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Die Buchen und der Ahorn brannten schon feuerloh in den Herbst hinein, obwohl der September erst begonnen hatte und das Wasser der See noch so lau war, daß man es wirklich nicht verstand, weshalb die Badegäste in Scharen abreisten. Was sich jetzt noch in den späten Vormittagsstunden im Freibad sehen ließ, konnte man an den Fingern abzählen. Um so ausgedehnter aber wurden die Spaziergänge in den hügeligen Wäldern, die bis nach Saßnitz reichen. Meist waren diese wenigen der noch gebliebenen Gäste ältere Leute: Pensionierte Beamte, kleine Kaufleute und Handwerksmeister. Einige von ihnen sogar mit der Absicht, bis in den November hierzubleiben. Solange wie nur möglich fort von dem irrsinnigen Betrieb in den Großstädten, von den nicht mehr abreißenden Umzügen der Hakenkreuzbataillone und den die Arme hochreißenden Bürgern auf den Gehsteigen.
Hier, in den schmalen, holprig gepflasterten Gassen des Fischerdorfes, am Strand und in den Wäldern, sah man selten ein Braunhemd. Hier rasselten auch nicht Tag für Tag die Trommeln. Hier war man nicht gezwungen, den Radiolärm der Nachbarwohnungen mitanzuhören, diese ewigen Militärmärsche und zu Papierblumen verkitschten Volkslieder.
Eine Oase des Friedens, ein endliches Wieder-allein-Sein mit dem Ich, eine Luft, ruhig und tief Atem zu holen, ein Ort der Besinnlichkeit und des Sich-wieder-Sammelns . . . dieses herbstliche Lohme auf Rügen.
Alma hatte dieses stille und abseitige Lohme bisher noch nicht gekannt. Von den Ostseebädern überhaupt nur wenige: Kolberg, Warnemünde und einmal auch Hiddensee. Der Ort Kloster auf Hiddensee ist die Sommerresidenz Gerhart Hauptmanns, der Fridericus-Rex-Maske (genannt: Otto Gebühr) und war einst auch der Tummelplatz der jungen Spieler von Bühne und Film und der kleinen dichtenden, musizierenden und malenden Mädchen vom Kurfürstendamm zu Berlin, der 351 anspruchslosen Sommer-Nutten mit schlanken, rassigen Beinen und anderen Attributen des Sex-Appeal.
Und sie wären beide, Doktor Grätz und Alma, nie auf dieses Lohme gekommen, wenn hier nicht der Fischer Christian Schluck gelebt hätte. Christian Schluck war für die illegale Arbeit eine unschätzbare Kraft. Über ihn gingen alle geheimen Verbindungen nach Schweden und Dänemark. Er beförderte mit seinem Fischkutter Personen und Post. Und er war gerade jetzt, das heißt seit acht Tagen schon, mit Doktor Grätz nach der dänischen Insel Möen unterwegs. Von Möen wollte Doktor Grätz zuerst nach Kopenhagen und dann für acht Tage nach Stockholm zu einer wichtigen Konferenz. Und von Möen sollte ihn Christian Schluck auch wieder abholen und nach Lohme zurückbringen. Es war ein erprobter Weg, von den Kurieren noch niemand dabei verunglückt.
Bis zur Rückkehr von Doktor Grätz war Alma hier allein mit Etzien. Sein Gesicht war jetzt vollständig ausgeheilt und dem Mund auch etwas Stimme wiedergegeben durch mühselige Operationen an Kehlkopf, Gaumen und Zungenbändern. Von einem jedermann gut verständlichen Sprechen konnte man allerdings nicht reden, wenn man diese rauhverhauchte, auf wenige Vokale und Konsonanten beschränkte Stimme hörte. Aber Alma, die ihn elf Wochen lang im Haus von Robert Steg gepflegt hatte, ihn herumgeführt durch die Wiesen und auf den Uferwegen, verstand jetzt schon jedes Wort. Die meisten erriet sie allerdings. Doch ihre Einfühlung in das Innenleben dieses von der braunen Barbarei furchtbar zugerichteten Menschen; die beruhigende Art, mit der sie auf ihn einwirkte, hatten aus einem völlig gebrochenen Mann wieder ein empfindsames und den Dingen der Gegenwart zugewandtes Wesen gemacht.
Es war wirklich ein guter Einfall von Doktor Grätz gewesen, daß er die beiden nach hier mitgenommen hatte. Er bezahlte die Kosten für den Aufenthalt von Etzien. Er hatte außerdem noch vor, Etzien von einem Spezialisten zum Maschinenschreiber ausbilden zu lassen. Die guten Erfolge, die man mit den Kriegsblinden erzielt hatte, sollten jetzt auch Etzien zugute kommen. Er galt hier in dem kleinen Badeort allgemein als Kriegsblinder. Auch hieß er, seinen Papieren nach, nicht mehr Etzien, sondern Stahnke. Irgendeiner von den unzähligen Stahnkes, die in Berlin herumliefen. Von den Agenten der Gestapo hätte ihn auch sonst so leicht niemand wiedererkannt. Selbst die schwarzen Folterknechte würden es nicht vermocht haben, die drei Viertel von dem äußeren Menschen Etziens ermordet hatten. Schon die Nase allein war nicht mehr die 352 des einst gewesenen Etzien. Und auch sein Haar hatte sich schneeweiß gefärbt, unmittelbar nach jener Nacht, als sie ihm die Salzsäure über das Gesicht gegossen hatten.
Und wenn man, nicht ohne Grund vielleicht, hätte glauben mögen, daß ihm das politische Wirken, die kämpferische Entschlossenheit durch die schrecklichen, nach menschlichen Begriffen kaum möglichen Erlebnisse ein für allemal verleidet worden wären, dann täuschte man sich. Die revolutionäre Glut brannte weiter in ihm fort. Seine Gedanken waren aktiv bei der Sache. Es belastete ihn nur, daß er nicht mehr richtig sprechen konnte, nicht lesen, vor allem aber nicht sehen. Oft war er Zuständen nahe, jetzt noch, nach fünf Monaten der Geschehnisse in der Folterkammer. Und Alma hatte dann eine schwere Last mit ihm. Nur durch die beruhigenden Wirkungen, die von ihren Händen und von ihrer Stimme ausgingen, zerflossen die Anfälle und arteten nicht aus. Mit der Zeit wurden sie auch immer seltener. Er freute sich auf die Maschine und sagte, dann würde er das alles schriftlich ausdrücken können, was an ihm herumriß, was an ihm zerrte, was ihn bewegte und wohin es sich noch auswirken möchte.
»Ja . . . liebe Schwester Alma (er nannte sie nie anders als Schwester, obwohl sie ihm schon viel aus ihrem Leben erzählt und er ihren früheren Mann sogar persönlich gekannt hatte), aus dem einstigen Gelegenheitsarbeiter und Stempelbruder wird wohl doch noch ein Schriftsteller werden. Nicht ein Intellektueller, denn dann müßte ich ja auch noch studieren und ein Examen machen. Aber ich möchte doch einiges aus meinem Leben aufschreiben, für meine Klassengenossen, die werden mich ja auch noch am ehesten verstehen. Eine andere Sprache als die ihre habe ich nie gesprochen. Und wenn das Zeug, das ich mir in meinem Gehirnkasten zusammenstoppeln werde, manchmal auch nicht haargenau stimmen wird, ich meine: in der richtigen hochdeutschen Schreibweise, dann werden Sie mir wohl helfen müssen. Blamieren möchte ich mich natürlich nicht vor den studierten Leuten. Ich kann zwar nichts dafür, daß ich bloß die Volksschule besucht habe. Für das Geld, das der Besuch der höheren Schule gekostet hätte, mußte mein Vater Brot kaufen. Und ein Stipendium bekam damals nur jemand, der den Pfaffen nachlief oder dessen Vater im Kriegerverein marschierte.«
»Sie werden so schreiben, Otto, wie Sie es eben können. Das Orthographische, wovor Sie Angst haben, ist nebensächlich. Wenn Sie so schreiben, wie Sie jetzt erzählen, dann ist es richtig. Und es wäre eine Fälschung, würde man daran etwas ändern.« 353
Von der Blinden-Schreibmaschine und dem, was er auf dieser Maschine alles schreiben wollte, sprachen sie oft auf ihren Spaziergängen. Er konnte schon ganz leidlich ausschreiten und ging sicher in ihrem Arm, nur etwas vorsichtig-zaghaft noch, wenn die Wege bergab führten. In Rangsdorf, bei Robert Steg, wo er zuerst längere Strecken hatte gehen lernen, war alles flach, hier aber ging es bergauf, bergab. Das stärkte die Muskeln und gab der ganzen Körperhaltung mehr Sicherheit. Und dann die reine, von der See gefilterte Luft, der Geruch des abwelkenden Laubes, das Gestreichel des immer ein wenig feuchten Windes und die Stille. Die Stille!
Die Beruhigungen, die über seine Nerven hinliefen, gaben ihm mehr und mehr die Kraft, auch dieses halbdemolierte Leben mit wachen Sinnen zu leben.
Auf einem Spaziergang, der sich bis zum Herthasee ausdehnte, wurden sie von einem Lohnfuhrwerk plötzlich angehalten. Der Herr, der neben einer Dame im Wagen saß, rief Frau Alma einen Guten Tag zu. Sie erkannte ihn nicht sofort. Als er aber ausstieg und auf sie zukam, da wußte sie endlich, wer es war. Ein sonst in München domizilierender Schriftsteller namens P., mit dem sie, vor Jahren einmal, im gleichen Kurhotel in Baden-Baden gewohnt hatte. Und häufig sind sie auch Tischnachbarn gewesen und im Plaudern auf der Kurpromenade sich noch nähergekommen, in Gesprächen über Musik und Literatur.
Und als der Schriftsteller P. Frau Alma (natürlich auch den braven Kriegsinvaliden) einlud, mit ihm nach Saßnitz zu fahren, er würde selbstverständlich auch den Wagen für die Rückfahrt stellen, da sagte sie nicht nein, denn sie hatte das Gefühl, daß Otto Lust zu haben schien, einen berühmten Schriftsteller aus der Nähe zu erfahren. Er dachte nicht etwa: Kollege; derlei Gedanken kamen ihm gar nicht. Und sie hätten auch nicht den geringsten Reiz für ihn gehabt. Es könnte aber doch eine neue Erfahrung daraus werden, dachte Alma, ein Erlebnis vielleicht, von dem Otto in einem guten oder bösen Sinn profitieren würde.
Das junge Fräulein im Wagen, weißblond, mit einem frischen, natürlichen Gesicht, mit meergrünen Augen und einer hellen Stimme, schwärmte anscheinend für den behäbig-breiten Dichter. Ein romantischer Schwarm, mit verschämtem Augenaufschlagen und häufigem Erröten. Eine Waldblume mit Untergründigkeiten. Sie mußte sich jetzt vorn zum Kutscher setzen, der Schriftsteller nahm auf dem Notsitz im Fond Platz. 354
Es war eine wundervolle Fahrt durch das kupfrige Licht der Buchen, den Wellenschlag der See im Ohr und aus dem Unterholz herauf den Modergeruch von Laub, vermorschten Hölzern und reifen Beeren. Es wurde anfangs auf dieser fast zweistündigen Fahrt nur wenig gesprochen. Der Schriftsteller P. pries in dann und wann hingeworfenen Sätzen die herbe Schönheit dieser nordischen Landschaft, dem unterirdisch rinnenden Blut der Erde ganz nahe. Die Spuren der Götterwelt, Hünengräber und das Märchendunkel des heiligen Sees germanischer Opferungen.
Alma hatte in den letzten Jahren wenig von P. gelesen. Dann und wann eine kleine Erzählung in Fischers Neuer Rundschau, die sie bis zum vorigen Jahr noch gehalten hatte. Es war ihr nicht mehr frisch in der Erinnerung, ob dieser P. schon immer zu den Leuten gerechnet wurde, die mit Ackerschollen und Saatgelände, Bauerntum und Volkheit um sich warfen. Derlei Erdmystik hatte ihr nur bei den Worpswedern zugesagt. Das war allerdings schon mehrere Jahrzehnte her. Und im Nacherlebnis hatte sich nur das Werk der Paula Modersohn gehalten.
Sie hörten jetzt, fast am Ende der Fahrt, doch noch einen dichterischen Essay über die deutsche Landschaft und den in ihr verwurzelten Menschen. Die Formung des Ethischen aus diesem Einssein von Mensch und Erde. Der deutsche Glaube. Das deutsche Erlebnis. Sichtbar inkarniert in diesem holden jungen Mädchen. Der Schriftsteller drehte sich herum und strich über das Haar des Fräuleins.
Alma wußte jetzt genug. Der Name Hitler war zwar noch nicht gefallen. Aber die Erzählung von den Funden morscher Gebilde der Swastika an den Giebeln der alten Fischerhütten, im Steinwerk an den Stränden dieser See von Samland bis nach Fünen, die Runen auf den Opfersteinen und Spuren germanischer Kunstübungen im Gestein aus den Äckern herausgebrochen, in der der Schriftsteller sich jetzt ausbreitete, inspiriert von dem Geruch und Gefühl des Blondhaares, sagte Alma deutlich genug, wessen Wesens dieser satt und zufrieden in die Welt hineinlächelnde Mann war. Sie bereute jetzt das schnell hingeworfene Ja, nicht allein um ihretwillen; welche Welt tat sich vor Otto auf? In welche Spannungen wird er hineingedrängt, und welche Gefahr, daß die nur dünn verharschten Wunden wieder aufreißen könnten.
Sie nahm sich vor, das Beisammensein im Hotel so kurz wie nur irgend möglich werden zu lassen, die Teezeit über höchstens. Zum Glück dunkelte es jetzt schon um sieben. Und sie würde darauf drängen, bei Tageslicht noch nach Hause zu fahren.
Der Schriftsteller P. hatte bislang noch keine Frage an Otto gerichtet, 355 ihn auch kaum angesehen. Er hätte Alma immerhin nach der Ursache des Leidens fragen können und was man sonst noch so zu wissen wünscht, schon aus purer Höflichkeit. Es mußte etwas von Otto ausgehn, das dem Schriftsteller nicht behagte, das Gebrechen oder der Geruch der Armut. Er schäkerte aber ohne Pause mit der »Silbernen Stranddistel«, wie er das Fräulein poetisch nannte. Er rezitierte eine Strophe Eichendorff, von der er behauptete, sie sei in einer solchen Waldung, unter den Augen eines zarten menschlichen Erdgewächses, gedichtet. »Ich bin zwar vom Rhein, habe einen Tropfen der gallischen Froheit im Blut, ich habe in Bayern mein zweites Mutterhaus, aber dieser bitterwürzige Geruch der nordischen Küste macht mich direkt um zehn Jahre jünger. Dieses Gefühl hatte auch Meister Gerhart, als er mich nach so langer Zeit wieder einmal sah. Ich habe ihn natürlich besucht; ich traf dort auch meinen Landsmann Herbert Eulenberg. Bis in die späte Nacht hinein tranken wir einen wundervollen Rüdesheimer. Und früh um sechs sprangen wir von der Klippe ins Meer. Himmlische Ausgelassenheit: Wir drei tapferen Musketiere der deutschen Literatur!«
Als Alma sich erkundigte, woran Gerhart Hauptmann jetzt arbeite, erwiderte der Schriftsteller P.: »Fahren Sie doch einmal für ein oder zwei Wochen hinüber nach Hiddensee, logieren Sie im ›Dornbusch‹, heute absolut judenrein, die Heide blüht, Immortellen leuchten, und wenn Sie den Meister Gerhart noch nicht kennen sollten von Person und als Hausherr: ich gebe Ihnen meine Karte mit, ein reizender alter Herr, goethisch das mächtige, olympische Haupt, von Hitler schwärmt er ganz kolossal, sieht in ihm einen Sproß des Heliand und der großen hohenstaufischen Kaiser. Das wird auch der Inhalt seiner neuen dramatischen Dichtung sein.«
Otto rückte jetzt unruhig auf seinem Sitz hin und her. Es war ein Glück, daß die dunkle Waldlandschaft sich ihrem Ende näherte. Die ersten Villen tauchten auf. Und auf einem terrassenhaft vom Meer ansteigenden Hügel lag das Hotel, wo der Schriftsteller P. sich einlogiert hatte.
Das blonde Schwarmfräulein verabschiedete sich und entschuldigte sich auch zugleich: sie würde schrecklich gern noch geblieben sein, aber sie hätte jetzt leider Dienst am Büfett.
Der Schriftsteller P. führte Alma und Otto zu der offenen, von Pfeifenkraut dicht berankten Veranda. Er suchte eine vorteilhafte Ecke aus; es waren höchstens drei Dutzend Gäste in dem weiten, über dreihundert Personen fassenden Raum. Und dann entschuldigte auch er sich für zwei Minuten. 356
»Nun, Otto, das ist ein berühmter Schriftsteller, einer, der die Ergebenheitsadresse an Hitler unterzeichnet hat. Das ist mir leider erst unterwegs eingefallen. Was meinen Sie: Sollen wir diese Gelegenheit benutzen und uns stillschweigend empfehlen?«
»Dieser Kerl, das ist ja eine ganz andere Art von Nazi, die kenne ich noch nicht; einer mit Gemüt, nicht wahr? Ich denke, wir bleiben noch eine Ecke. Man muß lernen, wo nur sich einem die Gelegenheit dazu bietet. Und vielleicht fühlen Sie ihm nachher auch ein wenig auf den Zahn, wie er eigentlich zu der politischen Idee Hitlers und seiner Trabanten steht. Von diesem Blut und Boden hat er sich ja reichlich genug ausgeschwätzt. Komische Menschen, diese Schriftsteller. Der Robert Steg muß wohl kein richtiger Schriftsteller sein, denn ich habe ihn noch nie so verquer plappern gehört.«
»Wenn Sie nachher etwas sagen wollen, Otto, genieren Sie sich nicht. Wenn es der Herr P. nicht verstehen sollte, werde ich es ihm erklären.«
»Man lieber nicht. Ich werde schön artig sein und stumm bleiben, aber die Ohren noch ein Stück weiter aufmachen.«
Mit dem Tee-Gedeck kam auch der Schriftsteller P. wieder. Er hatte sich einen Erikastrauß von irgendwoher geben lassen und überreichte ihn Alma: »Der rosenrote Schaum dieser heidnischen Heide; Hiddensee ist bis über die Dächer rot davon.«
»Ich beneide Sie um die Schwedenreise und um den Umgang mit diesen nicht so leicht entzündlichen, aber dann auch um so herzlicheren Menschen. Ich habe schöne und wertvolle Erinnerungen«, antwortete Alma, weil sie befürchtete, daß mit den Blumen der Heide nun auch wieder die Götter einziehen würden.
»Die Schwedenreise ist nur eine Vorbereitung für die Weltreise, die ich in sechs Wochen anzutreten gedenke. Schweden ist mir sonst ein bißchen zu kühl, zu nahe an Rußland. Ich meine natürlich das Politische, nicht die Landschaft und die germanischen Belange des Volkhaften. Man hat meinen freundschaftlichen Besuch schon in der Presse avisiert. Sehr herzliche Begrüßung, direkt Nobelpreis-Stimmung. Ich bin natürlich der nächste deutsche Anwärter auf diese Ehre. Aber . . . ja . . . es war auch die Galle und das Grunzen eines Hetzers dazwischen, inspiriert höchstwahrscheinlich von einem Emigranten. Es macht eine Menge von dieser Sorte leider auch Schweden unsicher. Dort aber, wo es darauf ankommt, zählen sie natürlich nicht, die Juden.«
Alma bediente Otto so, daß er die Teetasse allein zum Munde führen konnte. Er besaß schon eine gute Übung darin. Und jetzt richtete auch der 357 Schriftsteller P. einige Worte an ihn. Otto aber nickte nur. Alma entschuldigte ihn, daß ihm, einer noch nicht völlig ausgeheilten Mundverletzung wegen, das Sprechen noch sehr schwerfalle. Und der Schriftsteller P. antwortete: »Ja, der Krieg! Ohne Opfer geht solch ein Ringen auf Tod und Leben um Deutschlands Größe und Ruhm nun einmal nicht ab. Aber wir haben jetzt immerhin noch die Genugtuung, daß uns Hitler endlich den Sieg verschafft hat, den uns der Feindbund und der Liberalismus im eigenen Land abgesprochen haben.«
»Sie reisen im Auftrag der Regierung nach Schweden? Sie stehn wahrscheinlich mit beiden Beinen in der Bewegung und sehen es als ein Glück für Deutschland an, daß die Herrschaft dieses Dritten Reiches da ist?«
»Ich muß doch annehmen, daß wir darüber uns einig sind. Denn ich kann es mir heute schlechterdings nicht mehr vorstellen, daß ein deutschblütiger Mensch gleichgültig oder gar abwehrend diesen unerhörten, alle Gefühle erschütternden Erlebnissen gegenübersteht.«
»Sie leben in den neuromantischen Gefilden dieser Geschehnisse, will ich zu Ihren Gunsten annehmen. Mit den realen Vorgängen haben Sie wahrscheinlich keine Berührung.«
»Gewiß, ich lebe zunächst meinem Werk. Aber mein Werk bezieht das Wesenhafte aus der neuen deutschen Bewegung. Und ich stehe ja auch nicht mehr allein mit meinem Wollen und Vermögen. Das in der Nation wieder erwachte Gefühl für die das Blut des Stämmlings nährende Landschaft kommt meinen Bemühungen um das Ethos von Landschaft und Volkheit in glückhafter Weise entgegen. Es ist heute nicht mehr so wie damals, als ich mein Buch ›Griechische Landschaften‹ schrieb.«
»An dieses Buch erinnere ich mich noch sehr gut.«
»Das freut mich, meine Gnädigste! Es wurde damals von den maßgebendsten Geistern Europas als der erste Versuch einer synthetischen Landschaftsbeschreibung begrüßt. Ich war mir damals, um 1913, noch gar nicht einmal so sehr bewußt, einer neuartigen Landschaftsbetrachtung die Wege gebahnt zu haben. Es war alles unbewußt in mir geschehen. Aus den Strömungen der Zeit kamen mir keine entscheidenden Anregungen. Sie wissen ja, daß damals die Hochblüte des Expressionismus war, die Zeit der Abirrung in allem, was aus Landschaft wuchs, der Rückfall in das Primitive, Niggerhafte, Untermenschliche. Und wir mußten erst durch die Stahlgewitter des Krieges gehn, um von allen krebsigen Auswüchsen und Rückbildungen gereinigt zu werden.« 358
»Sie bewegten sich damals aber doch in den Kreisen der Expressionisten. Und wenn ich nicht sehr irre, war auch der Stil Ihrer Prosa . . .«
»Sehr per Distanz, meine Gnädige!«
»Sie wollen damit sagen, daß es nur eine zufällige und nur äußerlich wahrnehmbare Übereinstimmung war und daß Ihr Weg von Anfang an die Zielrichtung in dieses Heute hinein hatte, zum Dichter dieser Bewegung.«
»Ohne den aktuell-politischen Behang natürlich. Dem nachzujagen ist immer nur das Bemühen und das Werk der Tagesschriftsteller gewesen. Ich bereitete allerdings auch dem neuen Journalismus den Boden vor für die mythischen Empfindungen und Erkenntnisse. Der Mythos der Landschaft ist in allen meinen bisherigen Werken das tragende Symbol gewesen.«
»Und jetzt lösen Sie sich vom Symbol und halten sich an die daseienden Dinge, an die Trommel und an die Peitsche?«
»Meine vornehmste Aufgabe ist jetzt, und darüber sprach ich unlängst auch in einer sehr anregenden Form mit dem Führer, der mich in der liebenswürdigsten Weise ermunterte, den Versuch zu machen, an einem Ausschnitt unserer Volksgeschichte die schicksalhafte Tragik des deutschen Volkes darzustellen. Dieser Aufgabe habe ich ja bereits zehn Jahre meines Lebens gewidmet. Und ich werde ihr, wenn es nötig ist, weitere zwanzig Jahre meines Lebens widmen. Meine Aufgabe hat mich gepackt und nicht wieder losgelassen. Sie wissen ja, wenn mein Werk noch lebendig vor Ihren Augen stehen sollte, daß ich drei verschiedene Anläufe gemacht habe, die Probleme, die ich in ›Volk auf dem Wege‹ darstellen will, dichterisch zu fassen. Dreimal habe ich wieder von vorne begonnen. Es ist etwas Hartes, dieser Kampf um die künstlerische Gestaltung einer Idee. Zehn Jahre habe ich mit dem Stoff gerungen, bis er sich mir fügte. Ich will in meinem Lebenswerk nämlich jenen breiten Gruppen von Auswanderern nachspüren und auf den Grund gehen, jenen, die Europa, die alte Heimat als überflüssiges Gepäck von sich warfen und innerlich unbelastet zu neuen Ufern aufbrachen. Und dann vor allem den anderen, die unbewußt das Erbe der Heimat mit sich herumtrugen und an diesem Erlebnis in der Fremde weitertragen. Es handelt sich hier um ganz verschiedene Arten von Menschen. Von solchen, die nach Nordamerika gingen, von anderen, die der Weg zuerst nach Rußland führte und von den weiteren Wanderungen nach Argentinien und Chile, dorthin also, wo mein Epos ausklingen soll. Mein Buch, eigentlich meine Buchreihe, wird eine Odyssee des deutschen Volkes, der 359 deutschen Seele werden. Es ist ein unverdientes und besonderes Glück, daß ich meinem Volk dieses Werk schreiben darf und dazu den Segen des Führers habe.«
»Sie aber doch nicht allein. Im ›Berliner Lokalanzeiger‹ liest man Berichte über die ehemals wolgadeutschen Bauern in Paraguay von einem jüngeren Schriftsteller. Und auch der behauptet, die deutsche Seele bei diesen Tabakpflanzern und Batatenbauern wiedergefunden zu haben, in ihren Trachten und in ihren Gesängen.«
»Sie können ja schon daraus ersehen, daß dieser Herr, ein Baltikumer übrigens, seine Reportagen im Lokalanzeiger publiziert, wie wenig wir miteinander gemein haben. Ihm geht es um Beschreibung, mir um Dichtung, ihm um Momentaufnahmen, mir um Gestaltung.«
»Und Sie betrachten jetzt diese Gestaltung als eine ganz spezielle, Ihnen vom Führer gestellte Aufgabe. Und Sie identifizieren sich wohl auch mit den Anschauungen, die er über die Literatur und die Künste öffentlich äußert. Und immer gleich mit heftigen Schimpfkanonaden gegen die Kunstübung, in welcher die Schollenmystik keine bedeutende Rolle spielt. Wo mehr das soziale Problem, die Klassengegensätze, das Antlitz und die mechanisierte Gewalt der großen Städte, das Grauen, das die Menschen durcheinander wirbelt, dargestellt wird. Das Kapital und die Armut. Das Starke und das Schwache. Der Ausbeuter und die Ausgebeuteten. Der Krieg und die Opfer. Alles in klaren, blanken, aufreizend sachlichen Sätzen, einem Maschinendiagramm nicht unähnlich.«
»Gott sei Dank, daß der Führer auch auf diesem Gebiet einen jeglichen Spuk mit der Wurfschaufel beiseite geräumt hat. Und das durch Staatsaktionen besiegelt, was ich schon um 1924 mutig als Einzelgänger forderte. Besinnen Sie sich noch auf meinen ›Offenen Brief an Thomas Mann‹? Damals schon hatte ich aller blutleeren Geistreichelei, aller Literatur um ihrer selbst willen, den schärfsten Kampf angesagt. Damals schrieb ich mir die Dinge vom Herzen herunter, für die die Erkenntnis in mir während der Kriegsjahre, ich kämpfte an allen Fronten mit Auszeichnung und als Offizier, und den fürchterlich unwürdigen Nachkriegsjahren herangereift war. Damals schon wies ich auf die tödliche Gefahr der Asphaltliteratur hin, auf diese Döblin, Brod, Heinrich Mann, Arnold Zweig, Sternheim, Toller, Becher und wie alle diese Reptile sonst noch heißen mögen. Ich wies auf das Gift hin, das ihren Schundbüchern entströmte, das Gefühlsleben der Jugend zersetzte und sie den bolschewistischen Ideen in die Arme trieb. Wie wenig von dem, was zwischen 360 1919 und 1933 den Büchermarkt beherrschte, hat etwas mit deutscher Dichtung zu tun gehabt! Und die Aufrechten, die sich um die deutsche Seele bemühten, mein Landsmann Rudolf Herzog, meine Freunde Hans Grimm, Will Vesper und Hans Brandenburg, Wilhelm Schäfer und der verehrungswürdige Oskar Loerke . . . wir wurden von der jüdisch-marxistischen Journaille entweder totgeschwiegen oder in den Schmutz gezogen. Man hat uns oft behandelt, als hätten wir das Abc der deutschen Sprache noch nicht begriffen, während die Rezensenten, diese schmierigen galizischen und litauischen Juden, im Mauscheln des Ghettos steckengeblieben waren und sich gegenseitig hinauflobten mit einem Wortschwall, der sich in gar nichts unterschied von der Chuzpe, mit der die Anreißer der Altkleiderläden dem armen Volk alte Hosen für neue andrehten. Das geschah in den Mosseblättern und Ullsteinpapieren und machte sich auch schon in den literarischen Revuen breit. Für diese schmutzigen Finger, die dort ihren Unrat abluden, galt die deutsche Landschaft, geschildert von einem ihrer blutverbundenen Dichter, geringer noch als der Misthaufen, auf dem diese Rezensenten groß wurden. Und den Dichter geiferten sie an, als hätte er die Schiebungen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens begangen und nicht sie, die geistigen Urheber und Brüder der Barmat, Kutisker und Genossen. Die Luft war schon so geschwängert von diesen Schmeißfliegen, daß man sich zu den Bauern in die Einöde der Berge begeben mußte, um nur noch atmen zu können. Das ist jetzt vorbei. Die Ausräucherung war eine geschichtliche Tat. Und sie wiegt für die Belange der deutschen Kultur schwerer als das Wirken der Klassiker. Schon um dieser einen geschichtlichen Tat willen wird Hitler in der Geschichte weiterleben neben den Größten, wenn nicht gar als der Größte, denn wir haben ja alles erst noch vor uns.«
Er hatte sich in einen solchen Eifer hineingeredet, daß sein Gesicht einer Tomate im Regen glich. Alles kochte an ihm und dampfte: die Kleidung, die Haut und die Glatze. Und er mußte außer dem Taschentuch auch noch die Serviette nehmen, um sich trockenzureiben. Eine komische Figur, ähnlich der, wie sie von Hitler dargestellt wurde, in jenen Münchener Tagen, wenn er abgekämpft und heisergeschrien den Zirkus Krone verließ: das Gesicht voller Schweiß, nasse Haare und unter den Augen die Spuren der Glyzerintränen.
Jetzt saß der große Schriftsteller da, den Mund halbgeöffnet, mit hängenden Schultern, und sah Alma an und forschte, welchen Eindruck seine Aufregung hinterlassen haben mochte.
Sie hakte aber ein und frug: »Bejahen Sie auch die 361 kulturschänderische Tat der öffentlichen Bücherverbrennung und die Austreibung wertvoller Schriftsteller?«
»Nennen Sie mir von all den Emigranten, die Deutschland in seiner hohen Schicksalsstunde verlassen haben, auch nur einen, dessen Verlust im Kulturkreis des neuen Deutschland zu verspüren wäre, nur einen. Ich glaube, Sie werden bis ultimo darüber nachdenken und leer dastehn.«
»Ich nenne Ihnen sofort einen. Und ich könnte Ihnen ebenso schnell noch ein Dutzend dazu nennen. Ich begnüge mich aber mit dem einen, mit Heinrich Mann.«
»Das von Ihnen zu hören ist bitter. Ich sehe, Sie sind vom Geist des neuen Deutschland noch sehr weit entfernt. Wie können Sie bloß solch einen Namen heute noch laut aussprechen? Ich muß Sie dringend bitten, wiederholen Sie das nur nicht in einem anderen Kreise. Sie könnten in einen fürchterlichen Verdacht geraten.«
»Es ist noch gar nicht solange her, da fand ich den Namen von Heinrich Mann und den Ihren in dem gleichen Journal. In ein und derselben Nummer. Damals hatten Sie noch nicht diese Bedenken gegen einen Umgang mit Heinrich Mann? Ich muß sagen: ein sehr schneller Gesinnungswechsel. Ein Höllentempo.«
»Sie meinen wahrscheinlich die ›Neue Rundschau‹?«
»Die meine ich.«
»Dann will ich Ihnen sagen: Ein zu allem entschlossener Kämpfer sucht den Feind immer dort auf, wo er sich verschanzt hat. Dort greift man ihn an. Und bekämpft ihn im Geist und in der Wahrheit. Und demonstriert vor der ganzen Welt, daß zuletzt immer die gerechte Sache siegt. Siehe Martin Luther. Aber ganz abgesehen davon, was hätte diese Zeitschrift international schon groß bedeutet, wenn wir wenigen, die der deutschen Dichtung in Ehrfurcht dienten, dort nicht gastiert hätten, so, wie ja auch der Star einer großen Bühne oft in die Provinz geht und unter zwölftrangigen Leuten der große Schauspieler bleibt.«
»Darüber mache ich mir doch andere und eigene Gedanken. Vor allem über die Widersprüche, in denen Sie sich eben bewegt haben. Ich kann auch nicht finden, daß man Sie totgeschwiegen hat. In den Zeitungen und Zeitschriften, die wir früher lasen, und das waren meist die, an welchen Sie soeben kein gutes Haar ließen, sind Sie ausgiebig besprochen worden und sogar höchst lobend; oft im Gegensatz zu den Autoren, die heute in der Emigration vor die Hunde gehn.«
»Meine Liebe, man kann wohl einen Wolkenkratzer in die Luft sprengen, aber nicht einen Berg versetzen. Weil nämlich Berg und Erde 362 eine Einheit sind. So und nicht anders dürfen Sie auch mein Werk auffassen, das den Belagerungen durch den jüdischen Janhagel standgehalten hat.«
»Sie wollen damit sagen, daß Ihr Werk einfach nicht totzumachen war von den jüdischen Rezensenten?«
»So ist es und nicht anders.«
»Dann verstehe ich die Ausfälle erst recht nicht.«
»Ich habe meine private Person ja gar nicht ins Treffen geführt, sondern für die Sache gesprochen. Denn auch hier gilt das große Wort des Führers: Gemeinnutz geht vor Eigennutz!«
»Das hat mir gerade noch gefehlt!« brach es aus Otto heraus, der bis jetzt dagesessen hatte wie eine Figur, das Gesicht, von der dunklen Brille beschattet, fast auf die Brust heruntergesenkt. Und der große Schriftsteller P. wandte sich an Frau Alma: »Ich habe nicht verstanden, was der Herr soeben gemeint hat.«
»Er hatte sagen wollen, daß sein Schicksal die Kehrseite jener Welt bedeutet, für die Sie sich so ereifern.«
»Vielleicht ist der Herr nicht gläubig. Und ich fürchte beinahe, auch Sie, meine Gnädige, bewegen sich in einem Unglauben, der blind ist den großen Geschehnissen von heute gegenüber. Nur die reinste und tiefste Hingabe an das Aufbauwerk des Führers läßt die Dinge so erkennen, wie sie dastehn, nämlich: als das deutsche Wunder, größer und gewaltiger, als je eine Epoche vorher. Es tut mir leid, daß ich jetzt das Thema abbrechen muß; ich hätte mit Ihnen gern noch bis zu dem glücklichen Ende gestritten, wo wir eines Sinnes geworden wären.«
Alma erhob sich jetzt und war auch Otto beim Aufstehn behilflich. Der Schriftsteller P. machte ein ganz verdutztes Gesicht: »Nein, meine Gnädige, so war das nicht gemeint. Ich bitte Sie dringend, noch ein wenig zu bleiben. Es kommt nämlich ein schwedischer Freund, der mir die Reise nach drüben ermöglicht hat. Ein prachtvoller Mensch, leider aber immer noch so eine Art Sozialist. Wir sind uns aber einig geworden, über die Dinge, die sich um den Führer herum kristallisieren, nicht zu sprechen. Es gibt solche Situationen, verstehn Sie?«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, ich muß jetzt aber wirklich gehn. Und nochmals verbindlichsten Dank für die Einblicke, die Sie mir vermittelt haben.«
»Hoffentlich habe ich Ihnen ein wenig die Augen geöffnet.«
»Die haben Sie mir noch einmal ausgebrannt, Herr!« antwortete Otto. Leider verstand es der Schriftsteller P. nicht, und Alma war noch zu 363 sehr von der in ihrem Inneren tobenden Wut benommen, um die Worte Ottos laut zu wiederholen.
Der Schriftsteller P. brachte Frau Alma und Otto zum Wagen und blieb so lange am Schlag stehn, bis der Kutscher, der sich in der Küche aufgehalten hatte, herangerufen wurde und endlich kam. »Wie lange noch gedenken Sie in Lohme zu bleiben, gnädige Frau? Es wäre herrlich, könnten wir uns nach meiner Rückkehr aus Schweden hier noch einmal treffen.«
»Wir werden wahrscheinlich sehr bald abreisen.«
»Wirklich schade. Dann aber auf Wiedersehn in Berlin!«
Als der Wagen die Stadt schon ein ganzes Stück hinter sich hatte, fragte Otto: »Sie haben hoffentlich nicht meinetwegen so lange ausgehalten?«
»Lieber Otto, Sie hätten jetzt allen Grund, böse mit mir zu sein. Einmal, weil ich Sie diesem Geschwätz ausgesetzt habe, und vor allem, daß ich nicht immer die richtige Antwort parat hatte. Ich bin aber oft wie betäubt gewesen, man kann schon sagen: von Keulenschlägen getroffen.«
»Es war sehr lehrreich; ich habe wieder ein Stück Welt kennengelernt, das bisher weit ab lag von mir.«
»Die Kehrseite der wirklichen Welt.«
»Kehrseite . . . das mag sein; aber eine nur uns hingedrehte, die wir anglotzen müssen, Tag und Nacht. Bald werde ich wohl alle Teile kennen. Es fehlt sicher nicht mehr viel.«
»Sie erwarteten aber, daß ich mich kräftiger gewehrt hätte?«
»Nee . . . wissen Sie, solche Narren muß man reden lassen.«
»Er gilt vielen Leuten als ein berühmter Schriftsteller, und sie hören ihm in Andacht zu, oder noch besser gesagt: sie verschlingen jede Zeile von ihm. Deshalb ist solch ein Mann mindestens so schädlich wie ein hoher Bonze der Naziotie.«
»Die Leute, die dem nachlaufen, kommen für uns nicht in Betracht.«
»Jedenfalls wissen Sie jetzt, wie ein Schriftsteller aussieht, der sich für das Heil Hitlers einsetzt. Ich wußte es bisher noch nicht.«
»Wissen Sie . . . ich habe mir einen Schriftsteller eigentlich anders vorgestellt.«
»Inwiefern, Otto?«
»Na, ich denke mir, wenn ich das aus meinem Gehirnkasten herausbefördert habe, was drin steckt für andere Leute . . . wenn ich es aufgeschrieben habe, dann ist es weg. Dann quatsche ich nicht mehr darüber. Ich werde es mir aber doch noch überlegen, ob ich etwas aus meinem 364 Leben für andere Leute aufschreibe; denn am Ende sieht man mich womöglich auch noch so an, wie ich jetzt diesen Herrn ansehe. Aber ich will ja etwas ganz anderes schreiben. Und das erste wird ein Brief sein an meine Kameraden, daß ich wieder da bin und daß sie auf mich rechnen können. Und wenn sie Flugblätter brauchen, die werde ich ihnen schreiben. Saftig. Und so, daß jeder, der sie liest, mindestens warm dabei wird.«
»Sie glauben womöglich, Otto, daß sich das Schreiben auf der Maschine in ein paar Tagen erlernen läßt? Es kann Monate dauern, bis Sie das Handwerk verstehn. Und soviel Zeit wollen Sie Hitler doch nicht geben?«
»Nachdem ich diesen Herrn gehört habe . . . ja!«
»Dieser Herr und sein Gerede kann Ihnen doch kein Barometer sein?«
»Aber gewiß, Schwester! Weil dieser Herr mit der Sache Hitler gute Geschäfte macht. Und weil es eine Unzahl von Menschen gibt, die alle solche Geschäfte mit Hitler machen, müssen wir mit der Zähigkeit der Geschäftemacher rechnen. Worin die Geschäfte im einzelnen bestehn, das tut nichts zur Sache. Bücher, Roggen, Kanonen, Giftgase, Straßenbauten, Menschenschinderei . . . das ist alles eins.«
»Und wenn Hitler als Person nicht mehr funktioniert?«
»Er wird so lange funktionieren müssen, bis die Privatkassen alle voll sind und überlaufen.«
»Sie gehn am Wesentlichen vorüber, Otto.«
»Nanu? Da muß ich aber fragen: woran denn?«
»An einem jeden, der Widerstand leistet. Und dazu gehören auch Sie.«
»Na . . . ja . . . man hat die Hoffnung beinahe schon verloren.«
»Otto!«
»Sehen Sie, das kommt nur davon, daß man die Fühlung mit der Masse verliert, wenn man den Gestank des Elends nicht mehr in der Nase hat, die Geschreie und das Geheul nicht mehr in den Ohren und wenn man solch ein unnützer Krüppel geworden ist.«
Alma nahm seine Hände, die unruhig wurden, und hielt und streichelte sie. Und beruhigte seinen Anfall, wie eine Mutter, die ein Kind einwiegt. Und sie fuhren jetzt schon über eine Stunde durch das abendliche Dunkel des Waldes. Der Wind zauste die Wipfel, und von den Klippen kam der Donner der Brandung herauf.
Otto nahm diese Bewegung und ihre lauten Rufe mit einem schon ruhigeren Klopfen des Herzens auf. Er sprach aber kein Wort mehr. Er schwieg auch, als sie eine Stunde später das Essen einnahmen. Und erst, als sie auf der Veranda saßen und aus den tiefer liegenden 365 Fischerhütten eine sentimentale Melodie aufstieg, gezogen aus der Harmonika, lief ihm ein Fieberschauer den Rücken hinunter. Und löste auch seine Zunge. Und es war wieder das Gefühl der Nähe da, das Dasein der armen und kleinen Dinge.
Und Otto fragte Alma: »Ob mich die Liesa Schimmel wohl wird brauchen können für die Zeitung? Ich meine, wenn ich erst mal die Maschine habe und schreiben kann? Dann könnte es doch so sein, daß sie diktiert, und ich klappere es herunter.«
»Gewiß, Otto, das wird sich vielleicht machen lassen.«
»Nein, es wird sich nicht machen lassen!«
»Weshalb immer so widerspruchsvoll, Otto?«
»Weil man sagen wird, denn dazu kenne ich meine Kameraden doch zu gut, Otto, du bist genug gebrannt, wir können das nicht verantworten, daß du noch einmal hochgehst. Wir stehn alle unter Beobachtung. Es kann jeden Tag mit uns zu Ende sein. Bist du darunter, dann ist es ganz und gar aus mit dem Otto, dann bist du wieder der Hetzer Etzien, und der Pferdemetzger hackt dir die Rübe herunter.«
»Wer hat das zu Ihnen gesagt, Otto?«
»Das sagt mir mein Verstand. Der besteht nämlich aus zwei Hälften. Die eine denkt so klar, wie es in der Wirklichkeit aussieht, und die andere denkt so, wie ich es gern haben möchte, aber wie es noch nicht sein kann, weil es unvernünftig gedacht ist.«
»Wenn es Sie beruhigt, Otto, dann möchte ich Sie bitten, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich stehe noch nicht unter Beobachtung. Ich werde diktieren, und Sie werden schreiben.«
»Sie wollen doch nicht etwa Romane schreiben?«
»Nein, heute und morgen noch nicht. Ich lese aber für Liesa Schimmels Zeitung die ausländische antifaschistische Literatur. Und das muß übersetzt und auf der Maschine abgeschrieben werden. Verstehn Sie jetzt, Otto?«
»Wenn es für mich nichts Besseres mehr gibt, dann muß ich wohl auch damit vorlieb nehmen.«
»Jedes kleine Körnchen zählt heute.«
Eine ganze Weile schwiegen sie wieder. Die Veranda schwamm in einem milchigen Licht. Der Mond stand über den Wassern und kochte sie zu einem glitzernden Silber. Die Erscheinung aller Dinge hatte nichts Eckiges, Zackiges mehr, alles war abgerundet und weich, schien zu träumen oder von einem Traumgespinst zu erzählen, in dem Flüsterton des Laubes und dem späten Lied einer Grille. 366
»Dieses Meer und diese Luft hier sind eine verfluchte Medizin!« platzte es mit einem Male aus Otto heraus. Alma konnte den Ton der Stimme nicht mißverstehn, es war die Summe aller Bitterkeit. Und man hatte es schwer mit diesem Armen, der grauenhaft darunter litt: nicht mehr aktiv mitarbeiten zu können.
»Woran dachten Sie eben, Otto?«
»Mir fiel wieder ein, daß ich hier gar nicht hergehöre.«
»Stellen Sie sich aber mal vor: Sie hätten in der Fabrik einen Unfall erlitten. Und man hätte Sie auf Kosten der Unfallkasse in eine Heilanstalt geschafft, nach Thüringen oder in den Schwarzwald. Und Sie würden an einem solchen Abend auf Ihrem Liegestuhl auf der großen gemeinsamen Veranda gelegen haben . . . welch ein Unterschied bestünde zwischen der Anstalt und dieser Erholung hier? Können Sie mir das erklären? Denken Sie darüber einmal nach.«
»Sie geben mir jedesmal einen Deckel, und ich muß ihn aufstülpen, weil er paßt. Und das ärgert mich manchmal, weil ich kein Recht bei Ihnen bekomme, ja, es ärgert mich, obwohl ich weiß, daß ich im Unrecht bin.«
»Sie wollen also im Unrecht sein und doch recht haben?«
»Ich weiß, daß es eine Verrücktheit ist, natürlich weiß ich das. Ich glaube, es kommt alles daher, weil man mir ein Unrecht angetan hat und ich nirgendwo recht bekommen werde. Denn alle Behörden werden sagen: Du hast ein Gesetz übertreten und bist nur dafür abgestraft worden, nicht wegen deiner Gesinnung.«
»Sie denken wieder an die furchtbare Nacht; Sie sollen aber nicht mehr daran denken.«
»Ach . . . ich soll alles vergessen, tief eingraben und einen Stein darauf setzen: Ruhe sanft?«
»So sollen Sie das nicht vergessen, Otto. Es soll bei Ihnen bleiben, bis die Zeit dafür da ist, Gerechtigkeit zu fordern. Aber Sie müssen jetzt, solange Sie noch nicht vollkommen gesund sind, nicht immer in die Ursache der Geschehnisse sich zurückgrübeln, sondern an die Genesung denken.«
»Wenn ich mich wenigstens in einem Spiegel sehen könnte!«
»Sie kommen auf die unmöglichsten Gedanken.«
»Glauben Sie mir, ich weiß genau, wie ich aussehe, ich habe es in den Fingerspitzen sitzen, die schmeicheln nicht. Aber ich möchte doch in den Spiegel so oft hineinsehn, bis aus dem Bild mich das angrinst, was die Schwarzen aus mir gemacht haben, und bis aus dem Zerrbild zuletzt das 367 Gesicht jenes Mannes wird, der mit den giftgrünen Augen in meinem Gehirn herumgebohrt hat.«
»Damit hätten Sie vielleicht einen Schritt breit Raum gewonnen. Aber es sind noch unzählige solcher Schritte zu machen bis zu dem Punkt hin, wo alle diese Bestien nicht mehr mächtig sind über uns.«
»Jawohl . . . ich hätte mir fürs erste aber Luft geschaffen, und ich könnte in der Gewißheit leben, daß einer weniger ist.«
»Dieser eine . . . der mit den grünen Augen, ist schon weniger, Otto.«
»Sie halten es für eine Wahrheit, daß man den Kerl an die Wand gestellt hat? Wofür und wer es ihm besorgt hat, das soll mir egal sein. Hat man ihn wirklich beseitigt . . . ja . . . dann müßte ich eigentlich auch ruhiger leben und an die ausgleichende Gerechtigkeit glauben.«
»Zu den vierhundert vom 30. Juni gehört auch der Standartenführer Drews. Das ist eine Tatsache, die schwarz auf weiß vorliegt. Und ich habe es Ihnen damals ja auch sofort vorgelesen.«
»Es bleibt wohl doch nicht mehr alles in meinem Gehirnkasten stecken. Ich hatte es wahrhaftig vergessen, daß dieser Drews seinen Lohn nun dahin hat, dazu auch noch von seinen eigenen Leuten.«
»Ich wundere mich sehr, Otto!«
»Worüber nun schon wieder?«
»Über dieses primitive Rachegefühl.«
»Das war da, Schwester . . . von dem Augenblick an, als ich wieder zur Besinnung kam. Und manchesmal war es so ungeheuer da, daß ich mir die furchtbarsten Martern ausdachte, den ersten besten Schwarzen, der mir in die Finger käme, so zuzurichten, daß das letzte Stück von ihm, ein Finger oder ein Auge, immer noch hochgesprungen wäre vor Schmerzen und Wahnsinn. Schwester . . . erschrecken Sie nicht so . . . ich mußte so denken und in dieser Vorstellung so leben, denn sonst hätte ich das Weiterleben als Krüppel ja gar nicht ausgehalten.«
»Doktor Grätz wußte von diesen furchtbaren Zuständen, in denen Sie lebten. Und er sagte zu mir, es sei eine schwere Vergiftung, er hätte Mühe gehabt, das Blut und das Gehirn langsam zu entgiften. Jetzt sind nur noch geringe Spuren da, und die sollte diese Luft hier, diese Stille, dieses Weitab von den hörbaren Geschehnissen der Hitlerei, auslaugen. Und es sollte in Ihrem Willen die Kraft sein, mitzuhelfen. Und nun verkehren Sie es, ohne eigentlichen Grund, in das Gegenteil. Das ist nicht richtig gehandelt, Otto!«
»Das kommt nicht oft. Nur manches Mal, wenn es so schrecklich still ist. Wenn es nach Moder riecht. Wenn es nach Leichen stinkt. Die toten 368 Fische und Muscheln im Sand, das Quallige, das Verwesende, das benimmt mir den Kopf. Früher hätte ich wohl kein Gefühl dafür gehabt. Aber jetzt. Und ich glaube, es wird noch lange dauern, bis ich diese Stille und die Geräusche unterscheiden lerne von jener anderen Stille, wo der Mann Etzien begraben liegt.«
»Möchten Sie vielleicht, daß wir wieder nach Berlin zurückfahren?«
»Nein! Sie hören ja, daß ich mich daran gewöhnen will.«
»Soll ich Ihnen eine Geschichte vorlesen, Otto?«
»Ja . . . noch einmal die Geschichte von Simson . . .«
In den kleinen Fischerhütten unten begann wieder die Ziehharmonika. Die dünnen, flachen Töne strichen durch die Luft und senkten sich auf das Wasser hinab und spielten mit den leicht gekräuselten Wellen und gingen ein zu dem silbrigen Geglitzer und glucksten auf den Strand zurück, als wäre der Weg in die Welt, über das große Wasser hin, viel zu weit.
»Hören Sie zu«, unterbrach Otto die vorlesende Alma, »dieses Lied, das ich noch nie gehört habe, ist vielleicht ein trauriges Lied, das die Mädchen singen, wenn die Fischerboote noch nicht zurück sind. Sie singen ein trauriges Lied, aber sie haben dabei doch die Hoffnung, daß die Schiffe schon unterwegs sind. Soviel Hoffnung, wie in diesem traurig klingenden Lied mir vorhanden scheint, ist jetzt auch in mir. Es wird zurückkommen, was wir mit unseren Gedanken ausgeschickt haben. Ich sehe das Tor schon offen.«
Am nächsten Abend brachte der Fischer Christian Schluck einen Brief von Doktor Grätz, den er von Stockholm geschrieben und einem Mann vom Fährschiff mitgegeben hatte, einer sicheren Person, mit der Schluck Hand in Hand arbeitete. Dieser Brief, der einen kurzen informatorischen Bericht gab von der guten Zusammenarbeit mit allen für die Schaffung einer Einheitsfront sich bemühenden Funktionären, hob Otto endlich aus dem finsteren Grübeln heraus. Er verspürte aus dem, was ihm Alma vorlas, daß die Welt doch nicht stillstand. Und Alma mußte ihm lang und breit erklären, weshalb diese Volksfront gebildet werden mußte, sogar mit den Katholiken.
Otto sagte dazu, nachdem er es sich eine Weile überlegt hatte: »Der Hitler hat damals, als der erste Reichstag des Dritten Reiches eröffnet wurde und auch die SPD daran teilnahm, zu Wels gesagt: ›Spät kommt ihr, doch ihr kommt!‹ Ich glaube, das wird man auch zu dem endlichen Werden dieser Einheitsfront sagen müssen.« 369
»Wollen Sie damit ausdrücken, Otto, es sei eine faule Sache? Solch eine, wie damals die Situation zwischen Hitler und Wels?«
»So ungefähr meinte ich es.«
»Dann tun Sie Doktor Grätz aber unrecht. Es ist ausgeschlossen, daß er sich für faule Geschichten hergibt.«
»Vielleicht werde ich anders darüber denken, wenn Doktor Grätz mir erzählt, wer die Leute waren, denen er die Hand gereicht hat.«
»Das kann ich Ihnen sagen: es war niemand dabei, der nicht inzwischen eingesehen hätte, daß nur die vollkommene Einheit aller Gegner der Diktatur den Weg ebnen kann zu einem energischen, zielbewußten und Erfolg versprechenden Handeln.«
»Steckten Sie in meiner Haut . . . ich glaube, Sie würden mich jetzt besser verstehn.«
»Worin unterscheiden wir uns, Otto?«
»Ich bin ein Proletarier, Sie kommen aus dem Bürgerlichen. Ich bin in Armut groß geworden. Sie haben Wohlstand um sich gehabt. Ich weiß, daß es mir nicht schlechter gehn kann, denn der Tiefstand ist jetzt wohl erreicht. Sie aber werden nur an das denken, was Sie verloren haben. Und werden danach trachten, sich das Verlorene wiederzuholen. Und uns darüber vergessen oder uns die Schuld geben, wenn es nicht alles so wird, wie es in den Jahren für Sie war, als es Hitler noch nicht gab.«
»Das ist Ihre Sorge, Otto?«
»Ich kann mich auch irren. Ich bin lange krank gewesen.«
»Das Bürgerliche, Otto, so, wie es war, ehe Hitler kam, wird nicht wiederkommen, auch wenn Hitler nicht mehr ist. So, wie es war, darf es dann auch gar nicht mehr sein.«
»Darüber sind Sie nicht traurig?«
»Ich habe das Begräbnis hinter mir.«
»Ja . . . dann möchte man auch glauben, daß aus der großen Einheitsfront etwas wird, woran man sich festhalten kann.« 370