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Oktober 1920.

Anfang des Monats bin ich ein paar Tage aus dem Festland drüben gewesen. In Overveen beim Zahnarzt Schäfer, der mich behandelt hat. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß man sich auf die bescheidenen Vergnügungen, die ein Zahnarzt mit all seinen kleinen Folterinstrumenten zu bieten hat, so freuen kann! Geradezu wohlig habe ich mich in den schönen Kurbelstuhl zurückgelehnt – 'mal etwas anderes als unsere Wieringer Möglichkeiten. Der Ausflug ist seit langer Zeit der erste Durchbruch durch die gleichmäßige Stille und Einsamkeit der Insel gewesen und hat mich gerade in dieser trüben Zeit, in der das große Welken den letzten Reiz der armseligen Landschaft auslöscht und die Herbststürme zu fegen beginnen, leichter über den Gedanken hinwegkommen lassen, daß ich nun wieder einen langen, harten, dunklen Winter in dieser Abgeschlossenheit und Enge des kleinen Hauses fern der Heimat und den Meinen verbringen soll. Dazu fanden wir in Schäfers, die eine reizende kleine Villa bei Haarlem bewohnen, liebenswürdige und hochgebildete Menschen, deren Gastfreundschaft zu genießen eine Freude ist. Und auf dem Rückwege haben wir für ein paar Stunden unseren alten Freund, den Bürgermeister Peereboom heimgesucht, der jetzt in Bergen haust, seit vor ein paar Wochen der vortreffliche, allzeit hilfsbereite Herr Kolff sein Nachfolger in Wieringen geworden ist. Auch er und seine hochgebildete, aus deutschem Hause stammende Gattin sind unausgesetzt bemüht, mir das Leben erträglicher zu machen.

An dieser Stelle möchte ich noch dankbar zweier holländischer Familien gedenken, in deren Heimen mir stets die größte Gastfreundschaft gewährt wurde, der Familien Bax und Coumou. Domine Bax ist nicht nur ein tief gebildeter Geistlicher, sondern auch ein warmherziger, aufrechter Mann, der fern aller Pose die verstehende, verzeihende Nächstenliebe werktätig übt. Wir sprachen einmal über religiöse Auffassungen, und da sagte der alte Herr mit fast schalkhaftem Lächeln: »Sehen Sie mal, wenn ein Vater einen Jungen hat, der dauernd zu ihm gelaufen kommt und sagt: ›Vater, gib mir einen Cent‹, dann reißt dem Vater bald die Geduld, und der Junge kriegt eine Ohrfeige. So ist es auch mit den Menschen, die stets vom lieben Gott etwas wollen, die ihn dauernd im Munde führen – die kriegen denn auch eine Ohrfeige. Nur wer wirklich ein tiefes, ernstes Bedürfnis empfindet, soll sich an seinen Gott wenden mit der Bitte um Kraft, und dann soll er selbst fest zupacken: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!« – Coumou war längere Zeit Ingenieur der Wasserbauverwaltung auf der Insel und ein fröhlicher, stets hilfsbereiter Freund.

Unter den Briefen aus der Heimat, die ich bei meiner Rückkehr vorfand, war auch das Schreiben eines Kriegskameraden. Von hundert Einzelheiten redet es und kommt dabei auch auf das törichte Geschwätz, das über meine Tätigkeit als Oberbefehlshaber der 5. Armee bei denen, die mehr wissen als alle anderen, im Umlauf ist. Also: auch den unglückseligen Rückzugsbefehl der O.H.L. nach der Marneschlacht des Jahres 1914 soll ich verschuldet haben.

Ganz genau wissen das diese Superklugen!

Da ist's vielleicht doch nicht ganz unberechtigt, wenn ich auch sage, was ich von der Schlacht, die unsere Schicksalswende bedeutet, zu sagen weiß – zumal das meiste, was von ernsten kritischen Betrachtern bisher gegeben wurde, nur wenig von den Vorgängen bei der 5., 6. und 7. Armee berichtet.

Was ich hier niederlegen will, soll nicht ein Bild der militärischen Entwicklung und Operationen meiner 5. Armee in jenen bitter schweren Tagen sein – dafür ist ja eine andere Stelle von mir vorgesehen – es soll allein in großen Zügen die Umstände zeigen, die das deutsche Heer damals mitten aus siegreichem Vormarsch heraus zu dem tragischen Rückzuge führten.

Eine Schuld meinerseits? Nur gemeine Böswilligkeit konnte derlei erfinden, nur grenzenlose Dummheit es glauben!

Als Oberbefehlshaber der 5. Armee habe ich im August 14 den Vormarsch meiner Armee geführt, die Entschließungen, Meldungen und spärlichen Aussprachen mit der O.H.L. und den Nachbararmeen ständig miterlebt und endlich in den Tagen der Marneschlacht die Entwicklung der Dinge aus nächster, bester Stelle stündlich mitangesehen und studiert.

Nach meinem Eindruck ist es eine ganze Reihe von Umständen, deren unglückseliges Zusammenfließen die Entwicklung der Ereignisse zu ihrem heillosen Abschlusse geführt hat. Neben der zweifellosen Unzulänglichkeit und dem aus ihr sich ergebenden moralischen und physischen Niederbruch des Generals von Moltke die unglückliche und rasch entmutigte Führung bei A.O.K. 2 durch General von Bülow – und die geradezu unselige Tätigkeit eines Generalstabsoffiziers der O.H.L., der von einer ihm unverständlicherweise nur mündlich erteilten Direktive für besondere Fälle unter dem Druck der Verantwortung und seines persönlichen Pessimismus als von einer unbeschränkten Vollmacht Gebrauch machte und die beiden siegreich kämpfenden Flügelarmeen vor der Entscheidung zum Rückzug veranlaßte.

Stets wenn ich dieser Zeit der sinnlosen und unbegreiflichen Hingabe von errungenen Erfolgen gedenke, wenn mir das ganze Grauen dieser Kopflosigkeit wieder vor Augen tritt, schiebt sich damit auch die tragische Gestalt des Mannes in mein Gesicht, der damals führen sollte – und kein Führer war, und der, als die schwellenden Ereignisse das überkommene Schema sprengten, zusammenbrach: die Gestalt des Generalstabschefs Generaloberst von Moltke.

Ich habe den General gut gekannt, ich habe ihn als Menschen aufrichtig verehrt, und ich empfinde tief die Tragik seines Geschickes, das mir in seiner rein menschlichen Linie mit dem Geschicke des unglücklichen Österreichers Benedek eine gewisse innere Gemeinsamkeit zu haben scheint.

General von Moltke war ein durch und durch vornehm denkender Mann, ein treu ergebener Freund meines Vaters. Als der Kaiser auf dringende Empfehlung seiner nächsten Berater ihn 1906 an die erste Stelle im Generalstab stellte, hat Moltke selbst Seine Majestät inständig gebeten, dies nicht zu tun, da er sich der Stellung nicht gewachsen fühle. Als aber der Kaiser auf seinem Entschluß beharrte, hat er am Ende als preußischer Offizier gehorcht. Er hat dann mit unendlichem Fleiß gesucht, die riesige Materie des Generalstabes zu meistern. Es lag in seinem Wesen etwas Schüchternes, er schien sich bisweilen selbst zu wenig zuzutrauen, und so geriet er bald in eine völlige Abhängigkeit von seinen Mitarbeitern. Die große persönliche Liebenswürdigkeit und von Herzen kommende menschliche Freundlichkeit, die er besaß, erschwerten es ihm, jene unbedingte Autorität zu erlangen, die ein Generalstabschef haben muß. Es wurde mir während meiner Kommandierung in den Generalstab als typisch bezeichnet, daß zu Zeiten des alten Schlieffen selbst die Oberquartiermeister nur mit einer gewissen Scheu zum Vortrag bei diesem genialen, rücksichtslosen und unerbittlichen Chef erschienen, während zum General von Moltke jeder gern und oft zum Vortrag ging.

General von Moltke hak nie in einer gesunden Haut gesteckt, er war häufig leidend. Zu Beginn des Krieges hatte er zwei anstrengende Kuren in Karlsbad hinter sich. Er war ein kranker Mann, als er in den Krieg zog.

Die Führung der einzelnen Armeen durch die Zentralstelle des Chefs des Generalstabes, die ihren Sitz viel zu weit zurück hinter dem Kampfgebiete in Luxemburg hatte, war vollkommen lose. Er konnte aus dem abgelegenen Quartiere die Vorgänge nicht mit der nötigen Sicherheit verfolgen, nicht mit der gebotenen Klarheit übersehen – vielleicht auch, daß ihm in den entscheidenden Momenten der Schlacht der Blick für das Notwendige oder die rasche Entschlußkraft versagte. Jedenfalls ergaben sich, bei der während des damaligen Bewegungskrieges noch recht großen Unvollkommenheit der Fernverständigungsmittel, vielfach ganz ungenügende Verbindungen mit den im Vorrücken befindlichen Armee-Oberkommandos, ja manchmal sogar der völlige Ausfall des Zusammenhanges. Das führte zu einem Zerfall der einheitlichen Führung, es kam schließlich dazu, daß die einzelnen Armeen, nachdem der Vormarsch angetreten und ihre Marschrichtung ihnen bekannt war, mehr oder weniger selbständig Krieg führten und sich von Fall zu Fall durch Verständigung mit ihrer Nachbararmee halfen.

Gleich nach der Schlacht bei Longwy wurde ich in das Große Hauptquartier nach Luxemburg gerufen. Ich nahm dort Gelegenheit, mich zu Oberstleutnant Tappen, der rechten Hand Moltkes, über die lose Führung der Armeen durch die Oberste Leitung ganz unzweideutig auszusprechen, und ich verlangte zugleich ständige Verbindungsoffiziere der O.H.L. (diesen Begriff gab es damals noch nicht) bei den A.O.K.s. Der Vorschlag wurde lächelnd mit der Begründung abgetan: das sei gar nicht nötig, da ja alles sehr schön auch so gehe.

Als sich die Lage bei der 1. und 2. Armee östlich Paris verschärfte, entsandte der Chef des Generalstabes den Oberstleutnant Hentsch als Nachrichtenoffizier der Obersten Heeresleitung auf eine Orientierungsfahrt zu den A.O.K.s. Man legte, wie mir der rühmlichst bekannte Chef der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, General von Kuhl, einst sagte, die Entscheidung über den Ausgang der Schlacht geradezu in seine Hand.

Hentsch erschien bei Beginn seiner Reise zunächst am Nachmittage des 8. September beim A.O.K. 5 in Varennes und gab uns hier ein Bild der Gesamtlage, soweit man diese in Luxemburg kannte. Nach diesen Ausführungen ergab sich für den sachlich ruhigen Beurteiler ein keineswegs unbefriedigendes Gesamtbild, aus dem allerdings hervorging, daß der bisher rasch vorwärtsdrängende Siegeslauf zunächst zum Stillstand gekommen war. In direktem Anschluß an seinen Besuch beim A.O.K. 5 fuhr Hentsch dann die ganze Front ab über A.O.K. 4, 3, 2 und 1, um persönliche Eindrücke zu gewinnen.

Hier nun, bei den Besuchen der anderen Armeen, setzt jene unglückselige Wirksamkeit des Offiziers ein, von der ich andeutend schon gesprochen habe. Mag sein, daß Hentsch auf seiner Fahrt und namentlich beim A.O.K. 2 wirklich recht ungünstige Eindrücke gewann, mag auch sein, daß die Nerven ihm versagten, jedenfalls hat er beim A.O.K. 2, anstatt es mit schärfster Energie zu rücksichtslosem Widerstande anzuspornen, dem Rückzugsentschluß voll zugestimmt. Die Darstellung, die er dann weiter von der Auflösung der 2. Armee gab, und der Gebrauch seiner vermeintlichen Vollmacht, den Rückzug für die Armeen selbständig anordnen zu können, veranlaßte schließlich auch die 1. Armee, die ihre direkte Fühlung mit der 2. Armee nicht hatte aufrecht erhalten können, nach starkem Widerstreben am 9. September ihrerseits den Rückzug auf Soissons anzutreten. Diese, die Vorgänge bei der 1. Armee bezeichnende Darstellung habe ich persönlich gleichfalls aus dem Munde des damaligen Generalstabschefs der Armee, General von Kuhl, gehört, auf dessen Urteil unbedingter Verlaß ist. Bei der 3. und 4. Armee hat Oberstleutnant Hentsch, so viel ich weiß, die gleiche traurige Wirkung erzielt – ein Zwang durch den Feind lag nicht vor.

Meine 5. Armee griff in diesen kritischen Tagen der Hentschschen Reisetätigkeit in der Linie Vavincourt- Rembercourt-Beauzée-St. André ohne Erfolg an und bereitete zugleich einen für den 10. September angesetzten Nachtangriff vor, dessen Zweck es war, uns in der beengten Lage, in der wir uns, eingekeilt zwischen Verdun und den unwegsamen Argonnen, befanden, mehr Luft und Bewegungsfreiheit zu schaffen. Der Plan zu diesem Nachtangriffe, an dem die Beteiligung des XIII. A.K. einschließlich der 12. R.D. und des XVI. A.K. vorgesehen war, wurde von der O.H.L., die durch inzwischen bei ihr einlaufende Nachrichten von Hentsch in der Beurteilung der Gesamtlage sichtlich immer unruhiger wurde, zunächst nicht gebilligt, dann aber aus mehrfache Vorstellung meines A.O.K.s gutgeheißen.

Das Unternehmen wurde also pünktlich durchgeführt und glückte glänzend: die Armee erkämpfte die Linie Louppy le Petit-Höhen östlich Rembercourt-Höhen nordöstlich Courcelles-Souilly. Die französische Armee Sarrails baute unter unserem Stoße nachweislich rund zwanzig Kilometer ab.

Am Tage dieses nächtlichen Erfolges, also am 10. September, kam Oberstleutnant Hentsch von seiner Rundfahrt zu den A.O.K.s über Varennes zurück. Sein Urteil über die Gesamtlage war seit seinem ersten Besuche ausgesprochen pessimistisch geworden. Er sprach sich hoffnungslos über die Zustände am rechten Flügel aus und verlangte auch von mir die sofortige Zurücknahme der 5. Armee. Nach seiner Darstellung erschienen die 1. und 2. Armee nur noch als flüchtende Trümmer, die 3. Armee hielt sich mühsam, die 4. war leidlich in Ordnung.

Ich erklärte dem Oberstleutnant Hentsch, daß von einem sofortigen Rückzuge der 5. Armee gar keine Rede sein könne, daß ein Zwang hierzu sich weder aus dem Gesamtbilde noch aus der Lage bei der Armee ergebe und daß auch, ehe der Gedanke überhaupt erwogen werden könne, die Rückführung aller meiner Verwundeten aus dem soeben glücklich durchgeführten Unternehmen gesichert sein müsse. Als Hentsch trotz dieser Einwände dringlich wurde, fragte ich ihn nach seiner schriftlichen Vollmacht – er besaß keine. Darauf habe ich ihm bedeutet, daß wir nicht in der Lage seien, seinen Wünschen nachzugeben.

Mit dem Rückzuge von der Marne war der große Schlieffensche Plan zusammengebrochen. Die rasche Niederwerfung Frankreichs war die Voraussetzung. Unvergeßlich wird mir der erschütternde Eindruck bleiben, den ich empfing, als am 11. September vormittags plötzlich General von Moltke mit Oberstleutnant Tappen in meinem Hauptquartier in Varennes en Argonnes erschien – ein gebrochener Mann, der buchstäblich mit Tränen kämpfte. Nach seinem Eindrucke war das ganze deutsche Heer geschlagen und flutete fast unaufhaltsam zurück. Er legte dar, er wisse noch nicht, wo dieser Rückzug zum Stehen kommen würde. Wie er zu dieser Auffassung gelangt sein mochte, blieb uns damals unverständlich.

Er war sehr erstaunt darüber; daß er im A.O.K. 5 eine durchaus ruhige und zuversichtliche Beurteilung der Lage antraf, ließ sich hierdurch jedoch nicht zu einer besseren Auffassung bekehren und verlangte von mir – wie Hentsch am Tage vorher – die sofortige Rücknahme meiner Armee. Da irgend ein ersichtlicher oder zwingender Grund zu einem solchen übereilten Schritte auch jetzt nicht vorlag, kam es hierüber zu einer lebhaften Auseinandersetzung, an deren Schluß ich erklärte: Solange ich Oberbefehlshaber meiner Armee sei, trüge ich die Verantwortung für die Armee, und eine sofortige Zurücknahme könne ich mit Rücksicht auf die notwendige Bergung und den schonenden Abtransport meiner Verwundeten nicht zugeben.

Tief bewegt fuhr General von Moltke wieder ab. Menschlich hatte ich das tiefste Mitleid mit dem völlig geknickten Manne, aber als Soldat und Führer konnte ich einen derartigen seelischen Zusammenbruch nicht verstehen.

Am Nachmittage des 11. September überbrachte dann Oberst v. Dommes die nochmalige Weisung der O.H.L. für den Rückzug meiner Armee nach der Gegend östlich St. Menehould. Er schlug dabei vor, den Südrand des Argonner-Waldes zu halten. Dem gegenüber entschloß sich das A.O.K., noch weiter nach Norden zurückzugehen in die Linie Apremont-Baulny-Montfaucon-Gercourt, da es ihm nicht angezeigt schien, vorwärts der auf Befehl der O.H.L. bereits im Rückmarsch begriffenen 4. Armee zu bleiben, während es dem nunmehr losgelassenen Gegner freistand, auch aus Verdun in jeder beliebigen Richtung hervorzubrechen und damit die rückwärtigen Verbindungen nicht nur der 5. Armee, sondern des ganzen Westheeres zu bedrohen.

Erst nach Rückführung aller Verwundeten ging die 5. Armee, ohne im geringsten vom Feinde gedrängt zu werden, in den Tagen vom 12. bis zum 15. September in voller Ordnung und mit dem Gefühle stärkster Überlegenheit in diese neuen Stellungen zurück. Sarrail getraute sich nicht, uns anzupacken; es wäre ihm auch schlecht bekommen. Ich habe mit eigenen Augen von den Höhen hart nördlich Varennes die letzten Nachhuten des XIII. und XVI. Korps ihre Schützengräben ausheben sehen und konnte dabei feststellen, daß der Feind nirgends außer mit Kavallerie-Patrouillen gefolgt war.

Ich hatte übrigens im Laufe des Krieges Gelegenheit, mit Hunderten von Offizieren aller Grade und mit ebensovielen Mannschaften der ganzen Front über die verhängnisvollen Vorgänge während der Kampfhandlungen der ersten Marneschlacht zu sprechen. Was ich da zu hören bekam, war immer wieder das gleiche: Wir hatten die französischen Gegenangriffe vollkommen abgeschlagen und gingen selbst zum Angriff vor, der überall erfolgreich zu werden versprach – da kam der unverständliche Rückzugsbefehl.

Mein Bruder Eitel Fritz führte in jenen Tagen das erste Garde-Regiment. Er schilderte mir später oft in tief-ehrlichem Zorn den Tag: »Wir waren in vollem Angriff auf die französische Stellung, nachdem wir verschiedene französische Gegenangriffe abgeschlagen hatten. Unsere Leute waren zwar sehr ermüdet, aber sie gingen tapfer und entschlossen vor. Überall sah man die Franzosen zurücklaufen, wir hielten den Sieg in der Hand – da kam ein Ordonnanzoffizier mit dem verfluchten Befehl, sofort den Angriff einzustellen und den Rückmarsch anzutreten!« Er sagte mir, es seien die qualvollsten Stunden seines Lebens gewesen, als er mit seinen braven Leuten den ganzen in schwerem Ringen erkämpften Weg wieder zurück mußte und als sie die Verwundeten sahen, die nun sicher in Gefangenschaft fielen. Unsere famosen Grenadiere hätten es garnicht glauben wollen und nur immer wieder gefragt: »Warum müssen wir zurück, wir haben doch die Franzosen geschlagen?!«

Und sie hatten Recht. Das deutsche Heer ist an der Marne nicht geschlagen, es ist von seinen Führern zurückgenommen worden. Die Schlacht ging verloren, weil die Oberste Führung sie verloren gab, sie hätte trotz unserer zahlenmäßigen Unterlegenheit – das Kräfteverhältnis stand wie eins zu zwei – zum Siege führen müssen, wenn die Oberste Führung die Lage klar erfaßt und wenn sie zweckmäßig und entschlossen gehandelt hätte.

Es ist nicht nachträgliche Weisheit, sondern die Wiedergabe eines Eindruckes, der sich mir damals schon angesichts der Gesamtlage aufdrängte, daß in einer starken Zusammenfassung unseres rechten Flügels zu einheitlicher Aktion und in seiner Verstärkung durch eine technisch durchaus mögliche Verschiebung von Kräften aus dem linken Flügel eine Beseitigung der Gefahrpunkte unschwer hätte gelingen müssen.

Den General von Moltke habe ich nach diesen qualvollen Ereignissen nur noch einmal gesehen.

Es war im Hauptquartier Charleville. Er war seines Kommandos bereits enthoben; ich fand ihn, um Jahre gealtert, in einem kleinen Zimmer der Präfektur über die Karten gebeugt, in sich zusammengesunken. Der Anblick war erschütternd. Worte ließen sich nicht finden, mein Händedruck sagte ihm wohl alles, was zu sagen blieb.

In Berlin ist er am Ende an gebrochenem Herzen gestorben. Mit ihm ging ein echter preußischer Offizier, ein vornehmer Edelmann dahin. Daß ihm eine Aufgabe gestellt worden war, die über seine Kräfte ging – daß er sie in einem mißverstandenen Pflichtgefühl, wider Willen und in Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit, doch auf sich genommen hat, war sein Verhängnis geworden. Seines – und das unsrige.


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