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Als Elsa Joachim wieder einmal einen dieser entsetzlich schrillen Schreie ausstieß, der sich auf der anderen Seite der Straße, schon halbverwischt von den Kiefern, wie das letzte Aufheulen eines überfahrenen Hundes anhörte, stand der Stadtrat gerade am Fenster der Empfangsdiele, in der Villa Mohnweg, und holte ein paar Züge frischer Luft. Eigentlich hatte er nur seine Aktentasche holen wollen, die wichtiges Material enthielt, unter anderem eine englische Zeitung mit einem scharfabfälligen Artikel über Hitler. Die saftigsten Stellen daraus wollte er dem Bankier Mohnweg und dem Intendanten der Oper vorlesen.
Von dem vorhin etwas hastig getrunkenen alten Pomard war ihm der Kopf heiß geworden. Die schwarzen Brasilzigarren und das anstrengende Gesprächsthema, das sich um das Schicksal der Städtischen Oper gedreht hatte, mochten noch ein übriges getan haben, daß ihm der Schädel jetzt qualmte. Der scharfe Luftzug tat ihm wohl. Und er hatte schon über fünf Minuten so dagestanden, den Oberkörper halb aus dem Fenster hinausgebeugt. Bis der Schrei von drüben her ihn aufschreckte.
Er sah auf die Straße hinaus, entdeckte aber nichts, was den schrillen Ton verursacht haben könnte. Es war kein Wagen unterwegs, es hallten keine Schritte. Schließlich warf er einen Blick nach der gegenüberliegenden Villa. Bis auf ein Fenster im Oberstock war alles dunkel, es war Ruhe im Haus.
Er überlegte, und es schien ihm jetzt sicher, daß der Schrei nur von drüben aus dem Haus gekommen sein konnte. Er wußte nicht, wer der Bewohner der Villa war. Er nahm sich vor, Mohnweg danach zu fragen und von dem Schrei zu erzählen. Vielleicht steckte doch etwas dahinter, das nicht zu den banalen Alltäglichkeiten gehörte. Obwohl vieles, was in diesen Tagen geschah, ein schauerliches Aufschreien war und im Bunker oder gar im Leichenschauhaus endete.
Als er wieder zu den beiden Herren zurückkehrte, stritten sie sich 78 gerade über die nebensächliche Frage, ob das Interesse Hitlers für Bayreuth dem feurigen Walkürenzauber auf der Bühne gelte oder der Hohenpriesterin dieses Kunsttempels.
Und Mohnweg dozierte: »Nach allem, was man bis jetzt so gehört hat, muß man annehmen, daß die schülerhafte Begeisterung dieses total unmusikalischen Mannes für die Opern Wagners nur ein Vorwand ist, sich der Frau zu nähern. Und auf der Gegenseite wird wahrscheinlich auch eine Art Spekulation vorliegen, die allerdings auf wirtschaftliche Eroberungen abzielt . . . auf Geld. Ja . . . heute haben die Rebellen das Glück, über mehr Geld zu verfügen als ehedem die Privatschatulle eines kunstliebenden Königs . . . Wie denken Sie über diese Chose, Stadtrat?«
»Über die flüssigen Gelder der Rebellen . . . oder über die Leibwache, die von diesen Geldern heftig zu profitieren gedenkt?«
»So lautete die Fragestellung allerdings nicht. Wir wollen von Ihnen, dem man eine gewisse Sachverständigkeit auf dem unter- und hintergründigen Gebiet der Oper nachsagt, wie es ja neulich erst der ›Angriff‹ tat, wissen, ob diese Bayreuther Dame auf den momentan erfolgreichsten Rebellen oder den unmusikalischen Musikenthusiasten den letzten, entscheidenden Dreh ihres Lebens setzt.«
»Der ›Angriff‹, sagen Sie, hätte mich gelaust? Das stimmt nicht. Sie verwechseln ihn immer noch mit der ›Nachtausgabe‹ des Lokalanzeigers. Dort nämlich sitzen die feindlichen Brüder, die mich gern um die Ecke bringen möchten, wenn sie nur mehr Einfluß auf die Braunen hätten. – Und zu den Sängerinnen, mein lieber Mohnweg, bin ich nicht gelaufen, um Einblicke in das Partienstudium dieser Damen zu nehmen, sondern die singenden Herrschaften sind zu mir gekommen, wenn hier dieser Schurke von Intendant ihnen die Verträge nicht erneuert hatte. Oder wenn sie sich nicht in dem Maße beschäftigt glaubten, wie es ihnen vorschwebte. Dann gab es in meinem Büro oft hochdramatische Szenen. Manchmal spielte ich mit, nach dem Grundsatz: Man soll dem Ochsen . . . et cetera. Seitdem glaube ich, daß keine Frau so unterhaltsam sein kann wie eine Aida, der man diese Rolle verschafft hat. –- Und so denke ich mir auch, daß der unmusikalische Mann auf die private Musik der Frau und die musikalische Frau auf eine entsprechende Vergoldung der Festspiele von Beginn der Freundschaft an spekuliert hat. Und daß schließlich die heftigen Wünsche dieser kunstfanatischen Frau den sonst als weiberscheu verschrieenen Mann . . . na ja.«
»Sie meinen die plötzliche Abkühlung, von der man im vorigen Jahr allgemein sprach?« fiel ihm Mohnweg ins Wort. 79
»Ich meine jetzt das Zustandekommen des Paktes. Was die vorübergehende Verstimmung bewirkt hat, das werden jedenfalls jene krankhaften Störungen gewesen sein, von denen dieser Mann heimgesucht wird, wenn er einer Frau sich nähert. Aber das ist doch alles halb so wichtig.«
»Ja . . .«, meinte Mohnweg und blies den Rauch heftig durch die Zähne. »Von dem einen muß man auf das andere schließen. An diesem Mann ist tatsächlich alles krank. Man braucht ja nur die unbeholfene Haltung seiner Hände sich anzusehen. Ich sah dergleichen immer nur bei psychopathisch schwer belasteten Menschen. Nehmen Sie ein Bild vor, welches Sie wollen: immer sind es die Hände, die zuerst auffallen. Und dann die klobige Nase und die fliehende Stirn. Ich entsinne mich einer Aufnahme aus der allerjüngsten Zeit, da sieht man sitzend im Vordergrund Goebbels, diesen ewig feixenden Überteufel mit vorgeschobenem Klumpfuß, daneben den Plumpsack Röhm, der aus der Uniform herausplatzt, und unseren Adolf. Die Handhaltung, die auf diesem Bild bei ihm ersichtlich ist . . . hören Sie: das ist schon Irrenhaus. Komplett.«
»Ich glaube, daß mir diese Aufnahme der Doktor Grätz einmal gezeigt hat. Und ähnliche Äußerungen dazu machte, wie jetzt Sie, lieber Mohnweg. Und Grätz . . . der gilt ja als Autorität für solche Dinge.«
»Grätz . . . Grätz . . . Sie meinen den Irrenarzt bei Ihnen draußen in Buch? Ja, den Mann kenne ich. Ich traf ihn einmal in einer Abendgesellschaft drüben bei Joachims. Kluger Kopf. Auch politisch, wissen Sie? Ich unterhielt mich höchst angeregt mit ihm, fast den ganzen Abend. Außerdem kritisierte er Sie damals sehr heftig. Er sah den ganzen Zauber so, wie wir ihn jetzt vor uns haben, vor drei Jahren schon voraus. Er glaubte aber, das Unheil wäre noch aufzuhalten, wenn die beiden linken Parteien sich endlich auf das besinnen würden, wofür sie da sind und vom Volk beauftragt. Man konnte ihm nicht widersprechen. Seine Argumente hatten Hand und Fuß. Wenn ich auch nicht so weit gehen möchte wie er, der damals von Volksverrat sprach und von Böcken, die man zu Staatssekretären und Polizeipräsidenten gemacht habe.«
»Dieser Grätz ist von jeher schon ein Nörgler gewesen. Ein Sektierer obendrein. Und oben im Gehirnkasten, scheint mir, schon etwas mitgenommen von dem täglichen Umgang mit Vollidioten und Größenwahnsinnigen. Deshalb habe ich es ihm auch nie krumm genommen, wenn er glaubte, mir gute Ratschläge geben zu müssen. Wie vermögen solche einspännigen Leute sich einen klaren Gedanken von dem zu machen, was es heißt, eine Stadt wie Berlin durch die finanzielle Scheiße 80 zu schaukeln und mit achtzehn Parteihäuptlingen auszukommen?! – Er war häufig Gast in meinem Hause. Meine Frau hat einen Narren an ihm gefressen. Sie hält ihn für einen Hellseher, nachdem er einen anderen Hellseher, den Hanussen, entlarvt hat. – Aber sagen Sie mal, Mohnweg . . . ich sah vorhin zufällig aus dem Fenster. Das Haus dort drüben ließ plötzlich einen sonderbaren Schrei los. Ich bin mir bis jetzt noch nicht klar, ob ein Mensch oder ein Tier geschrieen hat.«
»Diese Schreie, mein Lieber, sind uns seit vierzehn Tagen nichts Neues mehr. Als ich die Frau zum ersten Mal so schreien hörte, glaubte ich an einen Überfall und ging mit meinem Diener pistolenbewaffnet hinüber. Der Hausmeister bekam einen Schreck und klärte uns auf. – Ja . . . ich glaube, die gute Frau wird fertig sein für ihr ganzes Leben. Sie kannten doch den Doktor Joachim? Mich deucht, er hat auch für die Stadt Prozesse geführt.«
»Nee . . . ich hatte nicht das Vergnügen.«
»Aber ich kannte ihn«, warf der Intendant ein. »Ich kannte ihn sogar sehr gut. Auch die Frau Elsa natürlich. Wir waren häufig eingeladen, damals, als ich bei Jeßner noch die beiden Ferdinands spielte; den von Goethe und den von Schiller. Und Hamlet und Egmont.«
»Ich kann mich tatsächlich nicht erinnern, mit dem Doktor Joachim persönlich in Berührung gekommen zu sein. Aber daß Sie, lieber Intendant, dort gewissermaßen Hahn im Korbe waren, erklärt noch immer nicht den Schrei, der mich schockiert hat.«
»Ach so . . . Sie wissen nicht?« fragte Mohnweg.
»Prügeln sich die Herrschaften etwa? Dann braucht man doch nicht so zu schreien.«
»Sie leben wahrhaftig auf dem Mond, Stadtrat. Oder haben Sie Ursache, mit verbundenen Augen und Ohren an allem vorüber zu gehen, was Sie nicht direkt angeht? Mir wenigstens schmeckte ein paar Tage lang das Essen nicht, als ich von dem scheußlichen Verbrechen hörte.«
»Verbrechen?« fragte der Stadtrat. Er dachte an eine kriminelle Angelegenheit.
»Sagen Sie mal: tun Sie bloß so? Oder merken Sie tatsächlich nichts davon, was um uns herum vorgeht? Dann sind Sie weder zu beneiden, noch kann man mit Ihnen ein vernünftiges Wort reden. Totgetrampelt haben die braunen Bengels den Mann! Verstehn Sie nun?«
»Wenn die Frau das hat mit ansehen müssen . . . dann ist ihr Schrei noch nicht laut genug gewesen.«
»Für Sie nicht laut genug, das mag stimmen. Jeder andere aber würde 81 von dem allein schon einen Begriff bekommen haben, in welchen Abgrund Deutschland hinuntergestürzt ist.«
»Aber Mohnweg?! Wofür halten Sie mich eigentlich?« fragte der Stadtrat. Und es schien dem Bankier, als habe der Hieb, den er ihm mit voller Absicht und ein wenig ärgerlich schon über die Dickfelligkeit des Stadtrats versetzt hatte, die richtige Stelle getroffen. Und nun holte er noch weiter aus: »Das will ich Ihnen sagen: Entweder man sympathisiert mit diesen Nazioten; dann soll man auch die volle Konsequenz ziehen und sich schnellstens braun anstreichen lassen. Oder man hält den Einbruch der Barbarei für eine wirkliche und äußerst gefährliche Barbarei und handelt danach. Mit allen Mitteln, die man zur Verfügung hat. Und stellt sich nicht hin und sagt: Ich will warten, ob sie aufs Ganze gehn. Ich versichere Sie: die Leute gehen aufs Ganze. Sie werden Wort halten. Sie werden Zug um Zug ihr Programm ausführen. Und das Worthalten wird ihnen ja auch in jeder Beziehung erleichtert. Durch Leute wie Sie. Verzeihen Sie meine Offenheit und Deutlichkeit. Ich denke aber: Wir sind hier unter uns und können einen Boxhieb auf den Magen vertragen.«
»Schütten Sie mir mal erst das Glas voll. Und dann werde ich Ihnen antworten. Und wenn ich die Kinnspitze treffen sollte, dann schreien Sie ja nicht auweh!«
Der Indendant kam Mohnweg zuvor und füllte dem Stadtrat das Glas. Mohnweg brannte sich eine neue Zigarre an und stieß ein paar Züge scharf zur Decke hinaus. Dann sah er gespannt auf den Stadtrat. Er wußte zwar, daß er nicht die Meinung seiner Partei vertreten würde. Diese Partei hatte in den Jahren nach dem Krieg nur eine Meinung für das Organisieren von Stimmziffern gehabt, für das Kassieren von Beiträgen und für die kapitalistische Anlage der eingelaufenen Gelder. Ein Unternehmen, worin die geschäftsführenden Instanzen eine parteipolitische Meinung nach ihrem Gutdünken fabrizierten und öffentlich Handel damit trieben und spekulierten. Mit dieser »Fabrikdirektion« hatte der Stadtrat sich nie gut gestanden. Er besaß dort oben keine zwei aufrichtigen Freunde. Man duldete ihn, weil er einer von den wenigen Leuten war, die im kommunalen Verwaltungsdienst von der Pike auf gedient hatten. Er beherrschte sein Fach. Und auch bei den politischen Gegnern hatte er sich als Autorität durchzusetzen verstanden. Außerdem war er im Dienst korrekt bis zum I-Tüpfel. Vielleicht war er überhaupt der einzige der von der Partei durchgesetzten Oberbeamten, dem Korruption nicht nachgesagt wurde. Nach den vielen Skandalaffären war 82 er ein Turm für die sozialdemokratische Stadtverordneten-Fraktion, den sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch immer in den Vordergrund schob.
Was der Partei allerdings nicht behagte und was sie schließlich doch fressen mußte, das war seine Eigenwilligkeit in den meisten kommunalpolitischen Fragen. Oft deckten sich seine Pläne und Ansichten mit denen der schroffsten Gegner der SPD. Besonders im Geldausgeben bremste er so rücksichtslos, daß mancher sozialpolitische Antrag, der für die Beruhigung der Wähler bestimmt war, ins Wasser fiel. Mit diesem getrübten Wasser setzten die Nationalsozialisten ihre Klappermühlen in Bewegung. Oft genug geschah es, daß in allen Sparten der Arbeiter-Wohlfahrt die Leute um Goebbels sich noch radikaler gebärdeten als die Kommunisten, was freilich nur erbärmlichste Demagogie war. Denn in Wirklichkeit würden sie sich noch vor der Bewilligung von neuen Steuern, die für die geforderten Mehrausgaben in jedem Fall notwendig waren, verdrücken. Sie wollten ja auch nur meckern und nicht positive Arbeit leisten. Sie sabotierten aus Prinzip. Sie arbeiteten konsequent auf die Verwirrung hin. Mit dem Stadtrat allerdings stellten sie sich gut. Es war manches bei ihm zu holen, was nicht in die Positionen fiel, über die man meckern mußte. Von simplen Logenplätzen für die Oper bis zur Unterbringung »bewährter Parteimitglieder« in Hilfsarbeiterstellen; besser gesagt: Horchposten bezogen ihre Standquartiere.
Von den Möglichkeiten, sich gewisse private Vorteile zu verschaffen, machten mehr oder minder die Mitglieder aller Parteien Gebrauch. Es war eine besondere Begabung des Stadtrats, damit Wucher zu treiben, nach dem Rezept: kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Die ganze Atmosphäre war die eines Gemischtwaren-Ladens, wo man mit Zugaben, die der Konsument in jedem Fall zahlen mußte, sich die Kundschaft zu behalten trachtete.
»Sie glauben tatsächlich, mein lieber Mohnweg, man könnte mich heute nach Strich und Faden anpflaumen«, sagte schließlich der Stadtrat, nachdem er in aller Ruhe das Glas leergetrunken hatte. »Sie sehen mich womöglich schon vor dem Rathaus an der Laterne hängen?«
»Durchaus nicht; im Gegenteil.«
»Das schließen Sie woraus?«
»Wenn Sie sich ein halbes Jahr früher aus dem Braunen Haus die Mitgliedsnummer geholt hätten . . . würden Sie zwar nicht auf dem jetzigen Posten belassen werden . . . aber vielleicht Oberpräsident spielen dürfen.«
»Hören Sie . . . das wäre kein Beinbruch.« 83
»Na also. Das ist doch eine Bestätigung. Aber jetzt im Ernst gesprochen: Glauben Sie wirklich, daß die braune Chose von Bestand und Dauer sein und aus Deutschland wieder ein Land machen wird, das wirtschaftlich und kulturell eine erste Rolle in der Welt spielt? Und daß es nur an dem ›bösen Willen‹ und vor allem an der ›Unfähigkeit der Juden, Demokraten und Marxisten‹ gelegen hat, daß dieser gelobte Zustand, den das Dritte Reich darstellen will, nicht schon vierzehn Jahre früher eingetreten ist? Nach großen Schicksalsschlägen in seinem Leben glaubt mancher zum Nachdenken erwachte Mensch, daß er nunmehr den richtigen Dreh erfassen würde und es mit dem entgegengesetzten Weg einmal versuchen müsse, um in einer scharfen Kurve wieder nach oben zu kommen. Nur bedenkt dieser ›kluge Mann‹ nicht, daß zu solch einem Vorhaben zwei gehören. Hat er diesen Zweiten allerdings für sich, dann mag es angehn. Dann vielleicht glückt die Drehung. – Wollen Sie zu dem Schwarm, die von der Gnade dieses Zweiten abhängen, gehören? Es kann nämlich passieren, daß die Macht des Zweiten total wird . . .«
»Jeder Macht sind Grenzen gezogen. Und wenn wir zunächst mal von der sprechen, die wir besaßen . . . ja, wir haben die uns gesteckten Grenzen überschritten, mein lieber Mohnweg. Wir hatten sie in dem Augenblick schon überschritten, als wir uns übertölpeln ließen und den Kriegsverlierern die Liquidation des Krieges abnahmen. An dem Tage, als wir uns dazu bereitfanden, als Deutschlands Nothelfer aufzutreten . . . da hatten wir bereits das ganze Spiel verloren.«
»Der Meinung bin ich auch«, fügte der Intendant hinzu. »Ich gehe sogar noch weiter und behaupte: Das Spiel war schon verloren, als die ersten Kriegskredite mit Bravour bewilligt wurden. Nicht von unserer Partei allein. Denn schließlich haben sich alle liberal-demokratisch-sozialistischen Parteien zu blinden, aber um so gefälligeren Handlangern der Militärs machen lassen, denen sie sonst sehr auf die Finger gesehen hatten. Sie haben die vom Großen Hauptquartier gemachte Volksstimmung für bare Münze genommen. Und zahlten mit dieser falschen Münze wieder heim, als das Volk anfing zu murren. Sie hatten total vergessen, daß sie vom Volk gewählt waren, und fühlten sich nicht mehr als die Beauftragten dieses Volkes, sondern als Beauftragte der vom Militär kommandierten und kontrollierten Regierung. Sie erkannten nicht einmal, in welch einer schiefen Lage sich diese Regierung befand. Sie fuhren nach der Etappe, wo man sie mit Fasanen und Kalbsfilet abfütterte und mit alten französischen Weinen vollpumpte, erster Klasse. Wie eine ›Erste Klasse‹ fühlten und benahmen sie sich auch. Die ganz 84 von unten Heraufgestiegenen noch herausfordernder als die oben schon Seßhaften.«
»Die Vergangenheit lassen Sie mal gefälligst ruhen. Erledigt. Mögen sich die künftigen Historiker mit dem Wenn und Aber herumplagen. Was von dem Gewesenen zu lernen war, hat eigentlich nur der Verlierer begriffen, das Militär«, antwortete der Bankier Mohnweg.
»Sie standen von jeher schon über den Wassern?« fragte der Intendant, den es wurmte, daß man ihm so über den Mund gefahren war.
»Möglich, daß auch unsereiner das Gewesene nicht genügend in Betracht gezogen hat. Und daß wir uns allzusehr darin einkapselten, zu denken: Was geht uns die hohe Politik an? Wir sind Wirtschaftler! Es wird wohl auch das erste Mal sein, daß Sie mich über politische Dinge sprechen hören. Bedenken Sie, daß uns die Hände gebunden waren. Wir haben oft wider besseres Wissen handeln müssen, weil wir uns im Unterbewußtsein den Glauben nicht verschlagen konnten, daß es mit der Wirtschaft doch einmal wieder bergauf ginge. Und daß wir deshalb stets in Bereitschaft liegen müßten, bei täglich sich vermindernder Substanz. Gerüstet aber zur Aufnahme einer guten Konjunktur.«
»Gerüstet, um so dick zu verdienen, daß die Befreiung von allen Übeln der Welt nur noch eine Frage der Bewilligung einer entsprechenden Geldabfindung bedeutet«, antwortete der Stadtrat und verkniff sich einen bösen Zusatz.
»Das Sprichwort bleibt bestehen: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Ich beziehe mich auf diese Sentenz, auch wenn heute Blut daran klebt. Das klebt sogar schon an dem mißbrauchten lieben Gott, der, wenn man ihn so darstellen würde, wie er in Wirklichkeit nur beschaffen sein kann, nämlich ein ewiger Rebell, noch ein zweites Mal den Tod am Kreuz sterben müßte, diesmal unweigerlich aber als Jude. – Ich sprach von Hobelspänen, damit wollte ich sagen: Ja, wir sind gute Verdiener, aber statt Stempelstellen hätten wir auch gut gelöhnte und rundum sattgemachte Arbeiter in Eigenheimen haben können. Das wäre zu machen gewesen, hätten die Regierungen nur den allergeringsten Sinn dafür gehabt. Das, ich meine die Einsicht und Aktivität, hätte die Wirtschaft bis in die letzten Ausläufer hinein belebt und dem Staat die Mittel gegeben, sich nach oben und unten für lange Zeiten zu stabilisieren. – Lassen wir aber jetzt auch diesen . . . verblühten Traum. Ich will von Ihnen, Stadtrat, nur wissen: Auf welches Pferd setzen Sie das Fernere Ihres Daseins? Bitte die Wahrheit!«
»Auf das, welches nicht läuft, sondern stillsteht und abwartet. 85 Abwartet, bis sich die braunen Wasser wieder verlaufen haben. Das kann drei, das kann fünf, das kann unter Umständen sogar dreißig Jahre dauern. Es wird jetzt nur darauf ankommen, ob der Masse der Bauch gefüllt werden kann. Gelingt den Braunen die Füllung, dann wird die Masse auch einen Krieg hinnehmen, den ich als das vorerst einzige große Ziel der ganzen Bewegung sehe. Los von Versailles. Und hinein in das ganz große Deutschland. Einhundertfünfzig Millionen Einwohner gleich dreißig Millionen Soldaten, schuldenfrei und Platz, sich behäbig in der Sonne zu aalen.«
»Die andere Seite dieser billigen Spekulation aber ist?«
»Wenn wir wieder ganz von vorn anfangen, Mohnweg, und systematischer aufbauen als in den Jahren vor dem Weltkrieg, wenn wir Vorbereitungen getroffen haben, daß wir den Nachtwächter sowohl als auch einen Staatspräsidenten von Format stellen können, vor allem aber für unsere Truppe, die nur eine Miliz sein kann, unsere eigenen Offiziere haben und keine Leihgaben aus jener Kaste, die zu uns steht wie Feuer zu Wasser, dann wird die nächste Liquidation, die wir ausführen müssen, nicht der Strick sein, der uns abwürgt. Und wir werden ganz andere Wege gehn müssen, als Rußland sie damals ging. Wir werden dort einsetzen, wo Rußland heute steht: Staatssozialismus. Mit aller Konsequenz aber.«
»Ich bin erstaunt über den Bogen, den Sie jetzt schlagen.«
»Ich halte ihn für einen Schicksalsweg. Ich bin, wenn ich vorwärts sehe, durchaus der Meinung, daß uns nichts anderes übrigblieb, als dieses Spiel, das wir spielten, kläglich zu verlieren. Weil wir nicht haben hören wollen, was die Toten uns zugerufen haben. Und es jetzt fühlen müssen.«
»Sie glauben, das ließe sich alles nivellieren, wenn Sie in Tuchfühlung bleiben?«
»Ich habe auch der kaiserlichen Regierung gedient, ohne daß ich ein Kaiserlicher war oder gar wurde. Ich habe das Ende dieser neuen Einrichtung mir im ungefähren ausgerechnet. Ich versuche mit Wasser und nicht mit Weißbier oder Fusel zu kochen.«
»Nee, mein Lieber!« antwortete der Bankier. »Alles, was Sie hier vorgetragen haben, läuft auf die moralische Scheuklappe hinaus, die Sie sich jetzt anlegen, damit Ihnen das Mitziehn am braunen Strick nicht auf den Magen drückt. Sie kleben außerdem am Amt. Sie stellen sich vor, daß Sie ohne Amt zugrunde gehn. Und bilden sich womöglich auch noch ein, daß ohne Sie jegliches Amt zugrunde gehn muß. Ich kenne das.« 86
»Sie verwechseln mich mit einem Ministerialdirektor oder mit einer Frau, die Opernpartien singt.«
»Gewiß; weil Sie bleiben wollen und ich nicht die Notwendigkeit einsehe, daß Sie bleiben müssen.«
»Ich sagte Ihnen klar und deutlich: Ich will mich auf die nächste Liquidation vorbereiten. Und mir Leute heranbilden, mit denen ich, in einer entsprechenden Position, den neuen Laden nachher schmeißen kann.«
»Es graut Ihnen nicht davor, mit Leuten, die Sie verabscheuen, wie Sie vorhin sagten, zusammen an einem Tisch zu sitzen?«
»Ich habe lange Jahre mit Leuten am Beratungstisch sitzen müssen, die mir nicht nur körperlich zuwider waren. Sie, als freier Geschäftsmann, sind noch nicht in die Lage gekommen, sich von Parteifunktionären in Ihren geschäftlichen Maßnahmen stören zu lassen, von Leuten, die, auf Grund ihrer Unkenntnisse im Fachlichen, sich herausnehmen, jedem fachlichen Sachbearbeiter mit sogenannter freundschaftlicher Kritik zu kommen. Weil sie sich einbilden, solche lächerlich dumme Kritik würde ihnen Respekt verschaffen. Und man bekäme es mit der Angst, daß jemand da sei, der einem auf die Finger guckt. Sie, in Ihrem Betrieb, haben es mit Menschen zu tun, die das A und das O ihres Handwerks von Grund auf haben lernen müssen. Und wenn einer von diesen Leuten in eine leitende Stellung hinaufrücken will, dann muß er zunächst einmal auch das entsprechende Zeug dafür im Kopf haben. Die Parteifunktionäre hingegen haben es nicht nötig, etwas im Kopf zu haben, sie haben von Geburt an schon jene Rotzfrechheit auf der Zunge, die sie so beweglich macht, als stellten sie einen Ausbund von Tüchtigkeit vor. Der Parteifunktionär wird Ihnen auf jeglichem Gebiet des öffentlichen Lebens, vom Straßenbau bis zum Markt für kommunale Anleihen, seinen alles besserwissenden Senf servieren. Er wird Ihnen klarmachen, daß man das Altmännerheim nicht unter Kiefern am Dolgensee, sondern in der Chausseestraße hätte errichten müssen, daß Heinrich Mann ein untermittelmäßiger Schriftsteller sei und die Bröger und Barthel proletarische Genies, daß der Stabstrompeter Havemann entschieden temperamentvoller dirigiere und eine volkstümlichere Musik mache als der auch mit dem Stab noch mauschelnde Klemperer, und daß man den Neubau des Bezirksamts Wedding den Brüdern Luckhardt hätte geben müssen und nicht dem Expressionisten Taut.
Dieser Funktionär wird immer und überall recht haben wollen und für seine quengelnde Rechthaberei die Parteimitglieder ins Feuer führen. 87 Dabei schert er sich einen Pfifferling um die Meinung der Parteimitglieder, diese Meinung bringt er ihnen erst bei und läßt darüber abstimmen. Ich gehe sogar so weit und behaupte, daß wir weniger tief im Schlamassel säßen, daß uns dieser braune Scharlatan vielleicht nie so nahe auf die Bude gerückt wäre, würden die Funktionäre nicht die Partei in unserer Partei gewesen sein. Der mit dem stets mißverstandenen Parteiprogramm bekleckerte Zeigefinger ist der Galgen, an dem die Partei jetzt gehenkt wird.
Ich habe mich durchgesetzt gegen die Funktionäre. Manchmal ging es auf Biegen und Brechen. Ich werde mich auch gegen die viel leichter zu behandelnden Bonzen der Nazis durchzusetzen wissen. Und bleiben, was ich war, nämlich ein praktischer Sozialist. Ich verachte nicht die Masse, obwohl sie, losgelassen, jeden Tyrannen an Herrschsucht noch übertrifft; aber jene Neunmalklugen, die sich zum Vormund der Masse machen . . . die verachte ich.
Das Beiwerk der Nazis . . . das geniert mich nicht. Ich kann meine Augen zumachen, wenn ich nicht sehen will. Und ich kann auch meine Ohren verstopfen, wenn ich nicht hören will. Und doch werden die Leute glauben müssen, ich sehe und höre.«
»Dann müssen Sie Nerven aus fingerdickem Gummi haben«, erwiderte der Bankier und klingelte. Dem eintretenden Diener gab er die Anweisung, die kalte Platte zu servieren und noch zwei Flaschen zu temperieren.
Als der Diener sich wieder entfernt hatte, sagte der Stadtrat: »Sie gedenken wohl eine Dauersitzung hier abzuhalten und das eigentliche Thema unserer Zusammenkunft, wie üblich, auf die letzte Minute . . . husch . . . husch . . . zu verschieben?«
»Sie meinen die Oper? Das dürfte doch erledigt sein. Wenigstens soweit meine Person als Mitglied des Aufsichtsrats eine Rolle dabei spielt. Ich sagte Ihnen ja heute früh schon am Telefon, daß mein Sozius die Bank übernimmt und ich mich außerhalb Deutschlands zunächst einmal richtig ausschlafen werde. Was dann noch übrig sein wird von all den bösen Eindrücken der letzten Monate, damit werde ich auf der Gegenseite zu wuchern versuchen. Vielleicht gründe ich den Emigranten eine Zeitung. Nur diese Pestluft hier keine Minute länger einatmen, als Zeit für die Reisevorbereitungen gebraucht wird! – Und Sie, mein lieber Intendant, verlassen Sie sich nur nicht auf Ihre Fachkenntnisse und Ihre bisherigen Leistungen wie der Stadtrat. Halten Sie sich um Gottes willen nicht für unersetzlich. Eine Oper kann auch von Militärs geleitet werden, 88 das war schon in den Zeiten des Kaisers so üblich. Oder rechnen Sie etwa damit, daß der Stadtrat bleibt und Sie gerettet sind?«
»Man wird mir nichts vorzuwerfen haben.«
»Doch. Das Parteibuch. Sie gelten als jemand, der nur auf Grund dieses Buches vom Schauspieler in die Position eines hochbezahlten Intendanten geschoben wurde. Sie standen damals in engerer Wahl mit einem Herrn, der heute den Rang eines Standartenführers in der SS bekleidet. Die Niederlage, die dieser Herr erlebte und die ihm im wesentlichen ich beigebracht habe, denn die Sozialisten waren für die Wahl dieses Herrn von und zu, die hat man Ihnen dreifach angekreidet.«
»Die beiden Nazis im Aufsichtsrat sind mir immer sehr gewogen gewesen. Jedenfalls haben sie mich freundlicher behandelt als meine eigenen Parteigenossen.«
»Ihnen gewogen als Kartenspender. Lassen Sie nur; wir wissen Bescheid. Aber: Sie wollen wirklich warten, bis man Ihnen den Tritt in den Hintern gibt?«
»Ich müßte Ihnen jetzt mit der gleichen Antwort dienen, mit der der Herr sein Bleiben begründete.«
»Ich . . . ?« fragte der Stadtrat. »Irrtum. Ich habe nicht mein Bleiben begründet, sondern Ihnen nur einen Einblick in die Situation gegeben, die sich meiner Meinung nach ergeben wird.«
»Das heißt mit anderen Worten: Sie würden mich fallenlassen, wenn Sie im Amt blieben und von der Ihnen vorgesetzten Instanz meine Entlassung gefordert würde?«
»In diese Lage kann ich gar nicht versetzt werden.«
»Wieso?« fragten beide, der Intendant und der Bankier.
»In dem Augenblick, meine Herren, wo es für mich feststehen wird, daß ich bleibe, gebe ich alle Positionen ab, die nicht direkt mit dem zusammenhängen, was in mein eigentliches Ressort schlägt. Ich werde mich ganz auf das Verwaltungstechnische der Finanzen zurückziehen und in der Öffentlichkeit nicht mehr sichtbar sein.«
»Sie haben sogar schon einen festen Plan. Allerhand.«
»Der Plan ist bereits vier Jahre alt. Es entwickelte sich bisher alles nach diesem Plan. Es wird sich auch weiterhin so entwickeln. Bis zur Zerstörung.«
»Welcher Zerstörung, Ihrer?«
»Entweder – oder . . . mein lieber Mohnweg.«
»Dann halten Sie meinen Schritt für falsch?«
»Wäre Ihre Frau Gemahlin nicht Jüdin und hätten Sie damals sich 89 nicht die Extratour mit den ›Unabhängigen‹ erlaubt . . . dann vielleicht. Denn auch Sie könnten, wenn Sie blieben, so wirken, daß Sand in den Motor hineinweht und die Dynamik flötengeht. – Aber nicht Sie, Herr Intendant. Ihnen bleibt nur die bedingungslose, womöglich sogar auch noch schimpfliche Unterwerfung. Oder das Ausland. Und wenn dort keine Intendantenposten zu vergeben sind, lernen Sie sehr schnell die englische Sprache. Vielleicht glückt es Ihnen, den Hamlet oder einen der Ferdinands in Boston oder Sydney zu spielen.«
»Das sind ja reizende Perspektiven!« erwiderte der Intendant und schüttelte den Kopf.
»Ja . . . sehen Sie – jetzt muß ich sagen: in welch einem verstaubten Winkel der Abseitigkeit leben Sie denn? Gegen Wahnwitz kommt keine menschliche Anständigkeit an. Ein in gewissen Grenzen und in manchen Fächern noch möglich gewesenes geistiges System soll ersetzt werden durch das Dienstreglement und den Schwung der Exerzierbeine. Wissen und Gewissen . . . wer damit behaftet ist, hat ausgespielt. Verlangen Sie doch nicht von einem Tankgeschwader, daß es Ballett tanzt, und von einem Flammenwerfer nicht, daß er das hohe C in der Stretta mit Bruststimme singt. Inszenierungen à la Jessner oder Max Reinhardt sind längst überholt. Die Kulisse und das Brimborium der Geräusche und Beleuchtungen im Sportpalast . . . das ist die neue Art von Regie, Massen irrsinnig zu machen und den Oberirrsinnigen volle Taschen. Die Entwürfe dazu sind vom Führer bis ins kleinste Detail durchgezeichnet, uniform gemacht und für neun Mark neunzig in jeder Feldzeugmeisterei käuflich. – Sie haben Ihre Zeit verschlafen, Herr Intendant. Der Chorsänger, der Sie ablösen wird, hat fünf Jahre lang die dienstfreien Tage und Nächte und ein Viertel seines Einkommens geopfert, um den Rang eines Scharführers zu erklettern. Nicht das, was jetzt an unerhörten Greuelgeschichten herumgesprochen wird oder was Sie direkt von den Opfern erfahren, die zu Ihrem Bekanntenkreis gehörten, nicht die Jagd auf jüdische Anwälte und Ärzte, Journalisten und Künstler allein, nicht der Sturm auf die Warenhäuser und Altkleiderhandlungen sind das wirkliche Gesicht dieser ›Geschichte machenden‹ Tage, sondern das erst noch Kommende wird es sein. Wenn dieser erste Schrecken vorüber, der zweite beim Sich-Austoben und der dritte im Anrollen ist. Wenn die Gefängnisse und Zuchthäuser sich verzehnfacht haben werden und immer noch überfüllt sind. Wenn statt Gröpler sieben Schlächter das Hackbeil schwingen und die proletarische Masse keine Funktionäre mehr kennt, sondern nur noch Kämpfer. Wenn das Brot wieder aus Sägemehl 90 hergestellt wird und jeder Mann in Deutschland, jede Fabrik, jede öffentliche Einrichtung unter das Kriegsgesetz fällt. Dann erst wird der Irrsinn der Barbaren vollendet sein – und Deutschland tanzen zu der beinernen Flöte, auf der der Tod aufspielt. – Sie aber sind jetzt schon schockiert, wenn es Ihnen zu blühen scheint, daß Sie eine bequeme Position aufgeben müssen, teils, weil Sie die Luft nicht zu vertragen glauben, teils, weil Sie sich wundern, daß man auf Ihre Treu und Redlichkeit keinen Wechsel ziehen will.
Ich wenigstens bilde mir ein, daß ich auch noch die Entzauberung erleben werde. Gewiß, dazu gehören Nerven. Ich habe sie. Und es werden sie noch viele Leute haben müssen, von denen Sie heute glauben, daß sie aus Feigheit sich ducken und als moralische Minderwertigkeiten ihr Fähnchen nach dem Wind drehen.«
Als der Diener mit der Platte kam, hatte der Stadtrat sich schon verabschiedet. Der Intendant war noch geblieben, weil er die Frau des Hauses noch zu sprechen wünschte, die eine frühere Kollegin und häufige Partnerin von ihm war, damals, in Frankfurt, als er bei Weichert noch jugendliche Helden gespielt hatte.
Der Bankier fragte: »Was halten Sie nun von diesem Glaubensbekenntnis und diesem sonderbaren Zukunftsgemälde, das der Stadtrat soeben entwickelt hat? Ich jedenfalls habe ihn noch nie so kennengelernt.«
»Ich muß Ihnen ehrlich gestehen, Herr Geheimrat, ich bin der Meinung, daß der Wein das aus ihm herausgeholt hat, was er in Wirklichkeit auch denkt . . . privat. Was er aber tun wird, offiziell, das geschieht unter der Einwirkung von Wasser.«
»Ja . . . so oder so. Er hat sich nie in die Karten sehen lassen. Vielleicht glückt es ihm auch fernerhin. Mich aber reizt solch ein Temperament nicht. Die neuen Herren des neuen Tages: mögen sie unter sich bleiben. Die Zwangsjacke haben sie einstweilen noch nicht zu fürchten, denn die Leute, die den Geisteszustand dieser großen Minderwertigkeiten frühzeitig erkannt und aufgedeckt hatten, sind wehrlos gemacht. Und erleben die Auswirkungen im Bunker. – Wir werden sonntagnacht reisen. Paar Tage Paris . . . und in Nizza hoffe ich die Brüder Mann und die Annette Kolb zu treffen. – Ja . . . und Sie?«
»Was soll man tun? Hoffen, das ist alles.«
»Also: solange wie möglich klebenbleiben?«
»Bis der Tritt kommt. Und man sich einbildet, daß auch solche Verabschiedung zum Schauspielen gehört, um das man sich so gerissen hat.« 91