du könntest dich an nichts mehr erinnern. Ich muß jetzt schnell wieder gehn. Willst du 405 mir nun glauben, Hanna, daß ich alles versuchen werde, dich aus dieser Hölle hier zu befreien?«

»Wenn die Genossen dich extra hergeschickt haben, dann wird es wohl auch so sein, wie du sagst.«

»Alle haben sie mich geschickt. Alle wollen. daß du wieder bei uns sein sollst.«

»Ich werde warten. Ich werde mir eine Kartoffel in den Mund stecken, daß kein unnützer Ton herauskommt. Ich werde nur die Augen aufmachen und die Ohren und warten . . . bis der Bauer kommt und mich holt.«

»Ich habe dir ein paar Kleinigkeiten mitgebracht, Hanna. Pack das Zeug jetzt in deine Schürze und laß es dir von den Schwestern nicht wegnehmen.«

»Ich freue mich, daß du gekommen bist, Kathleen. Ich freue mich, daß ich nun auch deinen Namen wieder weiß.«

»Ich muß jetzt klingeln, Hanna. Und die Schwester wird kommen und dich abholen. Halte dich tapfer. In spätestens acht Tagen bist du frei.« Sie stand auf und nahm das Gesicht Johannas in beide Hände. Ihre Lippen berührten sich. Und jede von diesen beiden Frauen hatte Mühe, die Augen trocken zu halten. Während Kathleen den Klingelknopf drückte, packte Johanna die Sachen in die Schürze und stellte sich an der Tür auf.

Die Schwester Rosamunde kam mit einem süßlichen Lächeln: »Das war aber wirklich nur ein kurzer Besuch. Johanna, gehn Sie jetzt nach hinten und klopfen Sie. Schwester Amalia wird Ihnen aufmachen. Johanna, wollen Sie der Dame denn nicht auf Wiedersehn sagen?«

Johanna hauchte etwas Unverständliches vor sich hin und ging. Kathleen sah ihr nach. Die Tür hatte sich längst geschlossen. Und als die Schwester Rosamunde den Mund auftat, zuckte Kathleen zusammen.

»Nun . . . hat sich die Frau etwa schlecht aufgeführt?«

»Nein, Schwester Oberin, es waren nur wenige Fragen, die ich an Johanna zu richten hatte. Auf manches mußte sie sich erst lange besinnen. Sie gab mit aber Antwort auf alles, was ich wissen wollte. Die Frau leidet sehr . . . scheint auch in den Erinnerungen verwirrt zu sein.«

»Ach . . . das ist nur Verstocktheit und Verstellung, meine Liebe! Sie kennen diese Weiber noch nicht. Marxistische Hyänen. Man muß eine Himmelsgeduld mit ihnen haben.«

»Macht Johanna Ihnen besondere Sorgen?« 406

»Manchmal, wenn sie ihren Koller hat, wenn sie weiße Mäuse tanzen sieht, wie man hier so sagt . . . dann hat man seine liebe Not. Im Anfang war sie sehr frech und ordinär. Jetzt aber hat es sich gelegt. Die gute Erziehung hier bei uns hat doch gewirkt. Auf die Dauer wirkt sie nämlich auch auf die rabiatesten Personen.«

»Ich verstehe, Schwester Oberin! Ich werde von dem günstigen Eindruck, den ich von Johanna bekommen habe, der Frau Gräfin berichten. Und jetzt muß ich mich wohl empfehlen.«

»Wollen Sie nicht noch mit mir eine Tasse Tee trinken?«

»Sehr liebenswürdig, Schwester Oberin! Um sieben geht mein Zug. Doch wenn ich in drei oder vier Wochen wiederkomme, auf meiner Rückreise nach Berlin, werde ich gern von Ihrer freundlichen Einladung Gebrauch machen.«

Die Schwester Rosamunde begleitete Kathleen bis zur Baracke hinaus und schüttelte ihr die Hand. Der Posten am Tor kam nicht mehr dazu, Kathleen zu stellen und seine Frechheiten anzubringen. Die Schwester wartete, bis das Tor sich geschlossen hatte.

Kathleen eilte mit weit ausholenden Schritten davon. Der Anblick, die ganze Erscheinung und die Unterhaltung mit Johanna, die mit ihren fünfunddreißig Jahren wie eine Sechzigjährige aussah, beschwerten jetzt ihr Denken. Sie lief ein Stück in den Wald hinein und setzte sich unter einen Strauch. Sie mußte erst wieder zu sich kommen. Sie verspürte kaum noch ein Gefühl im Körper. Sie saß auf dem weichen und warmen Moos wie in einem Halbschlaf. Auf den Blättern tanzte das Sonnenlicht. Sie flimmerten in allen Nuancen des Grüns. Der Gesang von Hummeln und Zikaden begleitete den Lichtertanz. Und Kathleen wäre schließlich auch eingenickt.

Auf der Chaussee klirrte und klappte eine Kolonne SA vorüber mit geschulterten Gewehren und im Stahlhelm. Die kamen vom Übungsplatz. Sie waren verstaubt und sahen marode aus, als würde man sie aus einer schwer beschossenen Grabenstellung soeben abgelöst haben. Hinter den Marschierenden ritten Offiziere in Reichswehruniform, und Wagen mit Minenwerfern und Maschinengewehren bildeten den Schluß des langen Zuges.

Eine wohlausgerüstete Kriegskolonne in diesem waffen- und wehrlosen Deutschland.

Kathleen wartete, bis die Kolonne den Hohlweg hinter sich hatte. Dann erhob sie sich, schüttelte welke Blätter, Moos und Käfer aus dem Mantel und hielt von hier oben Ausschau nach dem Tal. Sie sah links, 407 in einer Leye, Baumgruppen und den schwarzmetallischen Schimmer von einem Dach. Auf einem Feldstück, das noch vor dem Tal lag, zog ein Bauer mit einem Zwiegespann Furchen auf einer dunkelgelben, aufdampfenden Erde. Sie ging auf dieses Feldstück zu. Sie hatte wieder die Kraft, in klaren Gedankenzügen zu denken.

 

Ein schmaler, mit einem niedrigen, harten Gras bewachsener Grenzrain erleichterte ihr das Gehen. Der Pfad führte fast schnurgerade auf den Acker zu. Zur Hälfte war er schon umgebrochen. Die fetten Lehmschollen klumpten sich und blieben an der offenen Luft so stehen, wie sie die Pflugschar hingeworfen hatte.

Der Bauer kam jetzt Kathleen entgegen mit dem Pflug. Sie schritt etwas langsamer aus. Sie bemerkte, daß der Bauer keine Notiz von ihr nahm. Ehe er aber den Pflug wendete, zog er die Pfeife aus dem Mund, holte einen Beutel aus der Tasche und füllte den hölzernen Pfeifenkopf mit einer frischen Ladung Tabak.

Jetzt schob sich Kathleen ein paar Schritte vor, so daß sie den Mann gegenüber hatte, kaum fünf Meter entfernt. Sie blieb aber auf der Grenzscheide stehn und rief ein Grüßgott hinüber.

Der Bauer drehte sich langsam und nur zur Hälfte herum und antwortete: »N' Owend auch!«

»Entschuldigen Sie, das Gehöft dort unten, ist das Osterloh?«

»Osterloh, junge Frau, das ist dort drüben.« Er markierte mit dem Zeigefinger die Richtung. »Sehen Sie die vielen flachen Dächer dort, gleich hinter der Wiese? Das ist das Lager Osterloh.«

»Ein SA-Lager wohl?«

»Na, sagen wir: ein Kriegslager.«

»Krieg?«

»Ja . . . man spielt schon wieder mit dem Krieg. Und wird so lange spielen, bis er da ist.«

»Dann ist das also doch nicht Osterloh?«

»Die Gemarkung dort heißt Osterloh.«

»Man hat mir aber gesagt, ein Bauer würde dort wohnen.«

Er kam nunmehr ein Stück näher heran. Sein Gesicht war hellbraun wie das Holz der Eiche. Auch so hart und mit grauen, borstigen Stacheln besetzt. Graue Manchesterhosen staken in Schaftstiefeln. Und die blaue Bluse, die sich auf der breiten Brust spannte, war mit ausgeblichenen und dunkelfarbenen Flicken besetzt. »Vor paar Jahren hat dort mal ein Milchbauer gewohnt. Schlechte Zeiten. Der Staat hat 408 ihm das Grundstück gestohlen. Und jetzt haben sich dort die braunen Wanzen eingenistet.«

»Wie heißt denn die Ortschaft dort unten?« Kathleen zeigte auf das Gehöft im Tal.

»Dort unten der Hof? Das ist der Mengerskotten und gehört mir.«

»Also Ihr Hof ist das . . . und das Feld rundherum wohl auch?«

»Ja . . . dieser Acker hier auch. Im Herbst soll hier Roggen untergebracht werden. Der Klee lohnt nicht mehr.«

»Der Bauer hat wohl noch immer seine Last? Ich meine heute, wo es keine Arbeitslosen, keine Armut und keine Ausbeuterei mehr gibt?«

»Das Himmelreich auf Erden, wie!«

»Ja . . . der Bauer ist wieder ein freier und stolzer Mann, auf freiem Grund und Boden.«

»Seit wann? Und wo steht das geschrieben?«

»Das steht in allen Zeitungen zu lesen.«

»Da steht heute manches drin, junge Frau. Sie sind gewiß nicht von hier? Denn wenn Sie von hier wären, dann wüßten Sie wohl auch, daß in den Fabriken die Feierschichten zugenommen haben. Und wenn die Leute unten im Tal keine Arbeit haben, dann trinken sie auch keine Milch. Und vom Milchverkauf müssen wir doch leben.«

»Sie wollen damit sagen: wenn der Arbeiter hungert, muß auch der Bauer darben?«

»So ist es. Wenn die Bandwirker und Riemendreher unten dick verdienen, kann ich so viel Milch, wie verlangt wird, gar nicht heranschaffen. Ich habe früher schon an die fünfhundert Liter jeden Morgen in die Stadt gefahren und habe zweiundzwanzig Pfennige für ein Liter Milch bekommen. Heute fahre ich bloß zweihundert Liter hinunter, und die Hälfte davon kommt in die Margarinefabrik. Die zahlt mir nur zwölf Pfennig für den Liter. Das ist eine einfache Rechnung, die werden Sie wohl verstehn. Und daß ich jetzt bloß noch zwölf Kühe im Stall habe, dagegen früher, das heißt vor drei Jahren noch, dreißig Stück Vieh. Mein Land reicht sogar für fünfzig aus. Ist Ihnen jetzt klar, weshalb man nicht sagen kann: Für den Ackerbürger sind endlich die sieben fetten Jahre gekommen?«

»Sie sind wahrscheinlich auch eine große Familie?«

»Eine große Familie braucht man hier, fremde Leute kann man nicht mehr bezahlen.«

»Ich denke mir aber: Bauer sein, das ist immer noch besser, als in 409 der Fabrik zu arbeiten. Sie sind immerhin Ihr eigener Herr und können sich auf Ihrem Feld bewegen, wie und wohin Sie wollen.«

»Die Steuern fressen einen auf, junge Frau. Die laufen den ganzen Tag hinter einem her. Und wenn man sie zum Teufel jagen möchte, dann schreien sie nach dem Gerichtsvollzieher. Und der macht nicht viel Federlesens. Ich habe es vor Augen gehabt, als man meinen Nachbarn von Osterloh erst blank gerupft hat und dann vom Hof gejagt.«

»Wenn dort auf Osterloh soviel Soldaten sind, müßten Sie doch auch Milch und Butter hinliefern.«

»Die Milch, die liefert ein Bauer, der sich seine ehrliche blaue Bluse vom Leib heruntergerissen und ein braunes Hemd dafür angezogen hat.

»Das hätten Sie doch auch können . . .«

»Ich . . .? Nix zu machen! Aber das werden Sie wohl nicht verstehn können, auch wenn ich es Ihnen genau erklären würde.«

»Das meinen Sie. Man versteht heute manches, was einem früher nicht eingehn wollte. Und man hat ja auch noch ein Stück dazugelernt.«

»Dann will ich Ihnen mal was sagen: Diesen Hof hier hat mein Großvater schon gehabt. Und auch mein Großvater schon hat die Milch in das Tal gefahren, und ich habe ihm geholfen, die Kannen in die Häuser zu tragen, zu den Leuten, die am Bandstuhl stehn oder an den Riementischen. Und genauso hat es auch mein Vater gehalten. Wir gehören zu diesen Leuten unten im Tal. Wir sind mit ihnen groß geworden. Mancher, der im Tagelohn gearbeitet hat, konnte sich mit den Jahren ein Shed bauen und ein paar Stühle hineinstellen. Und unsereiner konnte sich mit der Zeit noch ein paar Kühe mehr zulegen. Wir sind immer geblieben, was wir waren, eine große Familie. Einer kennt hier den anderen. Und man kann sich miteinander aussprechen, ohne das Maul aufzureißen. Das ist beinahe so wie hier mit den Pferden. Glauben Sie, die verstehn nicht, wovon wir uns unterhalten?«

»Für mich ist das sehr schwer zu verstehen.«

»Das wird wohl so sein. Man muß mit der Erde und dem Viehzeug aufgewachsen sein.« Er brannte sich wieder die Pfeife an, die ihm beim Reden ausgegangen war. Und er zog jetzt mit einer Heftigkeit, daß die Funken flogen. Der Wind trieb den Rauch Kathleen in die Nase. Ein scharfer, beizender Geruch. Sie mußte ein paarmal niesen.

»Nanu . . . jetzt schon den Schnupfen?«

»Ich nehme an, das kommt von der scharfen Luft. Ich bin daran 410 noch nicht gewöhnt. Das riecht hier wie nach ganz frischem Holz. Haben Sie auch einen Wald?«

»Nur ein kleines Stück, zehn, zwölf Morgen. Davon schlage ich jetzt die Hälfte weg.«

»Das Holz verkaufen Sie auch unten im Tal?«

»Sonst ja; aber jetzt geht ein Teil nach dem Lager.«

»Sie fahren Holz in das SA-Lager?«

»Der braune Milchbauer hat kein Holz, und nun müssen sie es schon bei mir kaufen.«

»Sagen Sie mal: Sind auch Frauen in dem Lager?«

»Als Soldaten? Nee! Das fehlte wohl auch noch. Kann aber kommen. Heute ist alles möglich. Aber da sind einige Frauen im Wirtschaftsbetrieb.«

»Als Gefangene?«

»Ja, die hat man nach hierher verschleppt. Eine ganz große Sauerei.«

»Wenn Sie Holz in das Lager fahren, sehen Sie die Frauen?«

»Die eine oder andere, wenn sie das Holz in den Schuppen tragen.«

»Ist Ihnen dort einmal eine Frau namens Johanna begegnet?«

»Das wird wohl die sein, die von Berlin herstammt. Ein armes Frauenmensch; gehörig hat man sie zugerichtet.«

»Sie haben also mit der Frau gesprochen. Und halten Sie es für möglich, daß man sie von dort wegholen kann?«

»Darüber hat der Minister, mindestens aber der Oberpräsident zu entscheiden.«

»Ich meine: hintenherum . . . heimlich.«

»Das wird wohl nicht zu machen sein; Tag und Nacht stehn Posten vor dem Tor.«

»Sie haben aber doch schon mit Johanna über die Möglichkeit gesprochen . . .«

»Na ja . . . wenn Ihnen die Johanna das erzählt hat . . .«

»Ich bin extra von Berlin deswegen hergekommen.«

»Wegen der Johanna?«

»Ich habe einen Besuch bei Johanna gemacht . . . vor einer halben Stunde.«

Der Bauer drehte sich um und hantierte am Geschirr der Pferde. Die ganze Figur wuchs aus der Erde heraus wie ein Baumstamm. Der Wind wehte durch sein Haar und bewegte es wie ein Krautbüschel. Und als er sich wieder umdrehte, schien es Kathleen, daß seine Augen 411 ein wenig heller geworden waren, so wie jetzt der Himmel über dem Tal.

»Man könnte es machen, junge Frau. Dieses eine Mal vielleicht. Die Johanna hat ein Gesicht, wie es meine Mutter hatte, als sie sich hinlegte und sieben Monate brauchte, um mit dem Tod fertig zu werden. Ja . . . es ließe sich machen, wenn Sie mithelfen würden. Es soll nämlich nicht ganz einfach sein. Aber für diese Johanna könnte man es tun. Die gönne ich den Braunen nicht, das ist nicht der richtige Tod für solch einen Menschen.«

»Ich bin deswegen doch hergekommen. Und was Sie verlangen, das werde ich tun.«

»Wenn Sie jetzt diesen Weg hier geradeaus heruntergehn und dann die Biegung nach der Wiese machen, kommen Sie auf einen Fahrweg. Den marschieren Sie durch bis ins Haus. Und dort warten Sie auf mich. Ich werde in einer Stunde hier fertig sein, das sagen Sie auch meiner Frau, die heißt nämlich auch Johanna, so wie meine Mutter. Und lassen Sie sich einen Topf Milch geben, die wird Ihnen gut tun. Zu Hause werden wir dann in aller Ruhe besprechen, was notwendig ist.«

Der Bauer zog seine Furchen weiter, eine nach der anderen. Und Kathleen ging wie in einem Schlafwandel auf das Haus zu. Sie fand dort die gleiche Friedfertigkeit vor wie in dem Hause der Bertha Sauerlandt, wie in einer Welt, die dem Leben eine ganz andere Form gab, als die, mit der sie bislang in der Stadt gelebt hatte.

Nach der Aussprache mit dem Bauer, seinen beiden Söhnen, den Töchtern und der Frau war es Kathleen klargeworden, daß das Dritte Reich bei diesen Menschen und allen ihrer Art nie einen Eingang finden würde. Und es ging ihr auch auf, weshalb dieser tönerne braune Koloß hier schneller zerschellt war als in den großen Städten, wo sich alles nach Ämtern und Beziehungen drängte, wo man immerfort Möglichkeiten witterte, das Wurzellose durch einen Taumel von Genuß zu Genuß tragbar zu machen mittels einer amtlich gesicherten Existenz. Wo man zehn Menschen das Brot nahm, um einen rundherum satt zu machen. Wo man die Juden hetzte, von Aufnordung der Rasse faselte und den Besitz meinte, den man den Juden stahl. Wo man die Redlichen in die Zuchthäuser warf oder über die Grenze jagte und den Spitzbuben und Irrenhäuslern Freiheit nach allen Seiten gab. Wo man den Arbeitern die Löhne kürzte, den Verbrauch der Massen damit drosselte und den Kleinbauern den Atem abschnitt, dem »Nährstand«, 412 dem man »Erbhofgesetze« gab, die Produktion auf den Höfen aber lahmlegte. Das Bauerntum rückte ab von Hitler. Und gerade ihm hatte er viel versprochen, aber nur Steine, Dornen und Disteln gegeben für das in Aussicht gestellte: »Mehr Grund und Boden.«

Es ging schon auf zehn Uhr zu, als der jüngste Sohn des Bauern Kathleen auf einem direkten Weg nach dem Ostersiepen zurückbrachte. Der Himmel blühte voller Sterne weißblau und hellsilbern. Und oft schossen langgestielte Feuerrispen herunter bis zur Erde. In den Nachtbäumen brauste die Windorgel. Viermal lief den beiden Wanderern ein Waldtier über den Weg. Und der Bauernsohn meinte: »Das bedeutet Glück, so wie ein Vierblatt Klee, das man findet, ohne daß man die vorgefaßte Absicht hatte, es zu suchen.«

Es waren ihrer vier, die Johanna schließlich zur Freiheit verhalfen: der Bauer, der Johanna unter einem Bündel Stroh aus dem Lager herausfuhr bis zum Wald, der Chauffeur, der mit dem Auto und Kathleen bereitstand und sie auf einem Umweg zum Ostersiepen brachte, und Bertha Sauerlandt, die Johanna fünf Wochen oben in der Kammer verbarg, sie pflegte, tröstete und dem Menschlichen wieder zurückführte.

Und erst nach diesen Wochen konnte Kathleen es wagen, auf der rheinischen Strecke, von der Varresbeeck bis nach Hagen, mit Johanna den geraden Weg nach Berlin zu fahren.

Und nun, als sie mit sicheren Bewegungen wieder durch das steinerne Meer schwamm, erschien Kathleen alles so selbstverständlich, daß ihr Bericht sich anhörte, als habe sie nichts weiter getan als einen alten guten Bekannten vom Bahnhof abgeholt. 413

 


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