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Seit jenem Schlag, der den U. B.-S. zu einem großen Teil auseinandergesprengt hatte, weil Johanna nach einem Verhör von über zehnstündiger Dauer, und in den Pausen unterbrochen von geradezu viehischen Mißhandlungen, schließlich umkippte und die Aussagen aus sich herauspressen ließ, die der Gestapo gewisse Anhaltspunkte gaben, war auch von der U.B.-S.-Zeitung »Auf der Wacht« eine neue Nummer nicht mehr erschienen. Die wenigen unversehrt gebliebenen Straßen- und Betriebszellen bezogen ihr Propagandamaterial von der Zentrale. Und Franz Lück hatte alle Hände voll zu tun damit, die versprengten Genossen wieder ausfindig zu machen und zu sammeln. Die Abteilungen mußten neu gegliedert und die entsprechenden Funktionäre ausgesucht und bestellt werden. Ersetzt kann und muß schließlich jeder Kopf werden. Etzien aber fehlte doch an allen Ecken und Kanten. Er war ein richtiger Spürhund gewesen. Jeder Mensch, der ihm über den Weg lief und ihn interessierte: einmal nur in sein Gesicht hineingesehen und die Art, wie er über die Straße geht, grüßt und mit anderen Menschen spricht, beobachtet: und schon war er unverlöschbar einregistriert in dem großen Zettelkasten des Gedächtnisses. Ein geradezu unheimliches Gedächtnis für Personen, Zeit und Geschehnisse hatte Etzien besessen. Und dazu verfügte er auch noch über Kräfte, seine Stimme, sein Gesicht und alle Bewegungen des Körpers so zu verwandeln, daß oft die Genossen, die seit Jahren schon Umgang mit ihm gehabt hatten, erschraken, wenn er zu einer geheimen Verabredung erschien in einer Maskerade, die sie für das Wesen einer ihnen völlig fremden Person hielten.
Ja, dieser Etzien fehlte jetzt wirklich an allen Ecken und Kanten. Und man wußte noch immer nicht, was mit ihm geschehen war, in welchem Bunkerloch er steckte und ob er überhaupt noch existierte.
Otto Hillmann, der die Verbindung mit den Betriebsfunktionären 252 der Gruppe Nordost aufrechtzuerhalten hatte, schlug zuerst Arthur Menges vor, Etzien zu ersetzen. Einen Ortseingesessenen wollte man aber nicht mehr nehmen. Man dachte an Richard Bohle. Woher aber sollte der die Zeit holen? Er war einer der wichtigsten Funktionäre in der Waggonfabrik. Und diese Arbeit nahm ihn schon über Gebühr in Anspruch. Man einigte sich schließlich doch auf Arthur Menges. Zunächst mußte aber alles auf den Schultern von Franz Lück ruhen bleiben. Liesa Schimmel war ihm ein guter Helfer, gewiß; aber auch sie war in ihrer Zeit beschränkt. Außerdem sträubte sich Hillmann, sie noch stärker zu exponieren. Er hatte genug von Johanna, von der man jetzt endlich wußte, daß sie im Staatskrankenhaus lag, mit schweren inneren Verletzungen, nie mehr fähig, zu empfangen und Kinder zu gebären.
Es hatte seine zwei Seiten mit den Frauen, heute, wo die Gestapo keine Unterschiede mehr machte und Frauen beinahe noch härter mißhandelte als Männer. Wo der körperlich robustere Mann eventuell noch durchstand, dort blieb die Frau schon auf der halben Strecke liegen. Das lag in ihrer empfindsameren Natur begründet und hatte nichts mit Charakterstärke zu tun. Der nicht mehr erträgliche physische Schmerz zerschmetterte oft einen eisernen Willen.
Am meisten bedauerte es Liesa Schimmel, daß die Zeitung nicht mehr erschien. Von ihr rührten die wichtigsten aktuellen Berichte her. Was sie nicht schreiben konnte, denn es fehlte ihr ja die allgemeine dialektische Schulung, um das Parteiprogrammatische zu analysieren, das holte sie sich von den älteren Genossen heran. Oft unter Lebensgefahr, soweit diese Genossen unter scharfer Bewachung standen. Und bei Robert Steg fand sie fast die gesamte Emigrantenliteratur vor. Manchmal hatte auch er einen Artikel geschrieben, speziell für »Auf der Wacht«. Gern gelesen wurden seine Kurzgeschichten aus der illegalen Bewegung, kleine Sachen, denen authentisches Material zugrunde lag. Und es geschah oft, daß diese Geschichten durch alle illegalen Zeitungen gingen und von hier aus den Weg zur antifaschistischen Weltpresse fanden. Wie zum Beispiel diese kleine Episode von der Maifeier 1934:
»AEG, Berlin-Brunnenstraße. Die NSBO hatte tags zuvor Kontrollscheine verteilt. Nicht wie im vorigen Jahr morgens beim Antreten abzugeben, sondern erst bei der Ankunft auf dem Tempelhofer Feld. Denn am vorigen Ersten Mai kamen nicht allzuviele von denen, die man 253 zwangsweise aus den Betrieben abmarschieren ließ, dort an. Morgenkontrolle auf dem Hof des Betriebes . . . und dann Beiseitedrücken, das war eins gewesen. Diesmal mußten die NSBO-Funktionäre für die Vollzähligkeit haften.
Antreten Gruppe I und Gruppe II! An die Außenseiten des Zuges traten die Zuverlässigsten. Vorstellung: Eine Betriebsbelegschaft wird zur Maifeier eskortiert! Vor dem Betrieb stand, auf einer errichteten Balustrade, einer der AEG-Geheimräte und nahm als ›Führer‹ die Parade seiner ›Gefolgschaft‹ ab. Ein Zug von Gefangenen. Stumm ging es die Straße entlang. An der nächsten Ecke rief eine proletarische Frau: ›Ihr marschiert ja wie hinter einem Leichenwagen. Singt doch mal was! Ich hatt' einen Kameraden, das hört man heute gern!‹ ›Det denkste dir so, Mächen!‹ antwortete eine Stimme aus der Mitte der Marschierenden. Und man weiß nicht, hat die Frau den Eindruck dieses Zuges durch ihren Zuruf charakterisieren und lächerlich machen wollen?
Auf dem Tempelhofer Feld ringsum Schutzleute und SA-Soldaten als Absperrung, dazu auch noch Drahtzäune. Eine richtige Mausefalle, in die es wohl hineingeht, aber nicht wieder heraus. Trotzdem, ein Mensch, der stundenlang marschiert ist, der muß doch auch mal beiseite treten und Wasser abschlagen. Der Zug, der austreten mußte und nicht wieder zurückkam, war fast ebensogroß wie die Anmarschkolonne.
›Der deutsche Arbeiter folgt seinem Führer Hitler‹. Und: ›Hitler, befiehl, und wir folgen!‹ So schrien die Transparente in den Straßen, die Herr Goebbels hatte aufrichten lassen.
Ein SBO-Bonze brüllte wutschäumend: ›Vor vier Jahren seid ihr Schweine zur Maifeier gerannt, obwohl man euch dafür mit blauen Bohnen traktiert hat. Heute wird es mit gutem Geld bezahlt und ihr wollt nicht?‹
Das mit dem Bezahlen des Maifeier-Tages war erst in der letzten Minute herausgekommen. Aber so ist es: Damals wußten die Proleten, für wen und was sie marschierten, auch durch das Maschinengewehrfeuer hindurch. Und heute: vielleicht wissen sie es auch schon wieder.«
Solche Artikel schrieb Robert Steg. Und ein paarmal hatte auch Doktor Grätz wertvolles Material geliefert. Das mußte alles aber erst gesichtet und redigiert werden. Und kostete Nächte. Liesa Schimmel las die Korrekturen und machte den Umbruch. 254
Seitdem ihre Mutter wieder im Haus wirtschaften konnte, hatte sie den Vater dazu bewegen können, daß er sie täglich ein paar Stunden am Setzkasten arbeiten ließ. Es war da ein großer Auftrag von einer Seifenfabrik, deren neuer Inhaber in der letzten Zeit schon öfter Kleinigkeiten bei Schimmel hatte arbeiten lassen. Die Firma war sonst nie für Reklame zu haben gewesen, die Produkte fanden im Stadtbezirk auch so einen schnellen Abgang. Die wirtschaftlichen Spannungen heute aber zwangen dazu, »mit der Zeit zu gehen«. Eine neue Arbeitskraft wollte Schimmel zunächst nicht einstellen. Er sagte, vielleicht mit Recht: »Man kann nicht wissen, ob auch in der ferneren Zeit mit neuen Aufträgen zu rechnen ist. Es sieht mir nicht danach aus. Ich befürchte, daß nach diesen Wochen einer gewissen optimistischen Auffassung ein Katzenjammer kommen wird, der vielleicht Jahre andauert.«
Er hatte es auch nicht einmal gern getan, den Wunsch Liesas zu erfüllen und sie in der Werkstatt arbeiten zu lassen. Ihre Tätigkeit vollzog sich aber ohne Reibungen, sie war anstellig und fleißig, und vorläufig genügte diese Aushilfe.
In den drei Wochen, die Liesa nun hinter sich hatte als Setzer-Volontär, wie sie selber diese Position bezeichnete, obwohl sie genauso sicher und schnell arbeitete wie der alte Busch, denn es war ja nicht das erste Mal, daß sie am Setzkasten stand, waren ihre Gedanken oft bei der Zeitung. Daß sie noch immer nicht funktionierte, war gewiß nicht das schlimmste. Und Franz Lück hatte recht, wenn er meinte: Erst mal wieder die Organisation in Gang bringen. Nachher haben wir immer noch Zeit, uns mit der Zeitung zu beschäftigen. Vorläufig sind unsere Leute ja auch versorgt.
Es ließ ihr aber doch keine Ruhe. Zuerst dachte sie daran, von der Sparkasse ein paar hundert Mark abzuheben und Typen zu kaufen. Sie kannte die Lieferanten, von denen der Vater sein Satzmaterial bezog. Wenn sie hinginge zu den Leuten und sich den Kram aussuchte und auch gleich mitnehmen würde . . . vielleicht fiele das nicht weiter auf. Aber wo die Setzkästen aufstellen und wohin nachher den Satz transportieren und woher eine Presse beschaffen? Selbst alte Handpressen waren heute nicht mehr jedermann zugänglich. Keine Firma riskierte es, sie einer Privatperson zu verkaufen. Und wenn man auch dann und wann im Lokalanzeiger eine Anzeige fand: »Gebrauchte Handpresse zu verkaufen«, so war das bestimmt eine Falle der Gestapo.
Eines Morgens kam Liesa Schimmel die Idee, ob man es nicht versuchen könne, die illegale Zeitung einfach hier zu setzen und zu drucken. 255 Sie erwog jetzt alle Möglichkeiten. Im normalen Geschäftsgang ließ es sich natürlich nicht bewerkstelligen. Es durfte nur heimlich und kaschiert geschehen. Und sie erkannte vorerst noch keinen gangbaren Weg. Von der Idee kam sie aber nicht mehr los. Sie überlegte haarscharf auch die andere Seite, nämlich die Gefahr für den Vater. Er durfte nichts wissen, ja nicht einmal ahnen. Und es mußte alles auch so angelegt sein, daß die Geschichte, wenn sie einmal erst lief, wenigstens als Übergang, unter keinen Umständen zum Platzen kommen durfte. Und wen hätte man als Hilfe nehmen können? Sie allein konnte es nicht. Außerdem hätte sie wieder Artikel schreiben müssen und weiteres Material sich besorgen. Das würde viel Zeit wegfressen. Es war ja schon ein Glück, daß der Vater ihr die eine große Lüge geglaubt hatte, die Ausrede für die Abwesenheit in den Abendstunden von Hause. Es hatte ihm aber eingeleuchtet, daß sie sich im Englischen vervollkommnen müsse, daß sie auch noch Italienisch hinzulerne und Kurse in der allgemeinen Handelswissenschaft absolviere, um auf dem Stellenmarkt, wenn es wieder soweit sein würde, mit Erfolg konkurrieren zu können.
Es waren die Stunden von sieben bis zehn an einem jeglichen Abend, die sie somit frei hatte für die illegale Arbeit. Über den Samstag und Sonntag verfügte sie schon seit langem, ohne daß jetzt noch Fragen daran geknüpft wurden: ›Wo willst du heute wieder hin? Was treibt ihr bloß den ganzen Tag und was ist das eigentlich für eine Gesellschaft?‹ Man wußte, daß sie Sport trieb. In welchem Verein, das hatte der Vater im Anfang erfahren. Damals hatte es auch gestimmt. Heute existierte dieser Verein nicht mehr, ein anderer war an seine Stelle getreten, der große Kreis der Antifaschisten.
Liesa Schimmel hatte mit Franz Lück über die Idee, die sie in ihren Gedanken herumwälzte, noch nicht gesprochen. Sie wollte ihm auch nicht eher etwas davon verraten, bis aus dem Vorhaben feste Form geworden war. Und an dieser Form bastelte sie noch herum.
Eines Tages aber sagte der Vater zu ihr: »Ich habe da eine neue Sache in Aussicht, einen Auftrag, der uns mindestens vier Wochen stark beschäftigen würde. Allerdings müßte ich dann noch einen Mann einstellen. Voll zu tun hätte er zwar auch nicht, es sei denn, ich ließe ihn deine Arbeit mitmachen. Es könnte auch gar nichts schaden, wenn du für eine Weile wieder aussetzen würdest.«
»Du meinst, Vater, nur für einen halben Tag wäre ein Mann nötig? Es würde mich ärgern, müßte ich hier vom Setzkasten weg. Ich habe mich doch schon gut eingewöhnt.« 256
»Ja, Liesa, gewiß . . . für einen halben Tag bekomme ich so leicht heute keinen Mann. Das ist für die Leute zu kompliziert, wegen der Lauferei auf dem Stempelbüro. Und ich kann ja auch nicht den Tariflohn zahlen. Ich habe so scharf kalkulieren müssen, daß jeder Pfennig rechnet. Verdient werden dabei nicht einmal die Fettaugen auf der Suppe. Aber anders bekommt man heute keinen Auftrag herein.«
»In meinem Arbeitskurs haben wir einen jungen Drucker. Der würde vielleicht einen halben Tag unter Tarif kommen. Wenn du willst, setze ich mich mit ihm in Verbindung.«
»Du kannst ja mal hören. Fest ist es allerdings noch nicht mit dem Auftrag; ich hoffe aber, daß ich ihn bis Samstag herein habe.«
»Gut, ich werde mich umsehn nach dem jungen Mann.«
Sie dachte natürlich sofort an Franz Lück und über ihn hinaus an die Zeitung. Jedenfalls wäre man der Zeitung ein großes Stück näher gekommen, wenn Franz Lück hier arbeiten könnte. Wie sich die Geschichte dann aber weiter entwickeln würde, war ihr allerdings noch nicht klar. Es hing alles von der Art der Zusammenarbeit ab. Und diese Zusammenarbeit müßte zunächst einmal erst funktionieren.
Für den nächsten Abend war ein Zusammentreffen mit Franz Lück sowieso vorgesehen. Sie mußte überlegen, wie sie dem Genossen Franz Lück die Sache schmackhaft machen konnte, ohne gleich die ganze Idee preiszugeben. Vielleicht wird er sagen: Liesa, ich steh unter Beobachtung. Du vielleicht auch schon. Alles andere hängt dann von der Kombination der Leute ab, die uns beschatten. Dabei wird die Druckerei eine wesentliche Rolle spielen. Du lieferst deinen Vater einer Gefahr aus, in die er sich gar nicht hineinbegeben hat. Es liegt mir nichts daran, daß Menschen der Gestapo ausgeliefert werden, die nicht auf unserer Seite stehen, aber für uns bluten sollen.
So würde Franz Lück sicher sprechen. Und so ähnlich hatte er sich auch schon geäußert, als ein ähnlich gelagerter Fall vorgelegen hatte. Und er hatte es auch verhindert.
Es wäre schade, dachte sie, wenn die ganze Sache daran scheitern würde, daß Franz sich sperrt. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit, die Zeitung bei uns zu drucken.
Sie trafen sich wieder in Schliepers Laube. Hillmann, Martin und der Argentiner waren gekommen. Der Schuster hatte sich entschuldigen lassen, er mußte heute in seinem Keller bleiben und zwei Funktionäre, die vom Bezirk Prenzlauer Berg nach hier herübergewechselt waren, instruieren. Franz Lück hatte sich für eine Viertelstunde später 257 angesagt. Auf dem Tisch standen zwei Schachbretter, die Figuren waren so aufgestellt, als säße man über einem Spiel. Frau Schlieper war in der Nachbarlaube. Sollte ein Zwischenfall geschehen, und damit rechnete man immer, würde die alte Frau nicht einbezogen sein in die Untersuchung.
Otto Hillmann litt noch immer schwer an dem Mißgeschick, daß Etzien nicht mehr war. Sie waren aufeinander wunderbar eingespielt gewesen. So, als hätten sie in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan, als unterirdisch gearbeitet.
Der Argentiner gab Hillmann jetzt einen kurzen Bericht von seiner Arbeit in der Studentengruppe West. Von jedesmal dreißig Studenten, die aus dem Arbeitslager zurückkamen, waren durchschnittlich zwanzig entgeistert, fünf von diesen absolut für die illegale Bewegung gewonnen, drei erklärten, nur dann mitmachen zu wollen, wenn man eine Art Volksfront hätte (sie wollten nicht Kommunist, nicht Sozialist, sie wollten einfach Revolutionäre sein), der Rest schwankte noch, in welcher Form er seine Abkehr vom Nationalsozialismus äußern solle.
Hillmann fragte den Argentiner, ob es stimme, daß sich auf der Hochschule auch eine Terroristengruppe gebildet habe, und wer eigentlich dahinter stünde.
»Es scheint so, als ob ein paar Jungens solch eine Gruppe gebildet haben«, sagte der Argentiner, »und zwar schon im Arbeitsdienstlager, also ganz spontan unter dem Eindruck der Menschenschinderei. Wenn von diesen Leuten Terrorakte geplant sind, dann werden sie sich wahrscheinlich gegen Personen richten, die in der soldatischen Schinderei sich besonders hervorgetan haben. Und auch gegen bestimmte Einrichtungen, die unmittelbar mit dem Lager zusammenhängen. Also mehr ein Akt der privaten Rache, als eine politisch geführte revolutionäre Aktion. Das hat sich in den letzten sechs Monaten auch schon häufig geäußert. Für mich ist es ein Zeichen, daß diese Leute noch nicht einmal angefangen haben, in festen Begriffen politisch zu denken. Dazu müssen sie erst gebracht werden. Sie sagen zwar schon: ›Hitler? Nie wieder!‹ Sie wissen sich aber noch keine Antwort auf die Frage: Wohin gehören wir nun? An diesem Punkt der Krise setzt unsere Arbeit ein. Und wir können nicht sagen, daß man es uns leicht macht. Das Gift der naziotischen Phraseologie muß erst herauseitern aus dem Blut. Wenn wir diesen Prozeß beschleunigen, dann haben wir schon viel gewonnen.«
»Diese Art von Terroristen mag es bei euch geben, das leuchtet mir 258 ein«, antwortete Hillmann. »Und wenn Akte der Gewalt von ihnen ausgehen, dann schaden sie uns nicht, man wird bei der Gestapo sehr bald um die Urheberschaft wissen und die Gegenmaßnahmen nur nach dieser einen Richtung einsetzen. Ich habe aber von der Tätigkeit einer anderen Gruppe gehört, die nicht aus einer privaten Rachsucht heraus Aktionen plant und vollzieht. Getrieben von einer klaren, höchst eindeutigen politischen Idee. Die Aktivierung dieser Idee geschieht in einem großen Stil. Es stecken Köpfe und auch Geld dahinter. Die Arbeit der Illegalen ist ihnen nicht sichtbar genug. Sie wollen die teils deprimierte, teils gereizte Stimmung im Volk durch Zeichen und Wunder einfangen und schnell revolutionieren. Sie glauben, daß dieser Weg rascher zum Ziel führt als das planmäßige Organisieren und systematische Vorbereiten. Sie wollen die Stunde der Entscheidung in einem Zustand der Überhitzung reif werden lassen. Sie wollen unter allen Umständen zuerst Panik. In solchen Gedankengängen bewegten sich die Ausführungen eines Studenten, den ich vor einigen Tagen bei Robert Steg traf. Und ich war erstaunt, daß sowohl Steg als auch der Doktor Grätz sich entscheidende Wirkungen von dem Auftreten einer starken Terroristengruppe versprachen. Doktor Grätz wollte solche Einsätze allerdings nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen billigen. Dort, wo mit anderen Mitteln nicht heranzukommen war. Ich habe natürlich meine Gegengründe eingesetzt. Und es scheint so, als bin ich auch durchgedrungen mit meiner Ansicht, daß wilde Aktionen, wie sie sich dieser Student vorstellte, Dinge aus dem Handgelenk heraus, uns keinen Pfifferling nützen, aber enorm schaden. Denn wir haben ja Beispiele dafür.«
»Ich kann mir denken, um wen es sich handelt bei dieser Gruppe«, erwiderte der Argentiner. »So ganz fern stehen diese Leute uns nun doch nicht. Ich möchte sagen, es sind die gleichen, die Tumbich beseitigt haben. Und der Kommissar Horn von der Gestapo kommt wahrscheinlich auf ihr Konto. Sie haben also Gegner getroffen und vernichtet, an die wir normalerweise nicht herangekommen wären. Sie haben uns Hindernisse aus dem Wege geräumt. Und meiner Meinung nach sind solche Aktionen durchaus gutzuheißen. Denn sie bringen das Kleinbürgertum, womit jetzt viele von uns sehr rechnen und umgekehrt ist es auch der Fall, nicht gegen uns auf. Es wird Sympathie für uns gewonnen und vor allem die Unentschlossenheit mancher Genossen durch die gegebenen Beispiele beseitigt. Das sind Pluszeichen.«
»Wenn das Verschwinden des Schuftes Tumbich auf das Konto dieser 259 Gruppe kommt«, hakte Martin jetzt ein, »dann ist uns in der Tat ein großer Dienst geleistet worden. Und wir haben keine Ursache, zu sagen: Man behindert uns in der planmäßigen Arbeit. Im Gegenteil, man kann nur wünschen, daß noch mehr von dieser Sorte Tumbich verschwinden, Beilke, Lachmann, Schweizer . . . und wie sie sonst alle heißen, an die wir nicht herankommen. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß Tumbich und Beilke allein mindestens hundert von unseren besten Genossen auf dem Gewissen haben. Die Art und Weise, wie dieser Tumbich endlich verschwand, deutet darauf hin, daß man sich bei der Gruppe sehr klar darüber ist, wie man solch eine heikle Sache anzupacken hat. Es wird der Gestapo schwerfallen, Gegenmaßnahmen nach einer bestimmten Richtung hin zu treffen. Denn sie tappt in einem völligen Dunkel herum. Gerade weil diese terroristischen Demonstrationen sich abseits von großen Affären abspielen und weil sie die verschiedensten Mutmaßungen über die Urheberschaft zulassen, sind sie wichtig für uns und bedeuten auch eine vorwärtstreibende, revolutionäre Tat. Wenn der Genosse Argentiner Fühlung mit dieser Gruppe bekommen könnte, es sollte gewiß nicht zum Schaden für uns sein, denke ich.«
»Fühlung ja, Martin. Aber nicht Einbeziehung in unsere Organisation«, antwortete Hillmann.
»Weshalb nicht wenigstens als Untergruppe?« fragte Martin.
»Ich bin für unbedingte Hingabe an die Disziplin; die terroristische Gruppe sträubt sich gegen jede von einem unsichtbaren Organisationszentrum her angeordnete Marschrichtung.«
»Wären sie ein undisziplinierter Haufen, Hillmann, wie erklärst du dir dann die Erfolge?«
»Aus der Augenblicksspannung zur individuellen Tat. Individuell, auch wenn es ein Dutzend Köpfe sind, die die Tat aushecken und auch gemeinsam vollziehen, oder durch das Los einen bestimmen. Wo aber bleibt der Wille der Masse? Und die Wirkung auf die Masse? Du wirst doch nicht behaupten wollen, daß das Verschwinden von Tumbich und der Überfall auf den Kommissar uns ein paar hundert Menschen mehr zugeführt hat, spontan, unter dem Eindruck der Geschehnisse? Die terroristische Gruppe will keine Massen hinter sich, obwohl sie für die Befreiung der Masse arbeitet.
Der Dreistunden-Streik bei Schwartzkopf aber, der wie ein Lauffeuer durch alle Betriebe gerast ist, der wird uns bei den nächsten Vertrauensräte-Wahlen zehntausend Stimmen mindestens einbringen. Siehst du, 260 darauf kommt es an. Es kann den braunen Bonzen nicht gleichgültig sein, wenn in einem Betrieb, der eine Belegschaft von 2000 Mann hat, 1500 Stimmen ungültig sind. Und das haben wir jüngst erst in Essen erlebt. Den Fall Tumbich nimmt man hier im engeren Bezirk mit Genugtuung zur Kenntnis, bei den wenigen, die überhaupt davon erfahren. Der so überraschend schnell gewonnene Streik aber, der wird in allen Betrieben noch wochenlang diskutiert werden. Der wird den Herrschaften oben den Kopf heiß machen. Weil sie mit der Gestapo nicht herankommen. Weil sie genau wissen, wie das Abbröckeln ihrer Macht auf die hellhörige Masse wirkt. Sie wissen sich vorläufig auch noch kein Mittel, diese Wirkung zu verhindern. Und sie wird jedem immer augenscheinlicher. Und jeder macht sich schon einen Vers darauf.«
»Angenommen«, fragte jetzt der Argentiner, »der Terrorakt träfe nicht einen der hundert Tumbichs und nicht einen der hundert Gestapo-Kommissare, sondern den höchsten Funktionär der Macht . . . das wäre immerhin doch möglich, daß auch solch ein Akt von der Gruppe einmal erwogen wird?«
»Selbst dann wäre für uns nichts Umwertendes gewonnen. Denn diese Stelle würde ein anderer Funktionär einnehmen und zehntausend der Unsrigen in den Konzentrationslagern abschlachten lassen.«
»Aber die Verwirrung im Volk, die diesen obersten Funktionär für unverwundbar hält und unersetzbar?«
»Diese Verwirrung vollzöge sich unter dem Druck des Belagerungszustandes und im stählernen Ring der Maschinengewehre und Flugzeuge, in den Bahnen, die das Militär für angemessen halten würde in diesem Fall. Und es wäre außerdem auch noch ein Märtyrer geschaffen, an dem sich, wenn das Militär es für erforderlich hält, der Faschismus aufs neue und noch heftiger entzündete. Und anstatt daß man einen Betrüger entlarvt hat und damit dem Faschismus den dekorativen Aufputz aus der Hand geschlagen, würde der Aufputz jetzt vergoldet werden und in den Kirchen aufgestellt.«
Mit dieser Ansicht Hillmanns war eigentlich keiner von den Anwesenden einverstanden. Auch Franz Lück nicht, der inzwischen gekommen war und jetzt auch gleich das Wort nahm: »Ich will nicht behaupten, daß wir, wenn wir Hillmann folgen, und damit folgen wir im großen und ganzen ja auch dem Aktionsprogramm der Zentrale, einen falschen Weg gehen, besser gesagt: einen Umweg machen. Es wird niemand von uns glauben wollen, daß jetzt schon eine Möglichkeit vorhanden ist, auf die Straße zu gehen. Im Gegenteil: Je 261 unsichtbarer wir heute arbeiten, um so größer ist die Wirkung unserer Arbeit. Weil das Leben im Unsichtbaren für den größten Teil der Masse noch der augenblicklich erträglichste Zustand ist. Und wenn viele verzagen, daß von uns aus nichts Sichtbareres geschieht und daß die Mißwirtschaft der Braunen, die jeder am eigenen Leibe verspürt, schon viel zu lange gedauert hat, daß der revolutionäre Umschwung sich so entsetzlich viel Zeit nimmt . . . dann ist damit noch nicht gesagt, daß die Masse unserer Organisation skeptisch gegenübersteht und meckert: ›Mit Flugblättern und illegalen Zeitungen allein stürzt ihr dieses braune Ungeheuer nicht!‹ Aber, und damit nähere ich mich dem Standpunkt des Argentiners, es kommt nicht allein auf die Erfolge in den Betrieben an, bei den Proleten, die an Disziplin gewöhnt sind und auch immer noch wissen, was wir mit Disziplin früher alles erreicht haben. Selbst wenn die Erfolgsziffern, was Zellen und den Absatz unserer Zeitungen anbetrifft, in kürzester Frist sich verdoppeln würden: es kommt trotzdem auf sichtbare Zeichen an. Auf solche natürlich nur, die den Faschismus an seiner empfindlichsten Stelle treffen und damit auch die Gefühle der Masse zu unseren Gunsten bewegen. So etwas schwebt den Kameraden der Studentengruppe als Idee vor, als der längst erwartete große Schlag. Und nicht diesen Intellektuellen allein, sondern auch der Jugend, mit der ich ja eine enge Fühlung habe. Nur von dieser Jugend allein kann die Idee zur Reife gebracht und als eine entscheidende Tat sichtbar gemacht werden.
Natürlich kann ich mir vorstellen, daß Meutereien in den Arbeitsdienst-Lagern, an zehn, zwölf Stellen zu gleicher Zeit ausgebrochen, von einiger Wirkung wären. Und davon wird man demnächst ja auch hören. Von welcher Wirkung aber ein Massenstreik mit der Losung: ›Öffnet die Tore der Konzentrationslager! Gebt unsere Genossen frei!‹ wäre, das scheint mir wert, darüber nachzudenken.«
»Von gar keiner Wirkung, Franz!« antwortete Hillmann.
»Es gibt auch noch andere Losungen.«
»Vordatierte, Franz.«
»Wenn du mir von vornherein schon die Luft abschneiden willst . . .«
»Du kannst, wenn du die Hälfte des Weges zu einem bestimmten Ziel erreicht und die äußeren Umrisse des Zieles auch schon vor Augen hast, nicht plötzlich stillstehn und sagen: hier will ich Rast machen und mir ein paar Flügel bauen, damit ich schneller hinkomme. Du denkst an das Bauen, obwohl du gar nicht einmal das Material dazu hast und auch nicht die technische Fertigkeit, dir solche Flügel 262 herzustellen. Du fertigst dir sie aber, so gut du es vermagst, aus behelfsmäßigen Dingen an und kommst vielleicht auch ein Stück vorwärts damit. Und dann ist der Absturz da, und du mußt den ganzen Weg als Krüppel noch einmal von vorne beginnen.«
»Die Parabel ist gut gemeint. Es muß trotzdem dabei bleiben, daß heute alles darauf ankommt, die Zeit abzukürzen.«
»Das haben wir im Weltkrieg auch gesagt, Franz. Und was für Ideen haben wir nicht alles gewälzt, um den Weg zu finden, der uns schneller zum Frieden führt. Es waren auch genug Leute da, die sich für Sabotage und Terror stark machten. Und manches auf diesem Gebiet geschah ja auch. Wirksam war aber doch nur die planmäßige Aufklärung, die Zersetzung der von den Kapitalisten und Heereslieferanten mißbrauchten vaterländischen Idee, die Organisation der Kriegsopfer, der Kriegsmüden, der Kriegsgegner und dieser aller Willen zu einem entscheidenden Schlag.«
»Kein Vergleich mit heute, Hillmann«, rief Martin. »Schließlich war ich ja auch draußen und hier ein halbes Jahr in den Lazaretten.«
»Ein ungefährer Vergleich, Martin.«
»Auch kein ungefährer, Hillmann«, erwiderte Franz Lück. »Ich weiß aber, daß ihr gern mit diesem Vergleich spielt. Weil es einfacher ist, mit alten Beispielen zu arbeiten als mit neuen Ideen. Damals ist es sehr leicht gewesen, aus einer populären Idee eine revolutionäre Formel zu schaffen, die jedem an die Nieren ging, ob er nun Bürger war oder Arbeiter: Frieden!
Eine Idee von solch einer Tragweite ist noch nicht da. Glaubt ja nicht, daß es einfach die wäre: ›Nieder mit dem Faschismus!‹ Obwohl dieser Ruf schon über den ganzen Erdball läuft. Deshalb müssen wir einstweilen noch zu jeder Sache greifen, die uns nützt, ob sie nun hineinpaßt in das Programm oder abgelehnt wird von ihm. Sachen, die uns nützen und dem Gegner Schaden zufügen.«
»Ich kann nur wiederholen, abwegige Ideen werfen uns zurück. Und wir werden schnell vorwärts kommen, wenn ihr mehr Geduld mit euch und mit uns habt. Ich denke, darüber diskutieren wir noch in einer anderen Form und an einer anderen Stelle ausführlicher.«
Liesa Schimmel mußte Hillmann recht geben. Es war alles noch in Gärung und in einem Übergang. Altes und Neues in einem wirren Durcheinander. Und sie dachte, sprach es aber nicht aus: Nur Sammlung und die Zeit, die für uns arbeitet, werden die notwendige Klärung 263 und die großen Aktionen bringen. Sie behielt es sich vor, in einem Artikel näher darauf einzugehen.
Hillmann besprach jetzt mit Franz Lück, Martin und dem Argentiner ein paar rein lokalorganisatorische Fragen. Und hier wurden sie schnell alle einer Meinung. Die Kenntnisse der Sachlage im U.B.-S, so wie sie von Hillmann geäußert wurden, verblüffte oft die anderen. Seine Ausführungen hatten Kopf und Fuß und stießen nicht in das Ungefähre. Er blieb immer auf dem Boden des Tatsächlichen und Möglichen. Es mußten wohl viele Fäden zu ihm hinführen, dabei war er nicht einmal Mitglied der Zentrale, sondern nur einer der Verbindungsmänner.
Es ging schon auf die dritte Morgenstunde zu, als sie sich trennten. Martin, der Argentiner und Hillmann wollten bis zur Hauptstraße hinuntergehen, einen schmalen Weg durch das ganze Laubengelände. Franz Lück hätte sich anschließen können, aber er glaubte, er müsse Liesa Schimmel nach Hause bringen. Sie sagte zwar, daß sie sich nicht fürchte, allein zu gehen. Jedoch Franz Lück merkte, daß ihr sehr daran gelegen war, daß er sie begleite.
Und kaum hatten sie sich von den Genossen verabschiedet, da schoß sie auch schon auf ihr Ziel los: »Du hast doch schon an der Tiegelpresse gearbeitet, Franz?«
»Tiegel- und Schnellpresse, zuletzt bei Meisel.«
»Was tust du vormittags?«
»Wenn die Arbeit in der Nacht lang war und aufregend, dann schlafe ich bis Mittag, zu Hause, bei dem Schuster oder irgendwo in einer Laube.«
»Würdest du Arbeit annehmen für den Vormittag?«
»Wenn ich welche bekäme, weshalb denn nicht? Vier Wochen Arbeit, das brächte den zivilen Menschen ein Stück weiter.«
»Kennst du meinen Vater?«
»Das nicht. Braucht er einen Gehilfen?«
»Ja . . . vielleicht schon am Montag. Aber unter Tarif.«
»Dafür ist Schimmel bekannt. Von diesen kleinen Krautern zahlt heute selten einer noch nach Tarif.«
»Es läge mir sehr viel daran, wenn du kämst.«
»Arbeitest du jetzt etwa mit in der Bude?«
»Ja, ich setze.«
»Maschine?«
»Nein, die haben wir noch nicht.«
»Wann soll ich zum Alten kommen?« 264
»Morgen vormittag; ob er dich aber gleich einstellt, ist noch unbestimmt.«
»Ein unnützer Weg mehr oder weniger. Wenn es dir aber Spaß macht?!«
»Nicht mir allein, Franz. Ich glaube, es wird auch dir Spaß machen. Das nämlich, was ich dir heute noch nicht sagen möchte, weil es noch nicht gar ist, aber gar werden kann, wenn du erst einmal da bist.«
»Das kann ja gut werden!«
Sie bogen jetzt in die leere Querstraße ein, die machte einen ganz verödeten Eindruck, als hätte man dieses Viertel geräumt. Die Häuser buckelten sich hoch wie hintereinander aufgeschüttete Geröllhalden. In einem Torweg, der Liesa Schimmels Haus schräg gegenüberlag, blieben sie stehen.
Liesa fragte: »Hat die Diskussion vorhin dich befriedigt?«
»Ja, obwohl sie keine Klärung gebracht hat. Vielleicht ist es auch noch nicht notwendig. Was wir vorerst brauchen, das ist geklärt.«
»Wenn ich dir jetzt zustimmen würde, Franz, dann müßte ich glauben, ich arbeite in die Vergangenheit zurück, in jene, die zu morsch und zu müde war, das Unheil aufzuhalten.«
»In dieser Vergangenheit steckten wir auch, in dem Augenblick, als die SPD den Generalstreik verhindert hat. Du bist mit den Vergangenheiten nicht groß geworden. Ich aber bin darin aufgewachsen. Deshalb ist ihr Nachwirken für mich auch nicht so unheimlich.«
»Wir leben aber doch in einem Anfang.«
»Du bist ein Anfang . . . ein Kind, vom Himmel gefallen.«
»Wir alle müssen wie vom Himmel heruntergefallen sein. Denn das Gestern gilt für niemanden mehr.«
»Es gilt nicht; das ist gewiß. Aber die Tiefe, in der wir jetzt hocken, darin klebt noch viel Vergangenheit herum. Mit der einen Hand müssen wir sie loskratzen und mit der anderen müssen wir uns wieder hochzuwinden versuchen.«
»Von hier aus gesehen, gewiß, da müßte einem manches verständlich werden.«
»Schließlich hast du ja auch Hillmann recht gegeben.«
»Nur bedingt; war es falsch?«
»Ja und nein.«
Sie gab ihm jetzt die Hand. Es ging ein Rieseln durch sein Blut, als er die warme Sanftheit fühlte. Sein Herz begann schneller zu klopfen. 265
Er roch heute den seltsamen Geruch ihres Haares. Aber er sagte kein Wort. Er hielt nur die Hand.
Liesa sagte: »Es wird jetzt hell, Franz. Und ich werde vielleicht noch eine halbe Stunde darüber nachdenken, wo das Ja aufhört und das Nein anfängt.«
Von den reglos herunterhängenden Bäumen tropfte der Tau. Er ließ ihre Hand jetzt los. Sie gingen quer über die Straße, und Franz blieb noch so lange bei Liesa stehn, bis sie das Haustor aufgeschlossen hatte. Und als sie ihn ansah, mit Augen, die mit einem Male einen ganz anderen Ausdruck hatten, da sagte er kurz: »Eigentlich hätte ich dir noch einen Kuß geben wollen, weil ich dich lieb habe, Liesa!«
Und ehe sie antworten konnte, war er schon davon. Und wenn die Überraschung nicht so groß gewesen wäre, vielleicht würde sie hinter ihm her gelaufen sein.
Als es Franz Lück einfiel, Liesa Schimmel über das Resultat des Nachdenkens zu fragen, über dieses Ja und Nein, das er geäußert hatte, weil sie gefragt hatte, ob es falsch gewesen sei, Hillmann recht zu geben, da war er schon in der dritten Woche bei dem alten Schimmel beschäftigt. Und es war gerade die eine Stunde zwischen halb zwölf und halb eins, als die drei anderen Leute ihre Mittagspause machten und der alte Schimmel im Kontor saß und Rechnungen schrieb.
Als Antwort auf die Frage holte Liesa aus dem untersten Fach des Schrankes eine vollständige Form Satz heraus und zeigte sie Franz: »Ich habe zwei Seiten von ›Auf der Wacht‹ gesetzt. Meine Antwort auf deine Frage kannst du im Leitartikel nachlesen.«
Er warf einen kurzen Blick auf den Satz, und sie sah, wie ein fiebriges Rot über sein Gesicht lief und stehenblieb. Und daß er hinter den geschlossenen Lippen die Zähne fest zusammenbiß. Dann sah er auf und Liesa scharf ins Gesicht hinein: »Du willst deinen Vater der Gestapo ausliefern?«
»Es kommt nur darauf an, Franz, ob du mir die Zeitung willst drucken helfen.«
»Hier . . .?«
»Ja . . . aber so lange nur, bis wir wieder einen eigenen Laden aufmachen können.«
»Wie stellst du dir das vor?«
»Ich habe es mir sehr genau überlegt, Franz. Du kommst von morgen ab erst nachmittags um drei und arbeitest bis um acht. In den zwei Stunden nach Feierabend, wenn wir beide hier alleine sind, drucken 266 wir abwechselnd zwei Seiten Zeitung und die Prospekte für die Seifenfabrik.«
»Das wäre eine Idee. Aber der Alte?«
»Ich richte es so ein, daß er uns nicht stört.«
»Gut, ich werde mittun; einmal, um zu verhindern, daß deinem Vater etwas passiert, und zum anderen, daß du endlich wieder zu deiner Zeitung kommst. Eher wirst du ja doch nicht Ruhe geben.«
»Zu meiner Zeitung? Gehört sie denn nicht den Genossen?«
»Allerdings; und sie warten ja auch schon darauf.«
Als nach acht Tagen die neue Nummer der Kampfzeitschrift »Auf der Wacht« zirkulierte, fragte der Argentiner den Genossen Otto Hillmann: »Ihr habt neue Leute bekommen? Ich meine, in der U.B.-Leitung?«
»Inwiefern?«
»Jedenfalls habt ihr für die Zeitung einen neuen Leitartikler.«
»Einen neuen alten. Einen, dem der Schnabel inzwischen hart geworden ist und der nur das aufpickt und verdaut, was sich im Heute bewegt und nicht schon im Übermorgen.«
»Dann ist mir nicht bange, Hillmann, daß es hier, nach dem letzten Schock mit Etzien, auch wieder voran geht.« 267