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In dem Haus Douglasstraße 339 dachte man zwar noch nicht an das Packen, dennoch rechnete man mit der Eventualität, über Nacht ins Ausland flüchten zu müssen – wenn nach dem barbarischen Akt der Bücherverbrennung und der Verfemung der Verfasser dieser Bücher schließlich auch noch die Museen gestürmt und gesäubert und die leitenden Beamten für das haftbar gemacht wurden, was in den Sälen hing und nach der Auffassung Hitlers »den zersetzenden Unrat eines artfremden Untermenschentums« darstellte.
Doktor Marbang konnte sich allerdings nicht vorstellen, daß nach vierhundert Jahren der Aufklärung und der fortgeschrittenen Zivilisation sich der mittelalterliche Amoklauf der Bilderstürmer wiederholen könne.
Bücher von Staats wegen zu verbrennen, das würde man unter Umständen noch verstehen. Denn von Büchern gehen andere Wirkungen aus und erfassen die breite Masse, mündige und unmündige Menschen. Aber Bilder . . . wer sieht die heute sich noch an?
In den ersten Jahren nach der Revolution waren in Scharen die jungen Sozialisten gekommen und hatten sich führen und Vorträge halten lassen. Und sie taten immerhin so, als sei das Betrachten von Kunstwerken auch für sie ein erhebendes Gefühl.
Heute freilich lebte sich diese Gefühlserhebung im Tragen einer Uniform, in Saalschlachten und Straßenkämpfen aus. Die Museen wurden an den Sonntagen, aus Mangel an Besuchern, gar nicht mehr geöffnet. Und die Bilder?
Wenn man die Dinge so, wie sie jetzt lagen, betrachtete, dann konnte man beinahe sagen: Die Bilder sind nur noch dazu da, die Kunsthändler zu ernähren, den Museumsbeamten die Anstellung auf Lebenszeit sicherzustellen und als sogenannte Leihgaben in die Privaträume der hohen Herrschaften zu gelangen, wenn einer dieser neuen Minister 116 Appetit auf gemalte Nacktheiten hat, auf Szenen, die erotische Exzesse andeuten oder dazu verlocken und der Name Rubens darunter steht oder das Signum eines anderen berühmten »Fleisch-Klassikers«. Allerdings wird in den Gazetten heute nicht mehr jenes Geschrei gemacht, das sich vor Jahren erhoben hatte, als in die Repräsentationsräume des Kasseler Oberbürgermeisters ein paar vergoldete Stühle aus dem ehemals königlichen Schloß gestellt wurden.
Doktor Marbang wollte die für ihn lebenswichtige Frage, welche Geltung eine moderne Bildergalerie im neuen Staat wohl haben würde, nicht angeschnitten wissen, als er den Referenten aus dem Kultusministerium Adolf Borgsweill und den Schriftsteller Robert Steg zu einem »netten kleinen Schwatzabend nach Dienstschluß« in sein Haus gebeten hatte. Solche Abende, ohne großartige Tafeleien und ohne Frauen, nur bei Pilsener, kaltem Aufschnitt und Rauchzeug, hatte er bis jetzt jeden Monat einmal veranstaltet für seine engeren Freunde. Über acht Personen war der Kreis allerdings nie hinausgegangen. Heute waren es sogar nur drei. Hegemann, der sonst immer mit dabei war, hatte es vorgezogen, sich total unsichtbar zu machen. Der Kunsthändler Feinhals schwamm bereits der Bai von Rio entgegen. Ernst Weiß, mit geretteten Manuskripten, lebte seit Wochen schon in Prag. Und von Johann P. Langfoot ging das Gerede, daß er sich einen flachsigen Spitzbart habe wachsen lassen und auf der Suche nach Reisegeld sei, um ebenfalls über das große Wasser zu fahren.
Einer, der sonst nie gefehlt hatte und von dem man wußte, daß ihn so leicht nichts aus der Fassung bringen konnte, mußte trotzdem fernbleiben. Er war nicht geflüchtet. Er hielt sich nicht verborgen. Aber er hatte die Augen schließen müssen. War Staub und Asche. Doktor Hanns-Heinrich Joachim.
Marbang erzählte seinen beiden Freunden, die Einzelheiten dieser grauenhaften Geschichte noch nicht wußten, den Vorgang im Ungefähren. Wie man diesen gewiß nicht radikal-revolutionären Mann auf die neue »vaterländische Art« gerempelt, gefoltert und beseitigt hatte.
Es herrschte zunächst Schweigen nach dem Bericht über dieses entsetzliche Geschehnis. Man leerte wortlos ein Glas zum Andenken, und jeder dachte für sich und in seiner Art das Seine hinzu. Die Wände hatten keine Ohren, die Dienerschaft galt als politisch völlig uninteressiert, und vor einer überraschenden Verhaftung wäre man auch sonst noch sicher gewesen, würde man das, was jedem auf der Zunge lag, laut und deutlich ausgesagt haben. Aber . . . trau, schau wem . . . das dachten sogar 117 schon die Väter von ihren unmündigen Söhnen, der Bruder von der Schwester und die Frauen von ihren Männern.
Robert Steg mußte sich sehr beherrschen, denn es drängte ihn, sich Luft zu machen. Er nahm jedoch Rücksicht auf Marbang und Borgsweill, die immerhin Angestellte dieses Staates waren, von dem in der Person des Ministers Göring die rabiate Polizeigewalt ausging. Ein notorischer Raufbold und Säufer, der eher Henker hätte werden sollen, als jetzt den geschwollenen Hüter über Recht und Gerechtigkeit zu mimen.
Borgsweill war zudem auch noch eine sehr ängstliche Natur, vor dem Summen einer Mücke schon riß er aus. Politisch hatte er sich nie betätigt, immer korrekt nur das ausgeführt, was ihm vom Ministerialdirektor zugewiesen wurde. Er war ein verhinderter Schöngeist. Es existierte von ihm ein – für die Öffentlichkeit verschollenes – Bändchen Gedichte in der Art der Verse Georg Trakls. In das Ministerium hatte ihn der Sozialdemokrat Haenisch berufen. Halb war es privates Mitleid gewesen, halb offizieller Druck von hoch oben, das heißt: vom Reichspräsidenten Ebert. Das Kunstreferat bei einer süddeutschen Parteizeitung, das Borgsweill bis zu seiner Berufung in das Ministerium verwaltete, hatte ihm kaum das Sattessen eingebracht.
Im Verlauf der dann doch in Fluß kommenden Unterhaltung dieses Abends erzählte nun dieser Borgsweill, als handele es sich um etwas Verbotenes und Oppositionelles, von einer Arbeit, die er über das Thema »Die Keramik bei den Indianern des Inka-Imperiums« begonnen habe. Und daß man diese Arbeit jetzt wohl werde unterbrechen müssen. Denn solche fernen, wenngleich auch kostbaren Dinge würden heute wahrscheinlich nicht ganz aktuell sein. Man wird abwarten müssen, bis sich alles wieder beruhigt und eingerenkt hat.
»Denn, sehen Sie . . .«, dozierte er mit zurückhaltender Stimme, »ich müßte in meinem Buch ja auch einiges über die politischen Verhältnisse im Reich der Inka aussagen. Das Staatswesen war dort eine Art von Nationalkommunismus. Privates Eigentum gab es nicht. Der Begriff Arbeitslosigkeit war den Leuten völlig fremd. Es bettelte niemand. Kein menschliches Wesen litt Hunger. Von dem, was der Nationalsozialismus seinem Programm nach will, ist das ja gar nicht einmal so weit entfernt. Vielleicht haben die Leute, die das Programm verfaßten, die Geschichte der Inkas gelesen und darüber nachgedacht. Füglich dürfte ihnen auch das kulturelle Leben im Reich der Inka-Indianer keine unbekannte Größe sein; erkennbar selbst für den Laien schon als Kunstleistungen ersten Ranges sind nicht nur die Töpfereien, vielmehr auch die 118 Arbeiten in Gold, Silber und halbedlen Steinen. Dennoch, ich werde meine Untersuchungen einstweilen zurückstellen und abwarten.«
»In den von Goebbels propagierten urgermanischen Dynamismus würde sich die indianische Keramik allerdings nicht gut einfügen. Aber wenn Sie nachzuweisen vermöchten – und mit ein paar Winkelzügen Rosenbergscher Art ließe sich das gewiß machen –, daß auch das riesige Inka-Reich nur deshalb eine so leichte Beute der hispanischen Konquistadoren werden konnte, weil das Staatsgefüge und das Nationalgefühl unterhöhlt und zersetzt waren vom Raff-Geist einer artfremden Rasse, einer wahrscheinlich von jenseits des großen Meeres herübergewehten kommunistischen Spaltpilz-Art, in den Historien Lateinamerikas als Quechua bekannt . . . dann vielleicht könnten Sie sich mit Ihrer Arbeit eine Professur an der Berliner Universität verdienen.« Die Ironie, die in dieser Antwort Robert Stegs lag, merkte Borgsweill nicht einmal.
»Ich bin mir nur darüber noch nicht im klaren«, fuhr Borgsweill fort und sah dabei Robert Steg mit der treuherzigsten Miene an, »in welchem Maße die Freiheit des Geistes, die augenblicklich einer Reinigung, wie man so sagt, unterzogen und über deren Methode man ja verschiedener Meinung sein kann, in Bälde wieder hergestellt wird.«
»Die Freiheit, ganz im allgemeinen, nie!«
»Ich las aber bei einem prominenten Schriftsteller allerjüngst noch den Satz: ›Wenn dich jemand fragt, ob die Zukunft der Freiheit gehört, dann antworte, daß hinter der Freiheit die Ewigkeit steht.‹ An diesen Satz müßte man sich doch halten können.«
»Nicht an diesen, mein Lieber. An den anderen aber, den von Gottfried Benn ausgesprochenen: ›Geistesfreiheit, weil 1841 die Massenherstellung von Druckerschwärze begann und im Laufe des Jahrhunderts die Rotations- und Setzmaschinen hinzukamen, das wäre, bei 3812 Tageszeitungen in Deutschland und 4309 Wochenschriften, zuviel historischer Sinn . . .‹ Was hiernach von den Dingen des Geistes noch übrigbleibt, das wird nur der Schatten sein, den die Grabsteine der Ermordeten werfen.«
»Haben Sie denn, mein lieber Steg, schon entsprechende Erfahrungen hinter sich? Und halten Sie die Leute, die trommeln und marschieren, tatsächlich für so geistfeindlich? Ich meine . . . auch nach allem, was in der ersten Rage des Sieges über den Liberalismus an gewiß Unerfreulichem geschah, auf die Dauer wird man die Künste und Wissenschaften wohl doch nicht unter Druck halten können. Man sollte annehmen, daß, wenn man den Namen Hölderlin ausspricht, und ein paar der 119 angesehensten Führer der Bewegung haben das in jüngster Zeit sehr häufig getan, ihn nicht unnützlich im Munde führt.«
»Ja . . . und noch einmal ja: diese Leute führen ihn unnützlich im Munde. Sie haben Hölderlin nie gelesen, geschweige begriffen. Sie haben nur von seinem unglückseligen Wandel auf Erden läuten hören; durch Juden wie Friedrich Gundolf, dessen Schüler sie waren. Denn hätten sie Hölderlin verstanden, vielleicht nur die paar Sätze aus dem Hyperion: ›Wie hasse ich alle Barbaren, die sich einbilden, sie seien weise, weil sie kein Herz mehr haben, alle die rohen Unholde, die tausendfältig die jugendliche Schönheit töten und zerstören mit ihrer kleinen, unvernünftigen Manneszucht . . .‹ – hätten sie diese Sätze gelesen und verstanden, dann wäre ganz gewiß auch Friedrich Hölderlin auf den Scheiterhaufen geflogen zu Heinrich Heine und all den Geistern, die vor ihm und nach ihm Deutschland als ihre schmerzlichste Liebe ansahen. Er wäre geflogen, wie man auch Goethe gern hätte fliegen lassen, wenn man das letzte Maß an Konsequenz besessen hätte. Der ›Berliner Lokalanzeiger‹ hatte sie, als er den schäbigen Versuch unternahm, gegen eine große englische Zeitung, die die Bücherverbrennung als den äußersten Ausdruck von Barbarismus anprangerte, zu polemisieren: ›Wir sind nicht und wollen nicht sein das Land Goethes. Eben gerade das nicht!‹ Der diesen Unrat dort laichen durfte, sitzt in dem Ministerium, das die Bücherverbrennung ausgeheckt und organisiert hat.«
»Natürlich . . . gewiß . . . Sie haben recht. Es könnte selbst ein Schiller sich nicht mehr frei bewegen oder gar schreiben. Ich werde meine Arbeit nun doch vom Schreibtisch nehmen und eine Weile in der untersten Schublade ruhen lassen. Und zusehen, daß man sich auch sonst noch reinhalten kann.«
Als Borgsweill sich nach einer Stunde erhob, weil er noch eine Zusammenkunft mit seinem Ministerialdirektor außerhalb der Amtsräume verabredet hatte, atmete Robert Steg auf. Und es brannte ihm zugleich auch auf der Zunge, heftig zu werden. Hinter dem Rücken von Borgsweill aber wollte er keine moralischen Unwerturteile fällen, obwohl diese laue Haltung eines intellektuellen Menschen den herausfordernd gemeinen Geschehnissen gegenüber, der Landsknechtsbarbarei und einer sogenannten, aus noch gesundem Blut herausgekochten Volkserhebung, unbedingt eine heftige Abfuhr verdient hätte.
Doch geschah es, wie unter einem zwingenden Druck, daß die Unterhaltung, jetzt zu zweien, dennoch einen politischen Anstrich bekam und polemisch wurde. 120
»Als ich das letzte Mal bei Joachims war«, erzählte Robert Steg, »hatte ich eine heftige Auseinandersetzung mit Gottfried Benn. Es war beinahe so weit gekommen, daß wir uns geprügelt hätten. Sonderbarerweise stand ich ganz allein mit meinem Einwand gegen Benns herausfordernde Art, den vollkommenen Sieg des Nationalsozialismus als die einzige Möglichkeit anzusehen, Deutschland vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, vor der Verjudung der Kultur, vor der Verhetzung durch Jesuiten und Bolschewisten und dem Auseinanderfallen des Reiches zu bewahren.
Schließlich gelang es dem Doktor Joachim doch noch, dem Streit die schärfste Spitze abzubiegen, indem er eine Anekdote aus Hitlers Wiener Obdachlosen-Zeit erzählte. Worauf natürlich ein schallendes Gelächter einsetzte, bei allen, auch dieser Benn lachte mit und ließ dazu, als hielte er den Charakter Hitlers für eine paranoische Mißgeburt, ein paar kotige Worte fallen. Die er heute wahrscheinlich leugnen wird, nachdem er gestern im Rundfunk sagen durfte: ›Führer, das ist das Schöpferische, in ihm sammeln sich die Verantwortung, die Gefahr und die Entscheidung . . . Er beruft sich selbst, man kann natürlich auch sagen, er wird berufen, es ist die Stimme aus dem feurigen Busch, der folgt er, dort muß er hin und besehen das große Gesicht . . .‹
Die wichtigsten Sätze aus Benns Ausführungen damals, die die Ursache eines heftigen Streites zwischen uns waren, sind in meinem Gehirnkasten steckengeblieben. Manchmal träume ich nachts davon und ersaufe in Angstschweiß. Es ist über ein Jahr her, daß der Kerl sich so losließ und in den Kreisen junger Literaten auch noch eine Rolle spielte, als müsse man bei und an ihm alles das nachholen, was die Zeitgenossen einem Lenz, Hölderlin oder Büchner schuldig geblieben waren.
Er für seinen Teil hat mit den Ovationen für einen Scharlatan recht behalten und auch mit der Behauptung: ›Beglückungen für ein Volk können niemals darin bestehen, daß man ihm Selbstbestimmungsrechte gibt, Rechte, die von der geheimen Wahl seiner Vorgesetzten bis zur Bildung der Regierung des Landes reichen. Rechte auch, der Theater Spielpläne und der Radiostationen Tagesprogramm, vom Kuchenrezept und der Hühneraugengymnastik bis in die hohen Regionen der Dichtung, zu bestimmen. Volk muß in der Kandare gehen, muß Kommandos schon erspüren, ehe sie ausgesprochen sind. Und dampfen von Leistung, wenn es in Ruhestellung sich lagert. – Heute jedoch: die Kniekehlen sind ihm mit dreißig Jahren schon weich, und die Zähne schwärzen sich und bröckeln ab mit der Mutation. Weil dieses von Irrlehren zersetzte 121 Volk sich ohne Müdigkeit hinlümmeln darf an den Seen und auf den krautigen Stränden sich beschlafen. Nachher, von der Sonne gesotten und vom Wind ausgelüftet: auch noch Bogen spucken – anstatt in die blutunterlaufenen Schwielen nichtsnutzig den Dotterblumen in die eintägigen Augen.‹ – Jetzt hat diese ›Volksgemeinschaft‹ tatsächlich nur noch die Bestimmung, sich auf Kommando und in militärischer Haltung vor den Lautsprechern aufzupflanzen und Befehle zu empfangen: ›Alle mal herhören!‹ Und wenn es sich auf der Straße bewegt, dann nur in Viererreihen zum Judenpogrom, zur Marxistenausräucherung, zu Gaskursen oder zu Nachtübungen mit Tanks und Maschinengewehren.
Als Benn damals etwas früher ging und ich noch blieb und einige andere Freunde dazu, setzte der Doktor Joachim ein sehr dickes Fragezeichen hinter die Voraussetzungen der Herrlichkeiten in dem neuen Germanenreich des Herrn Benn. Eine schaurige Konsequenz im Leben Joachims, daß er das Bezweifeln so bitter hat zahlen müssen. Als einer der ersten überhaupt, an dem die neue Glückhaftigkeit der Volkserziehung vollzogen wurde.«
»Wenn ich nur wüßte«, antwortete Marbang, »was dann nachher sich auftun wird, wenn die Juden und Marxisten und alle, das heißt: alle Nichtuniformierten, die dafür gelten, restlos beseitigt worden sind?«
»Daran ist nicht zu denken, daß der Nationalsozialismus die Juden jemals beseitigen kann. Nicht einmal mit den noch ganz Rein-Rassigen wird es ihm gelingen, es sei denn, er schlachtet die Hälfte des deutschen Volkes ab und sperrt die andere Hälfte, schon aus den Säuglingswindeln heraus, in Zwangserziehungshäuser. – Und um den Marxismus jetzt und ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, was eine von Gott befohlene spezielle Sendung dieses Nachtwandlers Hitler sein soll . . . dazu gebricht es diesen Herrschaften an jeglichem Wissen um soziale Ursachen, Zusammenhänge und Wirkungen. Sie werden den Marxismus nicht ausrotten, sondern so zusammenpressen, so stark machen, daß er mit einem lauten Knall explodiert und sich Luft nach allen Seiten schafft. Und vielleicht erst dann, nach diesen Prüfungen, vollkommen sein wird. Geschieht solch ein Ausbruch, obwohl es auch noch andere Möglichkeiten gibt, die Herrschaft der Braunen und der Drahtzieher zu brechen, dann wird er in einen sorgfältig vorbereiteten Kanal gelenkt werden müssen, um mit gesammelter Kraft eine gründliche Umschichtung zu vollziehen. Denn sonst wird wieder jene schreckliche, ratlose Verwirrung daraus, die wir im November 1918 erleben mußten.«
»Lieber Steg, wer soll das vorbereiten?« 122
»Wir, die damals und heute wieder Unterlegenen.«
»Sie vielleicht, Robert, werden mit von der Partie sein. Ich aber bin ganz und gar unpolitisch. Ich kann nur mit der Sympathie mich zugesellen. Und auch nur vom Kulturellen her. Ich sehe die Kultur heute bedroht; ich wäre ein Lump, wollte ich mich davor drücken, das auch deutlich auszusprechen, was ich sehe und was mich schmerzlich bewegt. Man muß natürlich etwas tun gegen die drohende Versumpfung.«
»Das Tun-Können ist nur möglich, wenn man sich einreiht.«
»In die Anti-Nazifront, als aktiver Kämpfer, meinen Sie? Gewiß, dazu muß man aber entschlossen genug sein und alles aufgeben können, selbst das warme Bett und den gebügelten Anzug. Ich weiß. Noch einmal Schützengraben, Läuse und Krätze. – Aber . . . muß das unbedingt sein? Läßt sich das nicht ein wenig zivilisierter machen?«
»Sie wollen wohl meinen Einwurf, der ganz ernst und in einem ganz anderen Sinn gemeint war, lächerlich machen?«
»Aber Freund, ich wollte doch nur sagen: es müßte sich auch eine geistige Front der Abwehr bilden.«
»Auch diese geistige Front ist längst da und tätig in der Illegalität, in der Emigration, in den Konzentrationslagern.«
»Ja . . . das könnte sein. Übrigens: haben Sie eine Ahnung, wieviel Menschen jetzt schon hinter Schloß und Riegel und in den neueingerichteten Anstalten dieser sogenannten Schutzhaft sich befinden? Den umlaufenden Gerüchten nach zu urteilen, muß die Ziffer eine fünfstellige sein.«
»Wieviel, wollen Sie wissen? Ich nehme an, alle Menschen, die sich öffentlich gegen den Barbarismus geäußert haben. Und dazu auch noch jene, die den Behörden von guten Freunden als Staatsfeinde denunziert wurden. Wer das Glück hat, heute noch frei herumlaufen zu können, der ist dennoch registriert und wird bei der nächstbesten Gelegenheit abgeholt.«
»Diese registrierten Leute, wie Sie sagen, die werden sich jetzt mehr vorsehen.«
»Und die Geheime Staatspolizei und alles, was drum und dran hängt, wird noch rigoroser vorgehen und die beleidigte Volksseele in Permanenz kochen lassen.«
»Daß wir aber auch gar keine ungewöhnlichen Köpfe auf unserer Seite haben! Tatmenschen, die eine zielbewußte Abwehr organisieren und Maßnahmen treffen, daß dieser Zustand nicht bis in Ewigkeit dauert?! Es kommt einem beinahe schon so vor, als wäre alles wie von 123 Giftgas gelähmt. – Was soll nun mit uns werden, die wir doch nur einzelne sind und uns bloß auf unsere privaten Überlegungen stützen können?«
»Wirken, mein lieber Marbang, wirken! So, wie ich es vorhin schon andeutete.«
»Machen Sie sich doch keine Illusionen! Winzige Sandkörner werden wir sein. In einer ungeheuren Flut, die vorwärts rollt und alles überschwemmt. Was ist das bloß für ein Mensch, daß ihm die Massen so zulaufen?!«
»Ein Mensch? Sie müssen den ›Angriff‹ lesen; Zeile für Zeile. Dann wüßten Sie jetzt: ›Vor zweitausend Jahren offenbarte der Schöpfer sich in der Gestalt Jesu. Heute offenbart Gott sich dem deutschen Volk in der Gestalt Hitlers . . .‹«
»Das sind Propagandamätzchen für Waschfrauen und Untertertianer. Es muß an diesem Mann doch etwas sein, das auch mündige und urteilsfähige Menschen besticht!«
»Mit den Versprechungen, die er macht, besticht er.«
»Versprechungen sind zeitbegrenzt. Man wird eines Tages die Einlösung fordern und dann die Bestechungen und den Schwindel erkennen. Ein sehr gefährliches Spiel, scheint mir, mit der Geduld des Volkes.«
»Wenn das Volk in seiner Ganzheit erkennen wird, welchem Schwindel es nachgejagt und aufgesessen ist, dann wird dieser Mann nicht mehr sein, um zur Verantwortung gezogen zu werden.«
»Wer wird es dann sein? Sie sprechen, als handele es sich um einen folgerichtigen Ablauf von Gesetzen, die fundiert sind. Sie meinen, und das hörte ich auch schon von einigen anderen Freunden: Nach diesem käme ein noch rücksichtsloser vorgehender Diktator . . .?«
»Ja . . . mein Freund, jener andere, der dieses Abziehbild von einem Diktator in die Welt gesetzt hat, um sich und seine letzten Ziele zu tarnen.«
»Ich denke, Diktatoren pflegen sonst nicht in einem völligen Dunkel zu agieren . . .«
»Diese Sorte, die Hitler als gottgesandten Hampelmann benutzt, hat immer im Hintergrund gewirkt. Manchmal, wenn die Sache besonders kompliziert war, brauchten sie dazu einen Bismarck. Heute, in der Weltkrise der Demokratie und bei der Überfülle von redseligen Dilettanten, kommt man mit skrupelloser Demagogie und einem agierenden Popanz für eine Weile aus. Die Ernte wird scheinbar eine totale sein, denn das Volk ist bis in die Zehenspitzen hinunter verwirrt. Es griff, wie ein blindes Huhn, nach dem ersten besten Korn, das es ausgestreut wähnte. Die 124 Scheuern aber, wenn die Ernte eingebracht ist, die werden brennen. Vom Blitz getroffen, verstehen Sie? Von einem Element, das noch immer für den gerechten Ausgleich gesorgt hat, wenn auf der einen Seite das Maß voll war.«
»An solche Vorsehungen glauben Sie?«
»Vorsehungen? Sagen wir besser: geschichtliche Abläufe in aller Gesetzmäßigkeit. Wer die deutsche Geschichte kennt, für den ist dies alles nur die Wiederholung einst schon gewesener Irrungen. Manchmal äußern sich diese Wiederholungen in schärfer ausgeprägten Formen und mit heftigeren Erschütterungen.«
Doktor Marbang zerbröckelte nervös die Zigarre, die er eine ganze Weile kalt geraucht hatte. Und schüttelte dabei den Kopf. Nicht, daß er Zweifel in Robert Stegs Betrachtungen der Dinge gesetzt und sie für eine Ausflucht gehalten hätte. Er glaubte, daß es wohlüberlegte Gedanken waren. Nur schien es ihm so, als müsse man sich in dieser Zeit, wo alles sehr schnell, real und handgreiflich vollzogen wurde, mit seinen Gedanken weniger im Abstrakten bewegen. Und deshalb fragte er jetzt: »Sie erwähnten vorhin einen Mann oder eine Gruppe von Männern, die man als die eigentlichen Macher der sogenannten deutschen Revolution auffassen muß. Sind sie in der Industrie zu suchen? Bei den Hohenzollern? Oder bei den altpreußischen Rebellen konservativer Richtung?«
»Jedenfalls sind es Leute, die die Macht anbeten und in dieser Macht auch das Feld zu finden hoffen, wo man einesteils nicht gestört wird in einem jeglichen Vorhaben, und zum anderen auf eine billige Art mehr Geld verdient.«
»Ich verstehe, wohin Sie zielen. Aber was heißt billig?«
»Billig mehr Macht auf Kosten der Dummen verdienen; verstehen Sie jetzt? Man glaubt in jenem Winkel nämlich, daß man das Volk nur dümmer zu machen braucht, dann gehorcht es williger und arbeitet billiger.«
»Eine Rechnung, denke ich, die nicht aufgehen wird.«
»Nach der Kalkulation dieser Leute sind Erfolge schon da. Man hat das ›rote Preußen‹ ausgeräuchert. Man hat die alten Gewerkschaften zerschlagen. Man hat die Arbeitslosenunterstützung ›produktiv‹ gemacht und baut Straßen und Bahnen für das Militär, die ihm ein früherer Reichstag nie bewilligt hätte und die, wie man es dem Volk vorrechnet, nicht ein Viertel von dem kosten, was man normalerweise hätte zahlen müssen. Und doch sind diese Straßen dreimal so teuer, als wenn man sie in der bisherigen Art von freien Arbeitern hätte bauen lassen. Wer diese Übergewinne einsteckt und wer die Geldverluste zur tragen hat . . . das 125 wird Ihnen wohl klar sein, wenn Sie die allgemeine Verringerung der Löhne und Gehälter in Betracht ziehen.«
»Dann halten Sie also die Leute, die mit der Verdummung des Volkes rechnen, für noch dümmer als jene anderen Leute, die an die Dummheit glauben? Man kennt sich bald nicht mehr aus in diesem Wirrwarr von Schwindlern, Beschwindelten, Betrogenen und betrogenen Betrügern. Vielleicht existiert für unsereinen nur die einzige Möglichkeit, will man in den Strudel nicht hineingezogen werden, neutral zu bleiben.«
»In diesem Kampf, Marbang, gibt es keine Neutralität.«
»Ich bin kein Kämpfer.«
»Die Verhältnisse werden Sie aber dazu zwingen, Kämpfer zu sein. Wenn wir uns im nächsten Monat wieder sprechen sollten, dann werden Sie entweder gleichgeschaltet sein, im Bunker stecken oder in Paris in einem kleinen Hotel hocken, an den Fingernägeln herumkauen und überlegen, ob die Pistole der Abschluß sein soll oder der Posten als Kellner in einem international frequentierten Nachtlokal. Nehmen Sie diesen Posten an. Vielleicht erleben Sie dann auch noch die Wiederauferstehung als Kustos an einem Museum in Annam oder Perú.«
»Entschuldigen Sie . . . diese Perspektive scheint mir ein wenig romanhaft . . . Man hat schließlich doch sein Handwerk gelernt, eins, das von geistigen Analphabeten nicht ausgeübt werden kann. Vielleicht werde ich in Pension gehen müssen. Es wird mich vielleicht ein wenig genieren zuerst, aber nicht umschmeißen. Na . . . und Sie?«
»Verschwinden!«
»Doch nicht etwa so wie unser Freund Feinhals? Eigentlich müßte man ihn ja um diese Zwangsreise beneiden. Es wäre ihm sonst wohl nicht im Traum eingefallen, sich in Lateinamerika umzusehen. Sie werden natürlich Paris vorziehen.«
»Nein, Junge. Ich gehe sang- und klanglos in die äußerste Illegalität.«
»Das wäre gleichbedeutend mit einem Selbstmord. Ich denke, Sie werden es sich doch noch überlegen, ob Sie für Leute, von denen Sie früher oft angespuckt wurden – mein lieber Steg, vergessen Sie das bitte nicht! –, die Kastanien aus dem Feuer holen.«
»Die Kastanien für die Freiheit!«
Als Robert Steg zum Bahnhof ging, sah ihm der Doktor Marbang nach und dachte: Er kokettiert mit einem Gedanken, der ihm als literarischer Einfall gekommen ist. Ich glaube nicht, daß er das Zeug hat, Bomben zu schmeißen. Und darauf wird die Illegalität wohl hinauslaufen. Hat nicht neulich auch dieser Langfoot gesagt: ›Entweder werde 126 ich mich darin üben, kleine stählerne Äpfel aus fünf Meter Entfernung den Braunen in ihre Fahnenaufmärsche zu schmeißen oder im paraguayschen Urwald Bäume roden und Tabak pflanzen.‹ So wie ich Langfoot kenne, wird er weder das eine noch das andere tun. Er hat im Kopf einen Schwarm Vögel flattern. Was die ihm vorsingen, das wird er nachpfeifen und sich durch die zensierten Monatsschriften mit sanfter Lyrik schaukeln . . . 127