Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XIX   Der Mann Etzien

Etzien hatte den Einstand hinter sich. Eine halbe Stunde nach der Einlieferung schon und ohne daß eine Vernehmung voraufgegangen war. In welchem Gefängnis oder in welcher Kaserne er sich eigentlich befand, darüber wurde er sich nicht klar. Es mußte ein kellerähnliches Gewölbe gewesen sein, in das sie zunächst vom Wagen heruntergeprügelt wurden, die sieben zu gleicher Zeit eingelieferten Häftlinge. Und mehr als ein Dutzend Menschen standen schon an den Wänden herum. Man stellte Etzien hinzu, drei Schritte Abstand vom Nebenmann. Aus irgendeiner Ecke quollen Schreie heraus, nicht deutlich zu hören, Etzien aber hatte gute Ohren und nahm auf, daß es Schmerzensschreie waren. Er wußte es, auch wenn er diese Schreie jetzt nicht gehört hätte, daß ihm hier nichts Angenehmes bevorstand. Er spannte die Sinne an, um alles genau wahrzunehmen, was mit diesem Geschrei zusammenhing: die klatschenden Geräusche, die schrillen Schmerzausbrüche, die Pausen, das Wimmern und hart skandierende Stimmen. Er wußte von Genossen, die solche Prügelszenen schon hinter sich hatten, in welcher Form die Prozedur vor sich ging. Er nahm den Vorgang, der sich ihm jetzt in den Geräuschen kundtat, in schnell reagierenden Gedankengängen auf und versuchte, sich in den mißhandelten Körper hineinzufühlen. Er machte sich eine genaue Vorstellung von dem, was mit diesem Mann, den die Folterknechte »bearbeiteten«, alles geschah. Er verspürte die Schläge, die auf den anderen, hinter der vielfach gepolsterten Tür, niedersausten. Über seinen Mund lief ein heftiges Zucken: die Schreie, die wilden und verzweifelten Ausbrüche der Schmerzgefühle des Geschlagenen und Gequälten. Und er kam in seinen Überlegungen dazu, sich so stark zu machen, daß er nicht so schreien würde wie dieser da . . . nein, um keinen Preis. Eher stumm verrecken wie ein totgetretener Wurm. Nur der Prügelbande nicht zeigen, daß sie einen Mann, der den neuen Staat bis aufs Messer bekämpft, mit Prügeln womöglich weichmachen kann. Nichts 230 dazu beitragen, um ihre Befriedigung zu einer vollkommenen zu machen. Aber ihre Wut schüren, dadurch, daß man nicht so schreit, wie sie es wünschen und wollen zu ihrer Lust.

Er schreckte nicht zusammen, als ihm ein Schwarzuniformierter einen Schlag ins Genick versetzte und ihn mit Fußtritten vorwärts trieb. Er bemerkte aber, daß eine gepolsterte Tür offenstand. Und er sah eine Lichtkugel, die von der Decke herunterhing, und darunter die spiegelblanke Fläche eines niedrigen Tisches. Zuletzt ein grinsendes Gesicht mit herausgebleckten großen gelben Zähnen.

Und schon platschte ihm ein nasses Handtuch um die Ohren. Und es waren drei Kerle, die jetzt im Takt, so wie Schmiedehämmer auf einem Amboß: eins . . . zwei . . . drei . . . eins . . . zwei . . . drei! auf ihm herumschlugen. Er zählte genau jeden Hieb. Er kam bis auf fünfundvierzig. Fünfundvierzig Hiebe mit schweren, geflochtenen Lederpeitschen.

Er hatte sich auch jedes Wort eingeprägt; es waren eigentlich immer nur drei Worte gewesen, die sich ständig wiederholten: »Rote Sau!« – »Kommunes Schwein!« – »Rote Bestie!«

Das war der Einstand gewesen, mit dem jeder hier, ohne Ausnahme, »begrüßt« wurde. Jeder Häftling, den man aus dem Wagen in den Keller hinunterprügelte. Niemand wurde nach dem Namen gefragt. Auch danach nicht, auf wessen Veranlassung und aus welchen Gründen die Einlieferung geschehen war. Der »Einstandsraum« in diesem Hause war eine Einrichtung, deren Betrieb genauso funktionierte wie das Atemholen und der Puls bei den Menschen, die hier weniger galten als ein räudiger Hund, der sich nicht mehr sauber halten kann und den man, wo man ihn sieht, mit Fußtritten bombardiert, weil er sich nicht in eine Ecke verkriecht und still verreckt. Es gibt solche Menschen, die mit Hunden, die sie vorher gestreichelt haben und von denen sie sich die Hand lecken ließen, so umgehen. Und man verachtet diese Menschen, und der Tierschutzverein kümmert sich um die mißhandelten Hunde, auch jetzt noch, in dem Braunauer Unordnungsstaat.

Etzien lag in einem Raum, der von irgendwoher Licht empfing, ohne daß die Quelle zu sehen war. Er konnte auch nicht groß sein, denn die Luft war dumpf und stickig. Es gingen auch keine fremden Atemzüge. So viel Gefühl hatte Etzien noch in den Ohren, um das festzustellen. Es sprach niemand. Es bewegte sich nichts. Er lag mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Füßen auf dem Bauch. Die Steine darunter waren glitschig und eiskalt. In einer halben Bewußtlosigkeit dachte er und überlegte, ob er wohl geschrien habe. Das Denken fing an, im 231 Hinterkopf und in den Schläfen zu schmerzen. Es war überhaupt keine Stelle an seinem Körper, die nicht schmerzte. Auch die entlegensten Nervenfasern nahmen den Schmerz wahr und leiteten ihn nach dem Gehirn, rissen es blutig.

Als nach vielen Stunden Etzien den Kopf ein wenig drehen konnte, schwamm und wirbelte es rot vor seinen Augen. Er zog den Arm an, obwohl der Schmerz grauenhaft in den Gelenken riß, winkelte ihn und befühlte mit der flachen Hand die Augen. Er verspürte nichts Feuchtes, nur eine dicke Geschwulst. Beide Augen waren geschlossen. Er erinnerte sich jetzt, daß der eine der Schläger, als er ihm das Handtuch vom Gesicht herunterriß, mit der Faust die Augen bearbeitet hatte.

Wieder strengte er sich an, festzustellen, ob er geschrien hatte. Er kam zu der Gewißheit, daß kein Ton aus seinem Munde herausgefahren war. Die Hose aber hatte er sich vollgemacht, und das Geschlecht hatte einen Erguß gehabt. Er ekelte sich. Ein Frostschauer jagte so stark durch seinen Körper, daß er ein Stück hochflog und das Bewußtsein ihm dabei eine ganze Weile durcheinandergeriet.

Die Erschöpfung betäubte zuletzt das Gehirn und brachte es in einen schlafähnlichen Zustand. Es blieb eine ganze Weile nur der Schmerz im rechten Schulterknochen stehen. Auf diese Stelle war der letzte Hieb heruntergesaust. Das Nachgefühl von diesem mit äußerster Kraft geführten Hieb wich und wich nicht. Daran merkte er, daß es doch kein Schlaf war, was ihn jetzt lähmte, sondern nur eine stellenweise noch wirkende Betäubung. In kurzen Abständen jagten die Schauer des Fiebers. An den Höhepunkten ging ein Drehen durch sein Gehirn, so, als läge er auf einer rasend im Kreise herumgewirbelten Scheibe.

Er hatte nicht das geringste Gefühl für die Zeit. Es konnten Stunden gewesen sein, daß er ohne Bewußtsein lag, es konnten aber auch schon Tage sein. Er unterschied nichts mehr.

Er hatte auch nichts davon verspürt, daß dieses schwarze Loch jetzt geöffnet wurde und daß im Lichtschein, der von draußen hereinfiel, zwei SS-Soldaten ihn mit Stiefelabsätzen bearbeiteten. Und als er keinen Laut von sich gab und im Körper nur ein Zucken heftig war nach jedem der Tritte, packte ihn der eine SS-Mann, der einen weißblonden Schopf hatte und eine eingedrückte Boxernase, am Fußgelenk und schleifte ihn über den langen Gang, eine Treppe hinunter. Von Stufe zu Stufe sprang der Kopf wie ein Gummiball und schlug mit einem dumpfen Krachen wieder auf. Und dann ging es ein langes Stück Korridor hinauf und in ein anderes Loch hinein. 232

Dieser Raum hatte oben an der Decke ein kleines, rundes Fenster aus einem schmutzigen Milchglas. Aber das entdeckte Etzien erst viel später. Und er verspürte auch nicht die Wucht, mit der ihn der Weißkopf in das Loch hineinschleuderte, so daß der Körper – im buchstäblichen Sinn – an der Wand klebenblieb.

Als die purpurne Dunkelheit von dem Gedächtnis Etziens gewichen war, verspürte er zuerst die glutheiße Trockenheit im Mund. Und dann die Härte, die gegen seinen Kopf drückte. Es war nicht sein Wille, sondern nur ein Reflex der Nerven, daß der Kopf sich von der Mauer zurückzog. Und damit geschah schon eine gewisse Erleichterung, die den Willen freimachte. Und dieser Wille wollte Licht. Die Geschwulst an den Augen war ein wenig zurückgegangen. Haardünne Ritzen öffneten die Lider. Es war nur so viel, daß Etzien die Mauer wahrnahm und den Fußboden. Und es dauerte noch eine ganze Weile, bis er sich so viel herumdrehen konnte, daß er die Lichtquelle zu erkennen und zu deuten vermochte.

Er lag auf der Seite und drückte jetzt den Rücken gegen die Wand. Der brennende Schmerz war wieder da, er lag aber nicht mehr außen auf der Haut, viel tiefer schon, in den Muskeln und im Fleisch. Die Kühlung durch den Stein half nicht viel. Er hörte mit dem Pressen auf. Er versuchte jetzt, sich darauf zu konzentrieren, die Einzelheiten des Raumes festzustellen. Das Bemühen, den Kopf zu heben, mißlang drei, vier Mal. Dann aber, nach einer neuerlichen Anstrengung, glückte es. Er tastete mit dem Licht der viertelgeöffneten Augen die gegenüberliegende Wand ab. Sie blieb dunkel und kahl. Und von der Wand kroch der Blick, wie der Walzenleib eines Tausendfüßlers, zum Fenster hinauf und blieb minutenlang dort oben hängen in dem schmuddelig-grauen Licht.

Es war Etzien jetzt so, als würde ein kühlender Wind über seine Gedanken hinstreichen. Das Bewußtsein bewegte sich nicht mehr in Sprüngen mit langen Pausen dazwischen. Er fing an, logisch und in einer längeren Kette zu denken. Er erinnerte sich endlich wieder daran, daß er Beine hatte und Arme, und ein Gesicht, mit einem Mund darin. Ein Mund, der schon lange nicht mehr hatte lachen können. Und schreien . . . weshalb schrie dieser Mund nicht? Das Nächstliegende wäre gewesen, so laut zu schreien, daß man diesen wahnsinnigen Schmerz im ganzen Körper damit ausdrückt und nach außen hin kenntlich macht. Er bewegte aber doch nur den Arm, nicht den Mund, holte die Hand an den Körper heran und tastete die Stellen ab, wo der Schmerz am heftigsten bohrte. Und das war die Schulter. Das war die Stelle, wohin der letzte 233 Hieb gefallen war. Wo er noch festsaß und im Fleisch herumwühlte wie mit einer Glasscherbe oder mit einem rostigen, scharfen Blechlöffel.

Den ganzen Körper, von oben bis unten, fühlte diese Hand jetzt ab. Sie ließ keine Stelle aus. Vielleicht gab es überhaupt keine heile Stelle am Körper. Den Rücken, das Gesäß und die Unterschenkel hatten die Lederpeitschen zerschlagen. Der Kopf hatte auf den Treppenstufen seinen Teil abbekommen, und die Weichen waren die Stellen gewesen, wo sich die Stiefel ausgelassen hatten nach Herzenslust an einem wehrlos Daliegenden, an einem für einen Haufen Dreck erklärten Untermenschen.

Von dieser Tortur wußte Etzien noch nicht die Details. Er grübelte darüber, ob die Peitschen auch andere Teile des Körpers getroffen hatten. Nein, die Peitschen konnten es nicht gewesen sein. Er hatte jeden Schlag der fünfundvierzig Hiebe genau mitgezählt und den Ort auch verspürt, wohin sie jedesmal niedergesaust waren.

Er gab das Grübeln auf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die Geschwulst kam ihm jetzt erst richtig zum Bewußtsein. Und auch der Trieb, die Glut abzukühlen. Er drehte sich auf die andere Seite herum und suchte die Ecke ab, die ihm gegenüberlag. Die Wand und die Ecke blieben kahl. Er konnte das Klosett in der Ecke noch nicht erkennen. Es war ihm jetzt klar, daß sich nichts in dieser Zelle befand, kein Tisch, kein Schemel, keine Matratze. Aber es war ihm noch nicht gewiß, ob er hier von Anfang an gelegen hatte und wie lange schon.

Allmählich fing das Gehirn an, in klaren Denkfolgen zu funktionieren. Es drang etwas von draußen herein. Zuerst das raschelnde Geräusch der Schlüssel. Aber das konnte er sich auch bloß eingebildet haben, denn das Rasseln der Schlüssel ist das wahrnehmbarste Geräusch in jedem Hafthaus. Man hört sie, auch wenn sie sich gar nicht rühren. Man lebt im Gefühl dieser Schlüssel, die den weiten und tiefen Raum der Welt zurückhalten von der flachen Enge einer Zelle.

Es war jetzt aber ganz deutlich: Schlüssel klirrten. Schritte bewegten sich, und dazu waren Stimmen laut, deren Worte zwar keine Deutung zuließen, aber als menschliche Stimmen zu erkennen waren.

Dieses Hereindringen einer lebendigen Bewegung, von Menschen ausgehend, kräftigte in Etzien den Willen, sich aufzurichten und wie ein Mensch sich auch aufrecht zu bewegen. Er warf sich wieder auf den Bauch herum, stützte die Hände auf und hob ein wenig den Oberkörper. Die linke Schulter, wo der letzte Schlag hingetroffen hatte, wollte nicht gehorchen, sie blieb unten. Nun versuchte er es mit den Beinen und zog und zog, bis die Kniescheiben einen Halt auf der Erde bekamen. Auf dem 234 aufgestützten rechten Arm und auf den Kniescheiben ruhend, hielt er eine ganze Zeit über den Körper in dieser hockenden Stellung.

Und nun dachte er wieder an den Mund und an die Schreie, die weit hinten saßen und heraus wollten. Jetzt könnte man sie herauslassen, denn niemand prügelte mehr. Er schluckte und schluckte, es wurde aber kein Schrei daraus, die Zunge klebte am Gaumen fest. Und der Versuch, trotz alledem zu schreien, hatte ihm so viel Kraft genommen, daß er sich wieder plattlegen mußte.

Es dauerte eine ganze Weile, daß er so lag, flach auf dem Bauch, unter den Kopf eine Hand geschoben. Er hörte die Schlüssel, die Schritte und manchmal einen Schrei. Es ging der gleiche Ton aus von dem Schrei, den er noch im Gedächtnis stehen hatte, der dort hineingefahren war, als er in der langen Reihe auf dem Gang gestanden hatte, bevor das Prügeln anfing, sein »Einstand«.

Noch einmal machte er den Versuch, sich auf die Arme und die Kniescheiben zu stützen. Es glückte ihm sogar, die linke Schulter zu heben. Das machte ihn froh, und er glaubte, daß auch die Augen schon ein wenig weiter offen stünden. Er wollte das Licht vom Fenster verspüren, das jetzt hinter ihm lag. Das Ohr aber reagierte schneller und schärfer und nahm die Schlüssel wahr, die ganz in der Nähe rasselten. Er sagte sich: Ich muß jetzt aufpassen, ob sie auch die Tür von meinem Stall berühren werden. Tatsächlich ein Stall und ich ein Tier auf allen vieren . . . eine neu in die Welt gesetzte Tierart.

Er hob den Kopf, und in diesem Augenblick sprang die Tür auf. Herein traten zwei Männer in schwarzer Uniform, nicht in brauner, das sah Etzien ganz deutlich. Und schon hatte er wieder eine Stiefelspitze im Gesicht sitzen. Der Stoß hatte die Nase getroffen, und es schrillte eine Stimme: »Aufstehen, du Schwein!«

Diesen Befehl beantwortete Etzien damit, daß er sich wieder flach auf den Bauch fallen ließ, die Muskeln anspannte und Arme und Beine anzog. Es erfolgten aber keine weiteren Tritte. Er verspürte nur, wie sich Arme um seinen Leib warfen und ihn hochhoben.

Als die Füße den Fußboden berührten, ließen die fremden Arme den Leib los; in diesem Moment flogen die Beine darunter weg, und der Kopf schlug hart auf den Fußboden.

Noch einmal schoben sich die fremden Arme um den Leib herum und versuchten, den schlaffen Körper an die Wand zu stellen. Eine Hand nagelte den Brustkasten fest mit einem pressenden Druck. Etzien sah in zwei Gesichter hinein, die ihn mit harten Augen prüften, den schlaffen 235 Körper in seinem Zustand. Er verspürte, wie man an ihm herumfühlte. Und er verstand deutlich, wie der eine von den beiden Schwarzen zu jemand, der draußen auf dem Gang stehen mußte, sagte: »So kann er nicht zur Vernehmung. Sofort Wasser und Matratze herein. Und der Sanitäter soll kommen und ihm die Augen auspinseln. Dalli . . . dalli!«

Dieser Schwarze hielt ihn so lange an der Wand fest, bis jemand mit einer Matratze kam und sie in die rechte Ecke schleifte. Und auf diese Matratze hin warf ihn der Schwarze mit einem wuchtigen Stoß. Es schien Etzien so, als gingen die beiden Schwarzen wieder aus der Zelle, die Tür aber blieb offen. Es rasselten nur die Schlüssel, und schließlich klapperten Schritte herein und stellten etwas neben die Matratze. Irgendeinen Gegenstand mit einem blechernen Klang, einen Eimer oder eine Kanne. Und immer noch schloß sich nicht die Tür; Etzien merkte es an dem Luftzug, der von vorne kam. Die Schritte, die jetzt klapperten und näherrückten, hatten etwas Schlurfendes. Und der Mann, der sich über ihn beugte, schien eine weiße Uniform zu haben. Es ging ein scharfer und beizender Geruch von ihm aus, wie aus dem Stall von einem Ziegenbock.

Dieser weiße Mann hob Etzien ein Stück von der Matratze hoch, so daß der Körper in Sitzlage kam. Als Stütze stellte der Mann sein linkes Bein gegen den Rücken von Etzien, und er griff nach dem Kopf und befühlte die Augen. Er versuchte, die vereiterten Lider hochzureißen. Es war ein entsetzlicher Schmerz, zum Losschreien, den Etzien verspürte. Der Mund aber war trocken und ließ keinen Schrei heraus, nur die Bewegung des Mundes war da. Das mußte der Sanitäter gemerkt haben. Er griff nach dem blechernen Wasserkrug und hob ihn dicht an den Mund von Etzien: »Das Maul aufmachen! Saufen!«

Als Etzien das eiskalte Naß verspürte, das ihm außen den Hals hinunterlief, über den Leib und die Beine, fing er an zu schlucken. Es ging ihm durch und durch, und er schluckte noch, als der Sanitäter den Krug längst schon wieder weggestellt hatte. Und jetzt noch einmal an die Augen heranging und pinselte und mit einem Tropfer eine ätzende Säure einließ. Es fühlte sich wie Eis an und drückte die Augäpfel tief in die Höhlen zurück.

Etzien verspürte, daß es kein Schmerz war. Eher schon eine Linderung. Das lief über seine Nerven hin und ließ das Stechen und Ziehen im Rücken vergessen. Es war wie eine neue Bewußtlosigkeit, denn er merkte nicht, daß der Sanitäter das Bein wieder wegzog, die Zelle verließ und zu dem Schließer sagte: »Ich komme um sechs noch mal.« Und hörte auch nicht, daß die Tür zuschlug und die Schlüssel rasselten. 236

Nach dieser Spritze und der zweiten um sechs schlug endlich eine schwere Welle Schlaf über Etzien zusammen und hielt ihn bis zum nächsten Morgen darin. An diesem Morgen, als der Aufseher neben der Matratze stand, konnte er sich auch wieder aufrichten, und die Beine blieben stehen und trugen die pendelnde Hinundher-Bewegung des Oberkörpers. Er sah den Wärter an, der vor ihm stand und jede Bewegung genau beobachtete. Es war ein schon älterer Mann mit einem zerknitterten, fahlgelben Gesicht. Das braune Hemd paßte ihm aber nicht, es war ihm viel zu weit und hing in Falten von den schmalen Schultern herunter und staute sich auf der Brust und auf dem Bauch, von dem Gurt gehalten, an dem die Pistole hing auf der einen Seite und auf der anderen das Messer und die Schlüssel.

»Na . . . siehst du . . .?! Man muß nur wollen, dann gehorchen die ollen Stelzen auch«, sagte der Schließer in einem Ton, der nicht unfreundlich klang.

Etzien wollte antworten, und er strengte sich auch an, ein Wort herauszubekommen, er bewegte die Zunge, und er hörte auch das Lallen. Aber es wurden keine Worte daraus. Es drehte sich wieder alles: der Mann im braunen Hemd, der ihn anstarrte, die Wände, die Tür vorn, die offen stand, und die Gestalten, die an der offenen Tür vorüberhuschten. Und schließlich das Bewußtsein, das nur halbwach gewesen war. Die Hände griffen mechanisch in die Luft und suchten einen Halt. Sie fanden diesen Halt aber nicht. Der Körper sackte zusammen und fiel auf die Matratze zurück, Arme und Beine angezogen, vom Unterbewußtsein dirigiert, das eine neue Mißhandlung vermutete.

Als Etzien aufwachte, war der Mann mit dem ledernen Gesicht und den maulwurfskleinen schwarzen Augen nicht mehr da. Es war auch der Tag nicht mehr da. Die Dunkelheit im Raum war eine vollkommene. Und dazu auch noch eine schwere, lastende Stille, zäh wie ein Teig aus Ruß.

Etzien hob die Hände und versuchte, die Schwärze von sich zu schieben. Sie blieb. Sie ging aber nicht von seinen Augen aus, denn er hatte die Bewegung der Hände wahrgenommen. Das ermunterte ihn, den Versuch zu machen, sich aufzurichten. Er bekam ein Stück Wand zu fassen, drückte die Hände fest dagegen, stemmte die Füße auf und zog sich hoch. Und als er die Hände zurückzog von der Wand, blieben die Beine stehen. Er bewegte sie vorwärts und schob sich von der Matratze herunter, Zentimeter um Zentimeter.

Der harte Boden, den er jetzt unter sich verspürte, verstärkte das 237 Gefühl des Gleichgewichts im Körper. Schritt für Schritt jetzt schoben sich die Beine vorwärts, die Hände tasteten vor, wie wenn ein Blinder sich in einem fremden Raum bewegt. Und woran die Hände jetzt stießen, das war die Tür, das Hölzerne, das sich warm anfühlte. Von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand waren es genau fünf Schritte. Dreimal hatte Etzien diesen Weg jetzt schon zurückgelegt und die Schritte gezählt. Fünf Schritte, nicht mehr und nicht weniger. Daß dieses Exempel stimmte, gab Etzien einen gewissen Mut, auch die Breite der Zelle schreitend auszumessen. Es ergab sich, daß die Zelle in der Breite nur drei Schritte maß. Nicht mehr und nicht weniger. Gemessen vorn an der Tür und hinten an der Wand, wo das Fenster sich kaum erkennbar, aber doch ein wenig abhob von der allgemeinen und bedrückenden Schwärze.

Die Wanderungen auf und ab machten den Körper nicht müder. Sie erfrischten ihn vielmehr. Sie gaben ihm die Beweglichkeit und die Spannung der Muskeln zurück, das Blut zirkulierte wieder durch alle Gefäße.

Etzien fing an, sich zu erinnern. Zuerst an den Augenblick, als er dem Wärter gegenüberstand und sprechen wollte und nicht konnte. Weil ihm das Wort fehlte. Welches Wort, das allerdings wußte er noch nicht. Es flog ihm aber der Einfall zu, zu probieren, ob ihm überhaupt noch Worte gegeben waren. Worte, die man bewußt will. Und er wollte das Wort Durst aussprechen. Das lag nahe, denn es quälte ihn das Gefühl einer borkigen Trockenheit im Hals. Als er den Mund jetzt bewegte, war dieses Wort schließlich auch da. So laut, daß er es deutlich hörte: Durst! Er wiederholte es dreimal. Es war wirklich da. Und dieses Da-Sein bewirkte, daß er sich an den Wasserkrug erinnerte, den der Sanitäter ihm an den Mund gesetzt hatte. Er suchte jetzt nach dem Krug. Er bückte sich und tastete den Fußboden ab. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er den Krug endlich fand. Daneben lag auch die Matratze. Es war nicht Müdigkeit, was ihn bewog, sich zu setzen. Im Sitzen hob er die Blechkanne hoch und trank. Bis auf den letzten Tropfen trank er das Gefäß leer. Und vielleicht hätte er noch mehr getrunken. Denn er behielt den Behälter in der Hand und schlief damit ein.

Als er aufwachte, hatte sich die Schwärze des Raumes in ein schmutziges Grau verwandelt. Das erste, was er jetzt wahrnahm, waren wieder die Schlüsselgeräusche. Und wieder ein Schrei. Der Schrei kam nicht aus seinem Munde. Er hielt sich die Ohren zu, der Schrei wurde schwächer. Er nahm die Hände versuchsweise wieder fort, und der Schrei 238 bekam die alte Lautstärke zurück und riß gar nicht mehr ab. Ein einziger langgezogener Schrei. Unmöglich, dachte Etzien, daß ein Mensch ohne Pause so lange schreien kann.

Mit einem Male bekam Etzien Angst vor diesem Schrei, der sich tief in sein Gehirn hineinbohrte und brannte. Es half auch nichts, daß er aufstand und in der Zelle auf und ab ging, immer schneller ging, beinahe schon rannte. Und zuletzt mit dem Kopf heftig gegen die Tür stieß.

Er grübelte: Wenn es noch eine Weile so weitergeht, wenn dieser verfluchte Schrei nicht bald wieder aufhört, dann werde ich verrückt. Ich werde verrückt. Am Ende bin ich es schon. Ich bin verrückt!

Dieser plötzliche Gedanke an das Verrücktwerden oder Schongeworden-Sein versetzte ihm einen Schlag, den er durch den ganzen Körper hindurch sausen fühlte. Das Blut strömte ihm zu Kopf. Seine Gedanken, die eben noch in logischen Folgen abrollten, gerieten in Verwirrung. Die gewaltsame Anstrengung, sich davon zu befreien, verursachte heftige Schmerzen im Hinterkopf. Er taumelte bis zur Tür, die Hand weit vorgestreckt. Und als die Hände das Holz fühlten, fingen sie an zu trommeln. Immer heftiger. Immer schneller. Das Geräusch, das an seine Ohren schlug, beruhigte die rasenden Kopfschmerzen. Er wollte gar nicht mehr aufhören zu trommeln.

Als der Wärter die Tür aufsperrte, schlug Etzien lang hin, auf den Gang hinaus. Er hatte das ganze Gewicht des Körpers in die trommelnden Hände gelegt. Mit Fußtritten beförderte ihn der Wärter wieder in die Zelle zurück: »Los, du Schwein! Pack dich zurück in deinen Stall. Los! Los!« Die Schlüssel klirrten und sausten durch die Luft, sie trafen Etzien aber nicht.

Etzien stützte die Hände auf und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Der Wärter drückte seine Faust unter das Kinn von Etzien und stemmte so den Oberkörper wieder hoch. Wie ein plumpes Tier stand Etzien jetzt da, wie eins, dem es zum ersten Mal geglückt ist, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Das Gesicht des fremden Menschen vor seinen Augen, das von einem verkniffenen Lächeln zerknittert war, beruhigte ihn. Die keuchenden Atemstöße ließen nach an Heftigkeit.

»Weshalb hast du Schwein getrommelt?« fragte der Aufseher. »Hast du weiße Mäuse gesehen? Hast du schlecht von deiner Großmutter geträumt? Mensch, weshalb du so unverschämt laut getrommelt hast, will ich wissen!«

Es war jetzt so viel klares Bewußtsein in Etzien, daß er den Sinn der schnauzigen Fragen verstand. Und er antwortete so, wie er sich die 239 Ursache des Trommelns jetzt auch wieder vorstellte. Und er gluckste: »Ich . . . werde . . . verrückt! Verrückt!«

»Das sollst du Schwein ja auch. Deshalb bist du hier. Wenn der alte kaputtgegangen sein wird . . . wir werden dir einen neuen Verstand eintrichtern, einen braunen für den roten. Aber noch nicht heute. Morgen vielleicht. Übermorgen. Erst muß das alles mal herauslaufen aus dem ollen Brägen, was dich verrückt macht. Heraus muß es, verstehst du? Unsere Leute sind neugierig auf die Brühe.«

Der Wärter sah sich in der Zelle um und entdeckte den umgestürzten Wasserkrug. Er sah, daß nichts herausgelaufen war, leergetrunken der Dreiliter-Topf. Er ging bis zum Gang zurück und klopfte mit dem Schlüssel zweimal an das Eisen des Geländers. Darauf kam der Kalfaktor angelaufen. Er hauchte ihn an: »Wasser holen! Zelle auskehren!«

Etzien stand mit dem Rücken gegen die Wand. Der Blick auf den Gang hinaus und die menschliche Stimme wirkten auf ihn ein wie eine Medizin. Er wischte sich mit der flachen Hand über das Gesicht, als wolle er ein Spinngewebe wegstreichen.

Der Kalfaktor fegte mit wenigen Strichen die Zelle rein, holte Wasser und stellte den gefüllten Krug wieder neben die Matratze. Zwischendurch warf er einen neugierigen Blick auf Etzien. Sah das Gesicht immer wieder an, als käme es ihm bekannt vor.

Der Wärter stellte sich vor Etzien hin und knurrte: »Wenn du Mistkäfer wieder einmal deine Touren bekommst und das Verrücktsein dir aus der Nase läuft, dann beiß gefälligst dein Maul in die Matratze hinein. Getrommelt wird hier nicht. Du hast nach Vorschrift zu klopfen: Einmal und ganz kurz. Und dann stellst du dich an den Türpfosten hier hin und nimmst Haltung an, kapiert?«

»Jaaa . . .«

»Nicht: jaaa, sondern: Jawohl, Herr Wachtmeister, heißt es hier!«

»Jaaaa . . .«

Der Aufseher schüttelte den Kopf, ließ Etzien stehen und schloß die Tür wieder zu.

Es war ein Glück in all diesen höllischen Geschehnissen, daß Etzien auf dieser Station hier lag. Der Aufseher galt im ganzen Bau als ein Mensch, der noch nicht völlig zum braunen Tier verwandelt war. Er teilte Fußtritte aus und schlug mit dem Schlüsselbund. Er trat aber nicht auf völlig wehrlosen Häftlingen mit den Stiefelabsätzen herum. Er wußte, ob sich einer von diesen verprügelten Häftlingen noch bewegen kann oder ein bewegungsloser Fleischklumpen ist, ein blutendes Bündel aus 240 Schmerz und Verrücktheit. Er wurde, »seiner Milde den marxistischen Schweinen gegenüber«, auch bald abgelöst und zu einer von kriminellen Gefangenen belegten Strafanstalt wieder zurückversetzt. Aber das erlebte Etzien hier nicht mehr.

Es war der fünfte Tag, daß Etzien hier in dieser Zelle lag. Und der siebente seit seiner Verhaftung. Die Schmerzen des zerschlagenen Körpers hatten die Gefühle des Hungers ausgelöscht. Er hatte noch keine Sekunde an Essen gedacht. Nur Trinken . . . Trinken . . . das bewegte seine Gedanken. Und er leerte wieder den halben Krug in einem Zuge.

Gegen Mittag an diesem Tag bekam er zum ersten Mal etwas zu essen. Der Aufseher brachte eine Emailleschüssel herein. In dem Brei, der eine rötlich-graue Färbung hatte und aus Mohrrüben und weißen Bohnen bestand, stak ein Holzlöffel.

»So . . . nun setz dich mal auf das Sofa und schlag dir den Bauch voll, damit wieder etwas Farbe in dein Gesicht hineinkommt. Und eine Stange ins Kreuz. Friß aber nicht zu schnell, sonst bleibt es dir oben stecken, und der Sanitäter muß mit dem Schlauch kommen.«

Etzien wartete mit dem Hinsetzen so lange noch, bis der Wärter wieder abgeschlossen hatte. Dann erst hockte er sich auf die Matratze, hob die Schüssel von der Erde und setzte sie auf die hochgezogenen Knie. Und es dauerte noch Minuten, bis er den Löffel endlich zum Mund führte.

Ganz langsam ging es mit dem Essen, Löffel für Löffel, mit Minutenpausen dazwischen. Zehn Löffel. Und jetzt wollte es nicht mehr recht hinunterrutschen. Er verspürte nicht den geringsten Geschmack auf der Zunge. Die Nerven konnten sich noch nicht auf die Speise einstellen. Er legte den Löffel beiseite und wartete.

Plötzlich, von einer furchtbaren Gier angepeitscht, hob er den Napf an den Mund und schluckte mit einem Zuge den Brei hinunter. Und er hielt die leere Schüssel noch in den hocherhobenen Händen, als der Wärter mit dem Kalfaktor kam und ihm den Napf abnahm.

»Es hat dir wohl geschmeckt, wie? Wenn du jetzt scheißen mußt, mein Junge, laß es bloß nicht wieder in die Hosen laufen. Dort ist das Loch für den Mist.« Er zeigte mit dem Kinn nach dem Klosett in der Ecke.

»Und nun steh mal auf, schnell hierher.« Er zog Etzien in den Lichtkegel, der vom Fenster fiel, und sah ihm in die Augen hinein: »Na, das ist ja alles wieder schön in Ordnung. Brauchst keine Spritzen mehr. Aber mehr Bewegung mußt du dir machen. Auf und ab. Sonst setzt du mir hier noch Fett an. Hast du schon einmal einen Affen im Zoo gesehn? 241 Wie der in seinem Käfig herumspringt, so möchte ich dich auch springen sehn. Auf und ab. Meinetwegen auch die Wände hinauf. Und von der einen Wand bis zur anderen.«

Und als der Wärter lachend ging und die Tür hinter sich zuschloß, beobachtete er durch den »Spion« eine ganze Weile Etzien, der sich wieder auf die Matratze setzte, den Kopf stützte und vor sich hin starrte.

Nunmehr war er sich vollkommen klar über seine Lage. Das Essen, die Gesichter und Stimmen hatten bewirkt, daß das Bewußtsein in ziemlicher Ordnung wieder funktionierte. Das Nachdenken setzte an dem Punkt ein, wo es ausgesetzt hatte. Er versuchte zu ergründen, wieviel Zeit darüber verstrichen war. Es gelang ihm nicht. Er blieb mit seinen Gedanken stehn bei dem Nachgefühl des letzten Peitschenschlages. Es konnte nur der Schulterknochen sein, der den letzten, den fünfundvierzigsten Hieb, hatte aushalten müssen. In diesem Knochen saß auch jetzt noch der fühlbarste Schmerz. Er fuhr mit der Hand darüber hin und streichelte den Schmerz, als könne er ihn damit beruhigen, ihm beibringen, aufzuhören mit dem fürchterlichen Bohren und Ziehen.

Er bedachte sich: Sie haben mich geschlagen, drei Mann. Aber niemand hat gefragt: Wer bist du? Niemand hat auch nur mit einem Wort erwähnt, weshalb man mich hier eingelocht hat. Mich. Und Johanna?

Ob Johanna auch diese Prügel über sich hat ergehen lassen müssen und schon alles ausgesagt hat, so daß ich jetzt nichts mehr zu sagen brauche?

Wenn Johanna diese Prügel bekommen hat, dann ist natürlich alles aus ihr herausgefallen, was sie von unserer Arbeit wußte. Solche Schläge kann keine Frau aushalten. Daran geht sie kaputt. Von diesen fünfundvierzig Hieben erholt sie sich nie wieder.

Verflucht! Ich hätte das arme Weib nicht mitnehmen dürfen. Sie hat doch schon so genug auf dem Buckel gehabt. Drei Haussuchungen. Den Mann verloren, den sie sicher schon totgeschlagen haben und zu Asche zerstäubt.

Aber wenn Johanna nichts gesagt hat . . . wenn man sie nicht so verprügelt hat . . . dann wird man sich doch wohl an mich halten. Dann wird man von mir das alles wissen wollen, was es mit diesen Flugblättern auf sich hatte, die ich in die Apfeltüten hineingedreht habe. – Vielleicht möchten sie noch mehr wissen. Lange genug werden sie mich schon beobachtet haben. Aber wenn ich nun sage: Ich weiß von nichts . . . dann werden sie am Ende doch wohl noch Johanna vornehmen und versuchen, alles das aus ihr herauszuholen, was ich nicht sage. Und ich darf doch nichts sagen. Verflucht, ich will nichts sagen! Nichts werde 242 ich sagen! Er kaute an diesen Überlegungen so lange herum, bis es wieder dunkel in der Zelle wurde. Und er war auch in der Nacht zu keinem anderen Entschluß gekommen, als nichts auszusagen, wenn man ihn verhören würde. Gar nichts!

Und so, wie er vor einer Woche sich vorgenommen hatte, nicht zu schreien, wenn man ihn prügelte, so nahm er sich auch jetzt vor, nicht das geringste auszusagen von den Dingen, die er über die illegale Arbeit wußte. Keinen Ort, keine Namen. Nichts. Eher schon verrecken, als den Mund aufzutun –!

Über diesen Entschluß, der sich in seinem Bewußtsein breitmachte, wurde er froh, hob sich von der Matratze auf und bewegte sich in der Zelle auf und ab. Und in seinem Willen wurde es immer härter und trotziger. Er hatte sich wieder so in der Gewalt, daß er genau wußte, wer er war und von welcher Gesinnung und was er dieser Gesinnung und all den Genossen, die darin lebten, schuldig war.

Es schien ihm jetzt auch klar zu sein, daß er erst den Anfang der Torturen hinter sich hatte und das Bitterste noch vor sich habe. Das vollkommene Grauen . . . ja, das stand ihm erst bevor. Das, was Hunderte schon hatten erfahren müssen, ehe der Tod sich ihrer erbarmte. Und die aber Tausende, die in den Bunkern herumliegen, tot für den Betrieb im Räderwerk der Arbeit, für das bißchen Menschentum jenseits der bürgerlichen Welt, die man von oben bis unten braun angestrichen hat, um die tiefen Risse im wirtschaftlichen Gebälk damit zu verkleistern.

Manchmal noch in dieser Nacht überfiel es ihn, daß er verrückt werden müsse in diesem Zustand, den man sich nicht anders vorstellen kann als die Katholiken sich das Fegefeuer vorstellen. Zuerst der Vorhof der Qual und dann die vollkommene Hölle, die Qual ohne Ende. Er wollte an die braune Hölle nicht glauben, obwohl sie fühlbar genug da war. Er grübelte sich aber in die Vorstellung hinein, daß es möglich sein müsse, der Qual zu entrinnen. Hat sie ein Loch, wo man hineingestoßen wird, weshalb soll sich nicht auch eine Möglichkeit ergeben, jenes andere Loch zu finden, wo man wieder herausschlüpfen kann? Aus diesem Bau vielleicht nicht. Aber aus einem der Lager, wohin sie mich transportieren werden, wenn ich an der Reihe bin. Immer einer nach dem anderen, nur nicht drängeln! Ihr kommt alle noch ran. In ein neues, in ein soeben erst eingerichtetes Lager. Hatte man nicht vor Wochen schon davon gesprochen, daß alle diese vorhandenen Orte des Grauens und der Qual bereits überfüllt wären?

Obwohl er sich nun darauf konzentrierte, die Möglichkeit einer Flucht 243 zu überdenken und noch weiter, wie nötig er in der illegalen Arbeit gebraucht würde und daß man doch etwas tun müsse, um die Bande nicht zur Ruhe kommen zu lassen, damit sie sich nicht festwurzelt wie ein mächtig wucherndes Unkraut, wie der Hederich in einem Haferfeld, den man mit Säuren oder Feuer aus der Erde ausbrennen muß . . . diese vertierten Menschen . . . es kamen doch immer wieder Sekunden und Minuten, die das Gehirn leer ließen. Die auf das Blut drückten und das Herz bis zum Zerspringen antrieben. Und dann die Ängste und aus den Ängsten heraus die wilde, unbändige Gier zu schreien: Ich werde verrückt!

Er nahm sich vor, eine Weile an etwas Neutrales zu denken. An ein völlig Gleichgültiges, das hier gar nicht hergehört, bloß um diese peinvolle Leere auszufüllen. Was aber könnte ihn hier ablenken? Er dachte zugleich nach zwei Richtungen hin. Es klopfte an der Wand, er hörte es nicht. Doch: im Unterbewußtsein war es da. Aber noch nicht so stark, daß er die heftigeren Gedanken damit zum Schweigen hätte bringen können. Diese unteren Gedanken sagten ihm, daß hinter der Wand drüben jemand liegt, der seine Ruhe haben will und den das ewige Herumlaufen hier, von der Tür bis zum Fenster, hin und zurück, stört. Deshalb hat er an die Wand geklopft. Und jetzt eben schon wieder, dreimal hintereinander.

Er stellte sofort das Gehen ein, es war ein fast automatischer Vorgang, es hatte gar nicht in seinem eigentlichen Willen gelegen, sich zu setzen. Er setzte sich aber doch auf die Matratze, nahm den Wasserkrug hoch und trank. Und eilte sofort wieder seinen Gedanken nach, die sich mit einer ganz neutralen Sache beschäftigen wollten. Aber dieses Ding oder Geschehnis, womit er sich hätte beschäftigen können, kam und kam nicht. Es war ihm manches schon eingefallen: Die Erinnerung an die Frau, aber er wehrte sie schnell wieder ab, die Toten soll man ruhen lassen. Und zu diesen Toten gehörte auch die Mutter, gehörten die Genossen . . . vielleicht gehöre ich auch schon dazu.

Er rief sich jetzt den Text der Flugblätter ins Gedächtnis zurück. Er strengte sich an, den genauen Wortlaut wieder zu finden. Er nahm sich eins nach dem anderen vor. Und der ungefähre Inhalt, den er sich vorstellte, mochte dem Sinn nach vielleicht auch stimmen. Es waren aber zu viele, um von einem jeden den Text lückenlos zu wissen.

Schließlich kam er auf einen kleinen Handzettel zurück, der von einer blaßroten Farbe gewesen war. Und über diese verwaschene Farbe hatte er damals laut lachen müssen und zu den Genossen auf der Verteilungsstelle gesagt: ›Diese ausgelaugte Farbe paßt doch wohl besser zu der 244 Gesinnung der Scheidemänner und Welse, nicht zu uns. Ich denke, so abgeblaßt sind wir doch noch nicht, auch wenn von uns nicht viel mehr da ist als die wilde Jagd, die man auf uns macht, und daß wir nach der Meinung von Hitler überhaupt schon ausgerottet sind. Nicht mehr rot, sondern durchsichtig, einfach Luft.‹

Die Genossen hatten mitgelacht und dann geantwortet: ›Wir nehmen das Papier her, wo wir es kriegen; es kann sogar braun sein, auf die Farbe kommt es hier nicht an, sondern darauf, was dieses Papier aussagt.‹ Jetzt würgte er daran herum, was auf diesem Zettel, den er in halb Schöneberg den Leuten unter die Türen geschoben hatte, eigentlich gestanden hat. Mühsam holte er sich Satz um Satz heran. Es waren nicht viele. Er sah den Druck jetzt deutlich vor sich: große Schrift und zehn, zwölf Zeilen nur. Und nun glaubte er den Inhalt wieder im Kopf zu haben. Er sprach ihn vor sich hin, zwanzig-, dreißigmal, als schnurre er einen Rosenkranz herunter, wie er es oft als kleiner Junge hatte tun müssen, und dann nie wieder mehr.

Ja, es fehlte kein Wort an den Sätzen des Flugblattes. Er hatte den Text jetzt vollständig zusammen. Er wurde ihm so geläufig wie vorhin der Aufschrei: Ich werde verrückt!

»Laßt Euch nicht einwickeln von ›Kraft durch Freude‹! Die Kraft saugt Euch die Profitwirtschaft aus den Knochen, durch Hitler, der nur ein Agent der Schlotbarone ist und der die Angestellten und Arbeiter verachtet.

Und die Freude werdet Ihr haben, wenn Ihr mit ›Heil Hitler‹ zu allem ja und amen sagt: Zum Lohnabbau, zu höheren Lebensmittelpreisen, zur Arbeitsdienstpflicht und zu diesem kommenden Krieg.

Die wahre Kraft aber kommt aus der Freiheit. Wo ist Eure Freiheit?

Und die wahre Freude kommt aus der brüderlichen Gemeinschaft aller. Und nicht aus dem Kadavergehorsam jener Volksgemeinschaft, die Euch zu uniformierten Gliederpuppen und nicht zu Menschen macht.

Seht Euch die Autos, seht Euch die Lustschlösser der Bonzen an. Seht Euch den Brandstifter Göring an. Seht ihn Euch ganz genau an. Und dann Eure Wohnlöcher, die Lumpen am Leibe und die magere Suppe im Topf. 245

Denkt an Dimitroff! Denkt an ihn. Er hat Euch den Weg gewiesen. Den Weg in die Freiheit. Es lebe die Freiheit!«

Und mit einem Male brüllte Etzien die Sätze so laut hinaus, daß er selber davor erschrak und das Aufschließen der Tür überhört hatte. Wie aus dem Boden herausgewachsen standen wieder die zwei Schwarzen vor ihm. Und der eine lachte ihm höhnisch in das Gesicht hinein: »Ausgezeichnet, wie dieses Schwein wieder in Form ist! Mensch, wo hast du mit einem Male bloß die Spucke wieder her? Warte, die werden wir dir rot färben . . . ganz rot . . . röter noch als Moskau!«

Mit einem wuchtigen Tritt gegen den Oberschenkel jagte ihn der andere Schwarze zur Tür. Und nichts als Tritte beförderten ihn den Gang entlang, drei Treppen in den Keller hinunter.

Eine hellbeleuchtete Tür sprang aus dem halben Dunkel heraus. Rechts und links davon standen zwei Soldaten mit umgehängten Karabinern. Etzien mußte sich an der gegenüberliegenden Wand aufbauen, die Nase berührte den grauen Ölanstrich. Er merkte aber doch, daß die beiden Schwarzen, die ihn aus der Zelle herausgeholt hatten, durch eine zweite Tür, die ein Stück weiter ab lag, verschwanden.

Eine geschlagene Viertelstunde stand Etzien an der grauen, vom Licht blank gemachten Wand. Er mußte die Augen schließen, so blendeten die Reflexe. Und dann schien es ihm so, als wechsele das Licht dauernd die Farben. Meist aber mischte sich ein rötlicher Schimmer hinein. Der kam von der kleinen Lampe über der Tür. Das sah Etzien aber erst, als er durch diese Tür (eine Doppeltür, die Innenseiten mit Filz dick beschlagen) in einen büroähnlichen Raum gestoßen wurde. Es stand da ein breiter Tisch, bedeckt mit Aktenbündeln und einzelnen Schriftstücken. Und hinter der Lampe auf dem Tisch glotzte ein Gesicht, ein käsigweißes und glattes, mit ganz schmalen, fast schnurgerade gezogenen Lippen. Und hinter diesem glotzenden Gesicht, an der Wand, es konnte aber auch ein verbautes Fenster sein, standen die beiden schwarzen Kerle mit verschränkten Armen. Links vom Tisch war noch eine zweite Tür, nicht zugeschlossen, nur angelehnt.

Alle diese Feststellungen geschahen im Bruchteil einer Sekunde. Etzien hatte genau beobachtet, ohne eigentliche Absicht, aus einem sicheren Instinkt heraus. Er verspürte kein Herzklopfen mehr. Um seinen Kopf herum hatte sich eine eisige Kühle gelegt.

Von dem glotzenden Schwarzen am Tisch war noch kein Wort ausgegangen, nur dieses Anstarren mit grünschimmernden Augen. Etzien 246 sah, daß dieses Subjekt ein paar Zettel neben sich liegen hatte, der eine davon war der rosenrote mit den Sätzen, die er auswendig wußte. Und schon wollte er wieder anfangen, diese Sätze laut vor sich hin zu sprechen, da durchfuhr ihn eine messerscharfe Stimme: »Näher rankommen! Noch näher! Kopf hoch!«

Etzien preßte sich dicht an den massiven Tisch heran. Er fühlte, daß ihm die Kante in den Leib schnitt. Und das glotzende Gesicht des Schwarzen hatte er jetzt so dicht vor sich, daß man mit der Faust hätte hineinschlagen müssen und es beiseite schieben.

»Du hast im ›U. B.-S‹ gearbeitet? Wer ist der Bezirksleiter?«

»Ich bin seit fünf Jahren arbeitslos.«

»Arbeitsscheu bist du, verstanden?! Fressen und Obdach bezahlt dir Moskau. Kennen wir. Also: Wer ist der Leiter vom ›U.B.-S‹?«

»Ich jedenfalls bin es nicht.«

»Du bist es nicht. Gut. Die Wahrheit werden wir dir nachher herausholen, mit der Zange, verstehst du? Weiter: welche Funktionen übt Hillmann im ›U.B.-S‹ aus?«

»Wer soll alle die Hillmanns kennen?!«

»Hillmann!«

»Es gibt verschiedene Leute namens Hillmann; einen Franz zum Beispiel, der ist Obersturmbannführer und dann noch einen Hugo und einen Erich. Die sind doch alle in der SA und nicht im ›U.B.-S‹.«

»Otto Hillmann . . . der existiert für dich nicht?«

»Gewiß kann es auch einen Otto Hillmann geben. Im Telefonbuch stehn mindestens zwanzig Leute verzeichnet, die Hillmann heißen.«

»Was hast du Tagedieb mit Telefonbüchern zu tun?«

»Ich kaufe Altpapier und gebrauchte Flaschen auf. Manchmal muß ich die Kundschaft telefonisch anrufen.«

»Die Funktionäre, wolltest du sagen?!«

»Die Kunden, von denen ich altes Zeug abholen soll.«

»Mit Obst handelst du nicht?«

»Ja . . . da habe ich in den letzten acht Tagen einen Kollegen vertreten.«

»Den Mann von dieser Johanna, an der Obstkarre und im Bett, wie? Rotz dich aus!«

»Was soll das für eine Johanna sein?«

»Auf deren Namen die Obstkarre lief.«

»Ob sie Johanna heißt, weiß ich nicht, und ob sie die Frau oder eine Verwandte von dem Kollegen war, ist mir auch nicht bekannt.«

»Der Kollege lieferte die Flugblätter, die ihr verkauft habt?« 247

»Wir haben Äpfel verkauft, manchmal auch Bananen.«

»Und die Äpfel und Bananen in hochverräterische Schriften verpackt?«

»Die Tüten haben wir aus Altpapier gemacht, meist war es der Lokalanzeiger. Daß es eine hochverräterische Zeitung ist, wußte ich nicht.«

»Maul halten! Genug jetzt davon. Von welcher Stelle hast du die Flugblätter bezogen?«

Etzien gab keine Antwort, hielt aber den wie zwei Phosphorkugeln brennenden Blick des Schwarzen aus.

»Antwort! Eins . . . zwei . . . drei!«

Etzien biß die Zähne zusammen. Eine heiße Glutwelle stieg in seinen Kopf hinauf. Und in diesem Augenblick hatten ihn auch schon zwei Kerle, die hinter ihm standen und die er nicht bemerkt hatte, gepackt und schleiften ihn in den Nebenraum. Hier stand wieder dieser blanke, lange Tisch. Und im Nu hatte Etzien eine Decke über dem Kopf und lag auf dem Tisch. Riemen schnallten ihn oben und unten fest. Die Hiebe prasselten so schnell und heftig auf seinen Körper, daß er nicht mehr mitzählen konnte. Die Schläge konnten von keiner Peitsche kommen, sie rissen tief in das Fleisch hinein. Wie schartige Messer oder Kabel aus zerfetztem Draht. Er verspürte ein sandiges Knirschen bis oben in das Gehirn hinein. Und dann war nichts mehr, was er noch wahrnahm. Nur eine würgende Dumpfheit, eine pressende Schwere und eine grauenhafte Enge.

Und als er daraus auferwachte, lag er auf der Erde lang, in einer Wasserpfütze, die Kleider in Fetzen. Und kaum hatte er die Augen wieder auf, zerrten ihn die beiden Schwarzen, die auf dieses Aufwachen gewartet hatten, in das Vernehmungszimmer zurück.

Er konnte nicht stehn. Sie mußten ihn halten und schoben ihn an den Tisch heran. Der Mann hinter dem Tisch, in der schwarzen, eng anliegenden Uniform und mit diesen infamen giftgrünen Augen, hielt ihm jetzt ein Flugblatt unter die Nase: »Ich nehme an, daß dein Gedächtnis sich inzwischen aufgefrischt hat. Dieses Blatt hier, das du mit den Äpfeln in die Tüte gepackt hast, woher stammt das?«

»Das stammt von mir.«

»Na siehst du? Gut zureden hilft! Ich will jetzt aber wissen, wer dir dieses Blatt geliefert hat. Wer?«

»Das habe ich mir geliefert.«

»Das soll heißen: Du hast es auch gedruckt?«

»Ich habe es mir geliefert.« 248

»Gedruckt, natürlich. Wo? Im Keller von Siepermann oder in der Laube von Goose?«

»Mal da und mal da.«

»Die genaue Straßenangabe und Nummer, wo dieses Kellerloch sich befindet, los!«

»Ich schlafe mal da und mal dort, mal in der Laube, mal unter der Brücke, und wenn es glückt, auch in einem Möbelwagen.«

»Schläfern mich ein, deine Märchen. Wo die Flugblätter her sind, will ich wissen. Die Johanna weiß es und der Goldberg auch. Du nicht?«

»Ich habe mit Johanna nie darüber gesprochen. Johanna kann nichts wissen von den Flugblättern.«

»Dann weiß es der Hillmann?«

»Es gibt viele Hillmanns. Was die alles wissen, woher soll ich das wissen?«

»Friedrich Kunkel ist dir auch nicht bekannt?«

»Nein! Nie gehört, diesen Namen.«

»Hermann Stein, Franz Lück, Martha Ackermann?«

»Kenne ich alle nicht. Für Namen habe ich schon immer ein schlechtes Gedächtnis gehabt.«

»Aber Flugblätter auswendig hersagen, dafür ja?«

»Ich bin in der Zelle verrückt geworden. Und wenn man verrückt ist, spricht man manches.«

»Das Verrücktwerden kommt erst noch . . . wenn du so weiter lügst. Dieses Blatt kennst du doch, auch in der Verrücktheit?« Er hob ihm das rosagefärbte Blatt Papier hin, eine ganze Weile. Dann: »Das kennst du doch, wie? In- und auswendig kennst du es.«

»Vielleicht habe ich es einmal gewußt, jetzt aber weiß ich es nicht mehr.«

»Ich gebe dir eine Minute Bedenkzeit.« Er legte die goldene Taschenuhr vor sich hin und beobachtete den Lauf des Sekundenzeigers. Während dieser Minute hatte Etzien das Gefühl, als würde ihm die Wirbelsäule bis in den Nacken hinauf so dick wie ein Baumstamm. Dann fiel er um und erbrach Blut und Galle. Die beiden Schwarzen hoben ihn auf und drückten ihn an die Tür.

Als Etzien wieder zu sich gekommen war, sah er, wie der Mann, der vor ihm saß, den Kopf ein wenig höher hob und das Kinn vorschob. In diesem Moment packten ihn wieder die beiden Kerle von hinten, hoben ihn hoch und trugen ihn in den Nebenraum.

Und nun gingen der Schwarze, der ihn vernommen hatte, und die 249 beiden anderen, die an der Wand hinter dem Schreibtisch standen, mit in die Folterkammer hinein.

Sie legten Etzien jetzt auf den Rücken und schoben die Pferdedecke ihm unter die Schulter, so daß der Kopf tiefer lag. Sie zogen Riemen über die Beine und über die Brust. Und der eine von den Schwarzen, der, der ihm oben in der Zelle den Fußtritt versetzt hatte, entkorkte eine Flasche. Es quoll rauchig heraus.

»Wer hat das Flugblatt gedruckt und wo?« schnarrte die Stimme des Schwarzen, der sich über das Gesicht von Etzien beugte.

Etzien rührte sich nicht. Er schloß die Augen und biß die Zähne aufeinander.

Jetzt tauchte der Mann, der die Flasche hielt, einen auf Holz gedrehten Wattebausch in die Flüssigkeit und steckte ihn dann in das linke Nasenloch von Etzien.

Es war Etzien, als gieße man ihm flüssiges Blei hinein. Es brannte ihm durch den ganzen Körper und verschlug ihm für eine Weile den Atem. Der Schwarze, der ihn vernommen hatte, wartete, bis die Zuckungen vorüber waren, und beugte wieder seine glotzende Fresse herab und fragte: »Wer ist der Leiter des U.B.-S?« Etzien preßte die Lippen noch fester zusammen. Ein Zahn brach ihm dabei aus. Das Blut sickerte aus den Mundwinkeln heraus, und die heftig schlagende Ader am Hals trieb es nach allen Seiten auseinander.

»Ist Otto Hillmann der Leiter des U.B.-S. oder bist du Schwein es gewesen? Antwort!«

Nichts an Etzien bewegte sich.

Jetzt riß der Schwarze, der die Flasche in der Hand hatte, den Wattebausch aus der Nase von Etzien heraus, tauchte einen neuen in die rauchende Flüssigkeit und steckte ihn in das andere Nasenloch von Etzien.

Es durchfuhr Etzien solch ein unmenschlich beißender und zerreißender Schmerz, daß er mit aller Gewalt den Kopf hochwarf und die Augen aufriß. Diese heftige und jähe Bewegung stieß mit dem Arm des Schwarzen zusammen, der die geöffnete Flasche hielt. Ein Teil der Säure schüttete sich aus und floß in das Gesicht von Etzien hinein, in seinen Mund und in seine Augen.

Es war ein grauenhafter Schrei, der aus ihm herausbrach. Ein Schrei ohne Ton. Ein blechernes Gekrächz und dann ein Geröchel, als schnüre ein Draht die Kehle zu. Der Kopf schlug dabei hin und her auf dem Tisch. 250

Der Schwarze, der ihn befragt hatte, war einen Schritt zurückgewichen und schrie jetzt: »Wasser über den Kopf! Raus mit der Sau!«

Seine Stimme hatte sich in solch eine Wut hineingeschrien, daß die Wut auch handgreiflich aus ihm herausbrach. Er trampelte auf dem Körper von Etzien, der schon auf der Erde lag und im Wasser schwamm, mit den Füßen herum, als trete er ein glimmendes Feuer aus. Das Feuer der Überzeugung, das in diesem Mann, der den Mund nicht aufgemacht hatte, lichterloh brannte.

Als Etzien nach zwei Tagen aus dem Columbia-Haus nach der Charité überführt wurde, half auch die sofortige Operation nichts mehr. Er hatte das Augenlicht, die Stimme und die menschliche Form seines Gesichts verloren.

In dem Bericht der Abteilung I. B. an den dirigierenden Arzt der Krankenanstalt stand zu lesen: ». . . verursacht durch Begießen mit Salzsäure, in selbstmörderischer Absicht, am siebenten Tage nach seiner Verhaftung wegen umstürzlerischer Umtriebe und heimtückischen Verhaltens gegen Staat und Volk.« 251

 


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