Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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VI   Eine jüdische Frau

An der blaßgelben Wand, zwischen Bücherschrank und Couch-Ecke, hingen zwei Bilder. Das eine, von George Grosz, stellte Hinkemann mit der Drehorgel dar auf einem der finsteren Höfe Berliner Mietskasernen – schmutziggrünes Licht, verwest die Gesichter, bröcklig und schwarz die Mauern. Das andere Bild war ein Franz Marc: zitronengelbe Kühe auf einer violett flimmernden Wiese, Berge dahinter, silbriggrün, vom Rot der absinkenden Sonne gestreift. Und unter den Bildern stand ein gebrechlich gedrechselter Tisch aus Rosenholz (einst für die Madame Pompadour angefertigt von Meister Vignon), mit einem dalbrig-springenden Fohlen darauf, einer getönten Bronze der Sintenis, die bis vor kurzem noch als eine intime Freundin der Frau dieses Hauses galt. Heute suchte sie Anschluß an den Bezirk derer um Emmy Sonnemann, einer von Göring beschlafenen Schauspielerin, die vordem am Staatstheater als Gretchen durchgefallen war.

Frau Elsa Joachim, Jüdin, aufreizend rotes Haar, perlmutterblasse Haut (genau wie auf dem hingehauchten Pastell-Porträt der Marie Laurencin, das im Arbeitszimmer des Hausherrn hing), Mitte der Dreißig und doch noch mit knabenhaft schlankem Körper, hatte die Wandlung der intimen Freundin zuerst sehr tragisch genommen, dann aber als eine Episode angesehen, die man nur mit einem Achselzucken abtun kann.

In der alten sozialdemokratischen Partei war Elsas Vater einer der von August Bebel am heftigsten bekämpften »Akademiker« gewesen. Er schrieb nicht im »Vorwärts«, aber für Theodor Wolff und in den »Sozialistischen Monatsheften«. Lily Braun, der Schauspieler Rudolf Rittner, die Käthe Kollwitz und der Tenor Nadolowitsch von der Komischen Oper, Maximilian Harden, James Simon und Alfred Mombert zählten zu den häufigsten Gästen im elterlichen Haus. Bei Emil Milan hatte die Tochter Elsa eine gediegene Ausbildung als Rezitatorin erhalten. 69 An ihrem ersten Abend im »Meistersaal« der Köthener Straße (Programm: Baudelaire, Stefan George, Mombert und Rilke) waren außer der Verwandt- und Bekanntschaft, den Mitschülerinnen und Albert Ehrenstein vom »Berliner Tageblatt« noch Max Reinhardt und Doktor Joachim anwesend. Ehrenstein schrieb eine Hymne, Max Reinhardt engagierte Elsa und stellte sie in den Kammerspielen als Lulu in Frank Wedekinds »Erdgeist« heraus. Es war trotz allem Wohlwollen von Julius Bab und Norbert Falck ein Begräbnis erster Klasse. Elsa gab die Kammerspiele und auch den Meistersaal auf. Der Doktor Joachim aber heiratete die Achtzehnjährige.

Es war im Mai 1913. Die Tannen im Schwarzwald hatten hellgrüne Lichter aufgesteckt. Die junge Frau streichelte die zahmen Rehe. Der Doktor las ein antimilitaristisches Buch von Jean Jaurès. Mittags aßen sie Forellen. Durch die feierliche süddeutsche Mondnacht geisterten die Lieder von Eichendorff und Nikolaus Lenau.

Als Doktor Joachim (Kgl. Bayr. Oberleutnant d. R.) Ende November 1917 mit einer leidlich ausgeheilten Wunde aus dem Krieg zurückkehrte, hatte Berlin schon Schnee und den ersten großen Streik in den Rüstungsbetrieben. Die Butter wurde immer knapper, die Eier wogen pro Stück eine Mark, und den Schinken mußte man sich per Auto von Mecklenburg holen. Und als Doktor Joachim die Anwaltspraxis wieder aufnahm, »sehr gut ins Geschäft kam« und immer noch mehr verdiente, wollte man endlich auch wieder Leute um sich sehen, mit denen man über den Krieg so sprechen konnte, wie er in den Zeitungen nicht besprochen werden durfte. In den Zeitungen sprachen das Große Hauptquartier und die von ihm alimentierten Schreiber Rolf Brandt und Alfred Richard Meyer, Wilhelm Schmidtbonn und Bernhard Kellermann.

Nette kleine Abendgesellschaften bei Joachims an einem jeden Dienstag. Es gab gediegene Fleischplatten und unverfälschte Süßigkeiten. Es gab dicken schwarzen Mokka zu holländischen Likören und englischen Zigaretten. Hasenclever war da und rezitierte ein ganzes Drama frei aus dem Gedächtnis. Die Rahel Sanzara tanzte griechisch-römisch und Bauch. Ernst Deutsch las Kapitel aus dem »Feuer« von Barbusse. Und Rudi Breitscheid sprach von einem immer noch möglichen deutschen Sieg und einem künftigen demokratischen Kaisertum.

Der Doktor Joachim aber war für einen baldigen Frieden – Frieden um jeden Preis und ohne Annexionen. Und er sagte: »Wer durch diese Hölle gegangen ist und dem das Grauen die Augen aufgetrocknet hat, wer das gelbe, stinkige Wasser aus den Granattrichtern, wo es 70 herumschwamm von zerfetzten Gliedmaßen, dennoch hat saufen müssen, wem die Läuse Löcher in das Fleisch gefressen haben und dem die Gedärme verfault sind von der grünen Ruhr . . . der kann alle die anderen Menschen, die nicht an der Front waren, auch wenn sie vom Irrsinn dieses Krieges überzeugt sind, nur als Zaungäste ansehen. Wenn es zu Barrikaden kommen sollte: Wir werden oben stehen! Nicht aber die, denen das Fell nur von den moralischen Rutenschlägen juckt, die sie sich selber beibringen, wenn vor dem plakatierten Greuel sie das Grausen überkommt und Lyrik auslöst. Uns aber, die wir draußen waren, ist es eingebrannt bis in die letzten Fasern der Nerven hinein: Schluß mit diesem Morden, heute und in Ewigkeit!«

An diese Abende zwischen 1917 und 1918, kulturbolschewistisch und pazifistisch, erinnerte ein entsprechender Vermerk auf der Personalkarte des Doktors Joachim. Das Braune Haus in der Berliner Voßstraße besaß einige Zehntausend solcher »Steckbriefe«.

Und an diese gleichen, manchmal ein wenig heftigen, aber doch zeitgemäßen und jetzt schon Literaturgeschichte gewordenen Abende mußte auch Elsa Joachim zurückdenken, als sie auf der Couch hockte, in einem dunkelgrünen Pyjama, das Oberteil wie eine Russenbluse geschnitten. Auf dem niedrigen Tisch vor ihr lag das gelbe Stück Papier, der Wisch, worin ihr von der Behörde mitgeteilt worden war, daß »Herzschwäche« die Todesursache ihres Mannes gewesen sei.

Sie hätte jetzt gern mit Rudi Breitscheid gesprochen, aber der war schon nach Prag emigriert. Sie hätte gern mit Albert Ehrenstein gesprochen, aber von Wien nach Berlin ist ein weiter Weg, wenn der Reichstag brennt und im Osten und Norden der Stadt die Stahlruten wüten und die Pistolen knallen.

Es war niemand mehr da – Hasenclever nicht und Ernst Deutsch, George Grosz nicht und der Klassi-Kerr; nur der Belling war geblieben, drückte Hitler seine Ergebenheit aus und modellierte Göring schlank.

Ein ehemals »engbefreundeter« Museumsdirektor flüsterte am Telefon: »Das hat man nicht voraussehn können . . . ganz gewiß nicht, gnädige Frau. Lesen Sie jetzt Rilke, der gilt nicht als staatsfeindlich, lesen Sie Carossa . . . der beruhigt . . .« Und hing ab.

Es war nur der Doktor Grätz da, mit dem man sich über die Wirklichkeit aussprechen konnte. Er war in dieser Woche mindestens schon dreimal von Buch herübergekommen, und er tat alles, was man unter solchen Umständen noch zu tun vermag, den Räubern das Spiel nicht allzu leicht zu machen. Dieses Tun aber hier, in dem Fall Joachim, reichte 71 nicht weiter als bis zum Vorzimmer des Polizeipräsidenten, dem die Anweisung gegeben war, lieber zu kurz als gar nicht zu schießen. Schießen aber in jedem Fall.

Und der diensttuende Regierungsrat im Vorzimmer konnte Doktor Grätz auch nur den Bescheid geben: »Wir von der Polizei haben mit dem Fall gar nichts zu tun. Was von uns behandelt wird, geht seinen ordnungsgemäßen Weg bis zur politischen Abteilung. Über die verfügt speziell der Herr Ministerpräsident. Versuchen Sie es dort. Aber was wollen Sie noch versuchen? Der Mann ist tot. Die Leiche verbrannt. Der Mann war Jude. Aus Akten, die hier durchgingen und die ich flüchtig las, war zu ersehen, daß sein Haus von oben bis unten bolschewistisch verseucht war. Schwerer Fall. Ich kann nur raten: Lassen Sie die Finger davon. Machen Sie um Himmels willen kein Theater aus der Sache. Der Reinhardt hat ausgespielt. In diesen Tagen aufgeregter deutscher Revolution spaßt man nicht. Und schließlich ist jeder sich selber der Nächste.«

»Es liegt hier aber doch ein von privaten Personen mit Vorbedacht ausgeführter gemeiner Mord vor?!«

»Sie sind Arzt, nicht Anwalt. Der Totenschein drückt klar und deutlich die Ursache des Ablebens aus. Oder wollen Sie etwa . . . nein, das kommt hier ja gar nicht in Frage! Ich meine – eine Sezierung. Oder wollen Sie womöglich auf Grund einer Analyse der Asche zu einem anderen Resultat kommen als Ihr Kollege, der den Totenschein ausstellte? Ich kann Ihnen verraten, es gibt keine Garantie für die Richtigkeit der Asche. Bedenken Sie: oft acht Verbrennungen zugleich auf dem Rost. Die Rückstände nachher geteilt in acht gleiche Teile . . .«

»Ich bin in erster Linie ein Verwandter der Familie Joachim, Herr Regierungsrat!«

»Dann weiß ich Ihnen überhaupt keinen Rat mehr. Oder doch nur den einen freundschaftlichen, auf Grund unserer früheren häufigen Zusammenarbeit . . . denken Sie an die Sicherung der eigenen Haut!«

»Eben das hat mich hierher geführt.«

»Ich glaube, mein Herr, unsere Unterhaltung ist beendet.«

Und als Doktor Grätz mit diesem Bescheid zu Elsa Joachim zurückkehrte, war sie nicht allein. Fräulein Liesa Schimmel hatte sich eingefunden; man hatte sie gerufen, in dem demolierten Anwaltsbüro zu ordnen, was noch in Ordnung gebracht werden konnte.

Und so hörte auch dieses politisch unbescholtene junge Menschenkind zum ersten Mal, daß es heute solche Begriffe wie Recht und Gerechtigkeit nicht mehr gäbe, obwohl das Bürgerliche Gesetzbuch und die 72 Paragraphen des Strafrechts noch nicht aufgehoben waren. Und daß man noch nicht einmal in einem vom Reichspräsidenten dekretierten Ausnahmezustand lebe, sondern im Bezirk der hysterischen Willkür und pathologischer Besessenheit einer Partei.

Und als Doktor Grätz, nachdem er mit Liesa Schimmel alles noch durchgesprochen hatte, was man tun müsse, um das Anwaltsbüro in einer korrekten Form zu liquidieren, sich verabschieden wollte, erhob sich auch Liesa Schimmel und wollte gehen. Elsa Joachim aber bat, sie möchte doch wenigstens bis zum Essen bleiben. Denn immer könne man doch nicht so allein sein, obwohl das Alleinsein noch die einzige Möglichkeit sei, diese grauenhaften Dinge zu überwinden.

»Sie waren bis zum November vorigen Jahres im Büro?«

»Bis der Boykott einsetzte, ja.«

»Welcher Boykott?«

»Der drei großen Industriefirmen, von denen wir sozusagen lebten.«

»Ach so . . . die . . .?! Ja, davon hatte mein Mann einmal sehr heftig gesprochen. Ich erinnere mich jetzt. Und die eigentliche Ursache war die Verteidigung der Brüder Sturm. So war es doch wohl?«

»Ja . . . die Verteidigung der Kommunisten, denen man einen Mord unterschieben wollte.«

»Ich habe mich nie darum gekümmert; aber vielleicht wissen Sie es: Hat mein Mann offiziell der kommunistischen Partei angehört?«

»Nein. Denn er sagte ja, als er den Prozeß übernahm: nur weil einer dieser Brüder Sturm ein Kriegskamerad von ihm war, würde er die beiden Leute heraushauen, gerade weil er kein Kommunist sei und überhaupt zum ersten Mal in einem so prononciert politischen Prozeß auftrete, während andere Anwälte schon öfter solche Prozesse geführt hätten und bei den Gerichten bekannt wären als Kommunisten oder Sozialdemokraten.«

»Und wie stand es um den Bürovorsteher? Er hat sich bis heute noch nicht blicken lassen.«

»Ein harmloser Mann, die richtige Hasenpfote. Daß er bisher nicht gekommen ist, geschah sicher aus Angst, er könnte am Ende noch verwickelt werden in diese grauenhafte Geschichte.«

»Wir sind hier unter uns, liebes Fräulein, nicht wahr? Und deshalb kann ich wohl auch ruhig fragen: Haben Sie sich politisch betätigt? Ich meine: aktiv und in aller Öffentlichkeit?«

»Bis vor kurzem nicht.«

»Das soll heißen: jetzt aber betätigen Sie sich aktiv?« 73

»Betätigen kann man nicht gut sagen. Ich überdenke erst alle diese Dinge. Ich bin von keiner Seite her beeinflußt. Ich kann mir ein eigenes Urteil bilden. Und ich habe es mir zum Teil auch schon gebildet.«

»Woran? Daß auf der einen Seite geprügelt, geschossen und erschlagen wird und auf der anderen Seite alles in Auflösung und in Verwirrung ist?«

»Ich habe darüber nachgedacht, zuerst ganz privat, warum eigentlich der Doktor Joachim boykottiert worden ist. Und welcher Unterschied im Staatsbürgerlichen zwischen Juden und Nichtjuden besteht. Und was und wer diese Unterschiede so zugespitzt hat, daß Mord und Totschlag daraus werden mußten, tierische Feindschaften bis in die Familien hinein . . . Und in dem ganz speziellen Fall von Doktor Joachim: wer der eigentliche Urheber dieses Mordüberfalls war und welche Motive dieses Subjekt bewegten, private oder parteipolitische . . .«

»Wahrscheinlich haben Sie das alles überdacht, weil Sie meinem Mann etwas näher standen als sonst Angestellte ihrem Chef. Sie brauchen nicht so zu erschrecken, mein Kind; ich meinte nicht die körperliche Nähe. Das interessiert mich gar nicht. Nein, mein Mann sprach von Ihnen hier im Hause sehr wenig, weil mir sein berufliches Leben sehr fern lag. Aber wenn er einmal von Ihnen sprach, dann geschah es in einer fast auffälligen Hochachtung vor Ihren Kenntnissen und Ihren Leistungen. Also ist es doch so zu verstehen, daß Ihnen das Ende meines Mannes, vor allem das Wie und Warum, nicht gleichgültig sein kann.«

»Ja . . . erst dieser Fall hat mir die Augen geöffnet. Und ich kann mich nicht frei von Mitschuld sprechen. Täglich wird mir dieses Teilhaben an der Schuld bewußter. Ich habe kein Recht, diese Gefühle zu unterdrücken. Ich muß sie brennen lassen . . . so lange, bis ich bereit bin zu handeln.«

»Von welch einer Schuld sprechen Sie eigentlich?«

»Was Schuld ist, das habe ich Ihnen bereits in aller Deutlichkeit schriftlich erklärt, gleich am nächsten Tage, als ich von dem gemeinen Überfall auf Doktor Joachim erfuhr.«

»Sie wollen wieder auf Ihre Brüder zurückkommen. Das ist Irrsinn, mein Kind! Ich habe es Ihnen vorhin schon gesagt. Und würde ich der Sache den gleichen Wert beimessen . . . dann hätte ich Sie ganz gewiß nicht empfangen. Daß ich Sie aber empfangen habe und daß wir uns hier miteinander aussprechen, muß Ihnen doch Beweis genug sein, daß der Fall ganz anders liegt, als Sie ihn sich zurechtgelegt haben. Wenn Sie lediglich aus dem Grunde, daß Sie die Handlung Ihrer Brüder 74 verabscheuen, politisch aktiv werden wollen und womöglich glauben, Sie könnten damit etwas wiedergutmachen . . . ja . . . mein Kind, dann wäre das genauso verabscheuungswürdig, als wenn jemand aus rein materiellen Gründen die Farbe seiner politischen Gesinnung wechselt. Oder auch wie die Tat dieses Pasternack, der sich für einen verlorenen Prozeß gerächt hat.«

»Dem Sturmbann Pasternack gehören meine Brüder an.«

»Glauben Sie, daß Ihre Brüder privat teilgenommen haben an der privaten ›Abrechnung‹ des Subjektes Pasternack?«

»Nein, privat bestimmt nicht; sie führten einen dienstlichen Befehl aus. Das ist mir absolut klar. Ich kenne meine Brüder.«

»Und die Ausführung dienstlicher Befehle entschuldigen Sie nicht? Als mein Mann in den Krieg zog und einen dienstlichen Befehl ausführte . . . hätte ich mich da aufmachen und den Oberbefehlshaber erdolchen sollen?«

»Für den ausgeführten dienstlichen Befehl im Fall meiner Brüder . . . dafür gibt es keine Entschuldigung, und ich weigere mich entschieden, die Situation im Krieg mit den Zuständen von heute in einen Vergleich zu bringen.«

»Sie werden noch viel und lange darüber nachdenken müssen, mein Fräulein. Über den Staat, über die Machtverhältnisse, über Recht und Unrecht, über Heldentum und Opfertod, über den Totalitätsgedanken und die Anarchie, und ganz speziell über Deutschland.«

»Deutschland . . . davon habe ich von meinem Vater einen Begriff bekommen. Mein Vater hat nie in seinem Leben anders als deutsch gedacht und gehandelt. In aller Enge und in aller Weite. Aber er hat nie die Juden ausgeschlossen aus seinem Begriff Deutschland. Er hat seinen Arbeitern schlechte und gute Löhne gezahlt, je nachdem, wie das Geschäft ging. Aber er hat nie gefragt: Bist du Kommunist oder ein Christlich-Sozialer oder parteilos? Sondern: Versprichst du mir eine saubere Arbeit zu leisten oder bist du einer von denen, die ihren Kram nur so hinhudeln? Er ist für den Kaiser und für Ruhe und Ordnung. Er ist gegen die Kinos und die Radiostationen. Er geht durch den Wald und fühlt sich verwandt dem Baum und dem Wind, der die Wipfel bewegt. Er würde auch im Krieg, in aller Ruhe, auf einen Menschen anlegen und schießen, wenn es ihm vom Kaiser so befohlen werden sollte.«

»Ein alter Mann. Mein Vater, würde er noch leben, hätte als Sozialist nicht viel anders gedacht über das Deutschland in diesen Tagen. Und Juden gab es für ihn zweierlei, deutsche und nichtdeutsche.« 75

»Darüber kommen Sie hinweg?«

»Ich . . .? Ich denke doch: wir leben in einer anderen Generation.«

»Meine Brüder sind die gleiche Generation. Und doch ereifern sie sich für die ›Rassenfrage‹.«

»Sagen wir ruhig: materielle Frage! Alles andere ist pure Demagogie. Heute mit Gebrüll und Stahlruten . . . zwei Generationen später wieder still und hintenherum.«

»Das ist mir klar . . . ich bin aber nicht für die Wehrlosigkeit.«

»Dann vielleicht wird die Aktivität, auf die Sie sich vorbereiten, auch einen Sinn bekommen.«

»Ja . . . ich möchte mitarbeiten!«

»Sprechen Sie doch einmal mit Doktor Grätz darüber. Es ist möglich, daß er Ihnen eine Tür öffnen kann.«

»Ich bin erschüttert, wie Sie dieses Schwere zu tragen vermögen. Ich wäre Tag und Nacht durch die Straßen gerannt, bis ich den Mann ausfindig gemacht hätte, der gemordet hat. Und ich würde nicht nur ihn mitgenommen haben, sondern dazu noch so viele seinesgleichen, als Patronen in der Pistole gewesen wären.«

»Das, mein liebes Kind, wird so hingesagt, wenn man die Dinge aus der Ferne betrachtet. Ich habe hier drei Tage und drei Nächte auf dem Teppich gelegen und mir die Nägel in die Hände gekrallt, mir alle Furien der Rache vorgestellt. Und dann kamen die Schreikrämpfe. Und die Spritzen. Und die Tröstungen. Und das Wasser aus den Augen lief mit der Galle nach innen. Wie es jetzt aber getragen wird . . . ach, Kleine, reden wir nicht davon!«

»Mit dieser Stille würde ich zerbrechen.«

»Glauben Sie ja nicht an das Vorhandensein einer wehrlosen Stille. Ich bin tätig, auch in dieser Stille. Ich muß aber erst das Äußerste überwinden. Und das kann ich nur in der verdunkelten Stille. Später vielleicht . . . werde ich reisen. Und mich sammeln. Und wirken. Ich habe einmal an einer Person Lulu vorbeigespielt, auf dem Theater . . . und im Leben. Die nächste Rolle, die ich spiele, die werde ich sein. Und ich glaube, ich werde sie nicht mehr an dem wirklichen Ich vorüberspielen.« –

Es ging schon auf Mitternacht zu, als Liesa Schimmel das Haus im Grunewald verließ. Es waren nur dreißig, vierzig Schritte bis zum Bahnhof. Das Hausmädchen begleitete Liesa. Sie hatten kaum die Nachbarvilla erreicht, da hörte es sich an, als schrie ein großer Vogel mit einer schrill pfeifenden Stimme im schwarzen Geäst der Kiefern. Liesa Schimmel blieb unwillkürlich stehen und drehte sich um. Das Herz klopfte 76 ihr bis zum Halse herauf. Und ohne daß sie etwas davon wußte, hatte sie den Arm des Mädchens gepackt und krallte sich in das derbe Fleisch ein.

Das Mädchen löste sich aus der Umklammerung und sagte: »Sie brauchen sich um die gnädige Frau nicht so zu ängstigen. Das ist immer nur dieser eine Schrei. Eine Spritze . . . und dann ist es wieder ruhig. Wir sind schon gewöhnt daran.«

Liesa Schimmel sah das Mädchen an, als habe sie nicht richtig verstanden. Und sie blieb noch immer stehen und spannte alle Sinne an, als ob sie horche – auf das, was jetzt hinter dem Schrei sich bewegte. Und ihr Körper geriet in ein Zittern.

»Es ist wirklich nichts Gefährliches, mein Fräulein! Nur die Nerven. Und es ist ja auch noch jemand oben. Wenn es ganz schlimm wird, rufen wir den Doktor Grätz. Der weiß, wie man solche Attacken beruhigt.«

Als Liesa Schimmel im Zug saß, ganz allein im Abteil, gingen auch mit ihr die Nerven durch. Es war aber kein lauter Schrei in ihr. Und sie lag noch in Zuckungen auf der Bank, als der Zug in die Endstation einlief und der Schaffner eine Ohnmächtige aus dem Wagen tragen und die Rettungswache herbeirufen mußte. 77

 


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