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Mai 1919.

Zwei Feste wehmütiger Art habe ich in diesen Maitagen feiern können: am sechsten bin ich siebenunddreißig Jahre alt geworden und habe hier in meiner Abgeschiedenheit aus lieben Briefen von den Meinen und aus zahllosen Zeichen des Gedenkens aus allen Teilen der deutschen Heimat erkennen dürfen, daß es noch Menschen gibt, die sich mir zugehörig fühlen und die keine noch so wild wütende Hetze mir entfremden konnte. Auch aus Holland und von der Insel sind mir viele rührende Zeichen der Teilnahme und Liebe zugegangen: kleine, gut gemeinte Geschenke, die meinen bescheidenen Haushalt verbessern sollen – Blumen, so viele, daß die engen Zimmer der Pastorie sie kaum fassen konnten.

Und gegen Ende des Monats konnte ich im Einverständnis mit der holländischen Regierung die Insel für einen Tag verlassen und auf dem Gute des Barons Wrangel bei Amersfoort nach all diesem unsagbar schweren, einsamen Erlebnis des letzten halben Jahres ein Wiedersehen mit der Mutter feiern. – Feiern? Ich weiß nicht, ob das Wort für diese Stunden paßt, in denen wir in dem von Rosen übersäten Garten Arm in Arm – niemand sonst in unserer Nahe – auf und ab gegangen sind und ich mir so wie früher oft in besseren Tagen alles, was mich bedrückte, rückhaltlos vom Herzen reden konnte. Denn zu ihr, zu der stets verständnisvoll-gütigen und in ihrer schlichten Bescheidenheit doch so klugen und weitblickenden Frau, konnte ich auch in den vergangenen Jahren immer kommen, wenn meine Gedanken, wenn mein Herz in Wirrungen die gute, ordnende und beruhigende Mutterhand gebrauchten. Das war so in der Zeit, als ich noch Kind und Junge war, ist so gewesen, als ich den Leutnantsrock getragen und später in verantwortlichen Stellungen Dienst getan habe – und ist so geblieben, hat sich jetzt in diesen knappen Stunden wiederum bewährt, als wir nach der ersten Erschütterung des Wiedersehens die innere Fassung wiedergefunden hatten. Kaum je vorher habe ich es so tief gefühlt, wie stark ihr Wesen und ihr Blut in meinem Wesen und in meinem Blute leben!

In die Zeit meines ersten Dienstes im 1. Garde-Regiment zu Fuß fällt zu Beginn des Jahres 1901 ein trübes Familienereignis, das mich wieder nach London führte: der Tod meiner Urgroßmutter, der greisen Königin Viktoria von England.

Noch zweimal nach jenem Zusammentreffen im St. James-Park, bei dem meine Knabenphantasie zu sehr von den exotischen Gestalten ihrer Umwelt befangen war, als daß ich mehr als ein rein äußerliches Bild der »Queen« gewonnen hätte, habe ich sie später sehen dürfen. Und immer tiefer haben sich mir dabei die Züge ihres Wesens eingeprägt; ich war sehend geworden für das bis an ihr spätes Ende zielsichere und willensstarke Wirken dieser bedeutenden Frau.

Nun sollte ich ihr im Winter 1901 die letzte Ehre erweisen.

Die Königin war auf ihrem schönen Schlosse Osborne auf der Isle of Wight verschieden. In einem kleinen Raume des Schlosses, der als Kapelle ausgestaltet worden war, hatte man den Sarg aufgebaut. Die englische Kriegsflagge war über ihn hingebreitet, und sechs der größten Offiziere der Grenadiergarde standen als Trauerwache zu seinen Seiten. In ihrer prunkenden Uniform mit den hohen Bärenfellmützen, die Häupter in Schmerz um die Geschiedene gesenkt, die Hände über dem Degengriff gefaltet, behüteten sie unbeweglich, gleich erzenen Rittern, den letzten Schlaf ihrer toten Königin.

Die Überführung der Heimgegangenen nach London erfolgte an Bord der »Victoria and Albert«. Während der ganzen Überfahrt, die reichlich drei Stunden dauerte, fuhren wir durch ein doppelgliedriges Spalier von Schiffen der gesamten englischen Kriegsflotte, und all ihre Geschütze grüßten noch einmal feuernd die Königin.

Der Trauerzug durch London war von gewaltiger Wirkung.

Zu einer ergreifenden Szene kam es auch noch in Windsor auf der Fahrt nach dem Mausoleum von Frogmore Lodge. Es war ein bitter kalter Wintertag; der Zug mit den sterblichen Resten der Königin hatte mehrere Stunden Verspätung. Als die Fahrt nun ihren Fortgang nehmen sollte, verweigerten die sechs Artilleriepferde der Trauerprotze die Arbeit. Ein Stangenpferd schlug über die Deichsel, der Sarg geriet ins Schwanken und drohte von seinem Unterbau herabzustürzen. Da gab der damalige Prinz Louis von Battenberg, der Oberkommandierende der an der kritischen Wegstelle zur Spalierbildung ausgestellten Matrosendivision, einen kurzen Befehl. Im Nu waren die Pferde abgespannt, und dreihundert englische Matrosen hatten sich an Langtauen vor die Protze gespannt, die den Sarg trug.

Ruhigen Schrittes, fast unhörbar wurde die tote Königin durch ihre Matrosen zu ihrer letzten Ruhestatt übergeführt.

 

Am Frühjahr 1901 war meine Front-Leutnants-Dienstzeit beendigt. Ich sollte nun studieren und bezog – wie einstmals mein Vater – die Universität Bonn.

Die vier Semester in der alten Alma mater wurden für mich zwei schöne und reiche Jahre, ausgefüllt mit ernstem Studium und fröhlichem Studententum, umkränzt von dem ganzen Zauber rheinischer Herrlichkeit und Lebenslust.

Überlieferungsgemäß wurde ich Mitglied des Korps Borussia, doch bin ich nicht restlos und einseitig Bonner Preuße geworden, ich hatte vielmehr – was den strengen Formen des Korps eigentlich nicht ganz entsprach – auch in den anderen Korps des Bonner S.C. viele Freunde.

Mein sportliebendes Herz ließ mich mit großer Freude an den Übungen des Fechtbodens teilnehmen, den Vorbereitungen für die scharfen Mensuren. Gerne wäre ich damals selbst auch mal auf scharfe Klingen angetreten, doch mußte ich darauf verzichten, da ich schon Offizier war und damit auch für mich der Grundsatz galt, daß der Offizier nur im Ernstfalle von der Waffe Gebrauch machen dürfe. So verständlich mir auch heute noch diese damals in meinem jungen Tatendrange lebendige Lust zur scharfen Mensur ist und so wenig ich mich dem erzieherischen Werte der Mensur für Auge, Hand und Nerven verschließe, so glaube ich doch, daß unser deutsches Verbindungsstudententum zu einer Überschätzung der Mensur gelangt war. Wie in der Waffenfrage, so ist meiner Ansicht nach auch in dem Trinkkomment – für den ich selbst niemals viel Sinn besessen und dem ich mich als Student auch ungern unterworfen habe – eine Befreiung von manchen zu Auswüchsen entarteten Formen eine Forderung der neuen, härter gewordenen Zeit. Sein deutsches Vaterland in all seiner Not und Erniedrigung werktätig lieben, heißt heute: arbeiten und wieder arbeiten. Auch für unsere Jugend, die mit der Arbeit an der eigenen werdenden Persönlichkeit dem Ganzen Zukunftswerte zuführt, an denen vielleicht das Schicksal des kommenden Geschlechtes hängen wird. –

Die freien Stunden» die das Studium und das Korpsleben mir in der schönen Bonner Studentenzeit ließen, benutzte ich, um mit Menschen aus allen Kreisen des Rheinlands in Verkehr zu kommen. Dankbar habe ich so die Gastfreundschaft der Professoren-, Kaufmanns- und Industriellen-Familien angenommen, in denen ich mit echt rheinischer Herzlichkeit empfangen wurde. Für mich, der ich bis dahin vorwiegend doch nur mit Persönlichkeiten aus militärischen Kreisen in Fühlung gekommen war, ergab sich aus diesem neuen Umgange auch eine Fülle von neuen und starken Eindrücken als weiterer Zuwachs und Gewinn zu den geistigen Anregungen, die das eigentliche Studium mir bot. Diesem Studium habe ich mich mit ehrlichem Eifer hingegeben, und noch jetzt gedenke ich oft und dankbar der hervorragenden Männer, die mir dabei Leiter und Berater waren: Zitelmann, Litzmann, Gothein, Bezold, Schumacher, Clemen und Anschütz. Mit besonderer Dankbarkeit erinnere ich mich auch der geistvollen Vorlesungen des großen Staatsrechtslehrers Zorn, und noch heute verbindet mich mit diesem meinem alten Lehrer ein starkes Band des Vertrauens und der Freundschaft.

Aus dieser Berührung mit geistig hochstehenden und auf den Gebieten der Wissenschaften, der Technik, Industrie und Politik führenden Männern, wie sie mir durch die beiden Bonner Jahre gegeben wurde, erwuchs mir der Antrieb, mich von da ab mehr als bisher mit den Fragen unserer äußern und innern Politik, namentlich aber mit den Problemen der sozialen Frage zu beschäftigen.

Im Fluge, wie die Leutnants-Dienstzeit, sind auch diese beiden sonnigen Jugendjahre in Bonn dahingezogen. Sie haben mir des Guten und Wertvollen eine Überfülle geschenkt: Naturgenuß in einer Welt voll Schönheit, junges Wissen, den Zusammenhang mit erlesen klugen Menschen, rheinische Fröhlichkeit – und die Keime zu mancher Erkenntnis, die dann später im Leben zu geistigem Besitze reiften.

Auch ein paar Reisen, die ich während der Ferien (im Spätsommer von 1901 durch England und Holland) und im Anschluß an die Studienzeit zusammen mit meinem Bruder Eitel Fritz machte, haben zur Erweiterung meines Gesichtskreises beigetragen. Ich habe ihre Eindrücke jetzt mit gewecktem Geiste und aufnahmefähiger als vorher empfangen.

Plastisch und unverwischt, als trennten mich nicht so viel Jahre, sondern nur Tage oder Wochen von jenen Zusammentreffen, stehen, wenn ich dieser Reisen gedenke, vor allem zwei Gestalten vor meinen Augen: Abdul Hamid, der letzte der Sultane des alten Regimes, und Papst Leo XIII. Und seltsam ist es: so völlig bis zur Gegensätzlichkeit verschieden das äußre und innre Wesen und die Welt dieser beiden waren – sie sind für mich durch Umstände, von denen ich mich kaum zu lösen vermag, wie zu einer merkwürdigen Einheit verbunden. Vor beiden Männern, hier in all der feierlichen, von Hast und Zeit scheinbar ganz unberührten Geschlossenheit des Vatikans, und dort in einer allen Wertmaßen und Gesetzen des Abendlandes entrückten Märchenwelt, hat sich mir etwas völlig Neues, Ungeahntes aufgetan, in das ich staunend eingeschritten bin. Und beide Männer: der bedeutendste Papst seines Jahrhunderts, vor dessen durchgeistigtem Wesen ich keinen Augenblick anderes als tiefe Ehrfurcht empfunden habe, und der rücksichtslose, allmächtige Padischah, dem gegenüber ich die innere Freiheit rasch genug gewann, haben den gleichen Ausdruck der Augen gehabt. Durchdringend, klug, unendlich überlegen und erfahren blickten sie aus grauen Augen, in die das Alter scharfrandige weiße Kreise um die spitze Pupille eingezeichnet hatte.

Das Bild, das uns umfing, als wir – mein Bruder Eitel Fritz und ich – auf der englischen Yacht »Sapphire« an einem wundervollen Frühlingsmorgen vor Konstantinopel eintrafen, hatte etwas geradezu Bezauberndes, und die Vorgänge der wenigen Tage, in denen wir am Goldenen Horn zu Gaste waren, steigerten in uns den Eindruck, in einem Traum aus »Tausend und eine Nacht« zu liegen. Kurz nach unserer Ankunft im Hafen begrüßte uns im Auftrage des Sultans sein Lieblingssohn, und gegen Mittag holte uns eine Eskorte des Estrogul-Dragoner-Regiments – vorzüglich aussehende Leute auf kleinen Araberschimmeln – nach dem Yildiz-Kiosk, wo uns der Sultan an der Spitze seiner Generalität und seines Hofstaates empfing.

Abdul Hamid war eine außerordentlich fesselnde Erscheinung: klein, krummbeinig, lebhaft, der Typ des armenischen Semiten. Er war außerordentlich freundlich, ich möchte sagen väterlich gegen uns.

Wir wurden in einem sehr schönen Kiosk der riesigen Palastanlage des Yildiz untergebracht. Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir unsere Zimmer bezogen hatten, erschien der Sultan bei uns zum Gegenbesuch. Er fuhr in einem kleinen Korbwägelchen, dessen flinke Pferde er selbst lenkte, während sein gesamtes riesiges Gefolge, darunter viele alte, dicke Generale, hinter dem Wagen herlaufen mußte. Da nun der Sultan Trab fuhr und die Herrschaften hinter ihm den Anschluß an ihn keinesfalls aufgeben wollten, kam es, daß das Aussehen dieser Würdenträger bei ihrer Ankunft nicht gerade schön war.

Nach den Bestimmungen seines Landes durfte Abdul Hamid nur türkisch sprechen; hierdurch waren die Unterhaltungen mit ihm recht mühselig, da jeder Satz verdolmetscht werden mußte. Dabei verstand der alte Herr unser Französisch vollkommen, und wenn ich ihm etwa eine launige Geschichte erzählte, machte es mir besonderen Spaß, ihn herzlich lachen zu sehen – lange ehe der Dolmetsch mit todernster Miene seine Übersetzung gegeben hatte.

Am Abend sollte uns zu Ehren ein großes Diner stattfinden. Wo dieses Fest gefeiert werden sollte, wußte zunächst niemand, denn die Furcht des Sultans vor Attentaten war so groß, daß er Ort und Zeit für solche Veranstaltungen aus Vorsicht vorher niemals bekannt gab. Im letzten Augenblick erteilte er dann zur Verzweiflung seiner Hofmarschälle seine Befehle. Schließlich fand das Diner dann in einem großen Saale statt.

Der Sultan und ich saßen an einer Schmalseite der endlos langen Tafel. Die anderen Gäste, mein guter Bruder eingeschlossen, mußten mit Rechts- beziehungsweise Linksum-Front nach dem Padischah an der Tafel sitzen. An Essen war nicht viel zu denken, aber der Anblick des Sultans allein war ja für den rechtgläubigen Mohammedaner schon so gut wie Speise und Trank. Auffallend schien es mir, daß mein hoher Gastgeber eine außerordentlich dicke und schlecht sitzende Uniform trug – bis ich bei einer plötzlichen Bewegung, die er machte, wahrnahm, daß er unter der Uniform ein Kettenhemd angelegt hatte. Im Gespräch erwies er sich als außerordentlich interessiert für alle Angelegenheiten Deutschlands und als ebenso unterrichtet auf den verschiedensten Gebieten. So ging das Gespräch um das Flottenproblem, um die jüngsten Erfolge der Polarforschung, um die neuesten Erscheinungen des deutschen Büchermarktes und vor allem um militärische Fragen.

Auch die folgenden Tage verliefen überaus anregend, wir besichtigten die Sehenswürdigkeiten der Stadt und Umgebung, und der alte Herr war von einer rührenden Fürsorge für unser Wohl.

Am letzten Tage unseres Aufenthaltes lud er uns noch zu einem intimen Diner in seine Privaträume. Nur die Herren meiner Umgebung, der deutsche Botschafter und sein Lieblingssohn nahmen daran teil. Der Sultan, der Musik sehr liebte, hatte mich bitten lassen, ihm etwas auf der Violine vorzuspielen. Der Prinz begleitete mich auf dem Klavier, und so spielten wir ein Stück aus der »Cavalleria rusticana«, eine Kavatine von Raff und die »Träumerei« von Schumann. – Dann aber gab es noch eine rührende Familienszene. Ich hatte mir als Überraschung für den alten Herrn die türkische Nationalhymne mit meinem Oberstabsarzt Widenmann eingeübt. Als wir sie gespielt hatten, umarmte mich der Sultan ganz gerührt, und auf seinen Wink erschien ein Adjutant mit einem Kissen, auf dem die goldene und silberne Medaille für Kunst und Wissenschaft lagen, die mir der Beherrscher aller Osmanen an den Busen heftete.– Er zeigte uns dann noch sein Privatmuseum, in dem alle Geschenke, die seine Vorfahren und er von anderen europäischen Fürsten erhalten hatten, vereinigt waren. Es befand sich da unter reichlich vielem Kitsch auch manches schöne und wertvolle Stück. So entsinne ich mich eines Bernsteinschrankes, den Friedrich Wilhelm I. gestiftet hatte.

Diese Begegnung mit dem alten Abdul Hamid ist für mich eines der interessantesten Zusammentreffen unter meinen Berührungen mit fremden Fürsten geblieben.


Weiter geht der Weg.

Ich war nun über einundzwanzig Jahre alt und nahm mit der Ernennung zum Kompaniechef der 2. Kompanie des 1. Garde-Regiments zu Fuß den Dienst wiederum auf. Mit voller Befriedigung erfüllte mich die reichliche Arbeit in dieser verantwortlichen Stellung, die ich dann zweiundeinhalb Jahre innegehabt habe.

Daß mir gerade die 2. Kompanie anvertraut wurde, erfüllte mich mit ganz besonderer Freude, denn ich kannte alle meine Unteroffiziere von meiner Leutnantszeit her genau.

Die Kompanie-, Eskadrons-, Batterie-Chefs und die Regimentskommandeure bilden insofern das Rückgrat der Armee, als in ihrem Pflichtenkreis der Wert der einzelnen Persönlichkeit als Leiter und Erzieher voll zur Wirkung kommen kann. Aber nicht viel geringer als die persönliche Bedeutung des Chefs muß in der Kompanie die Persönlichkeit der »Kompaniemutter«, des Feldwebels, gewertet werden. Der meinige, Feldwebel Wergin, war ein hingebend pflichttreuer Mann, der allen anderen zum Beispiel wurde. Von früh bis spät galten seine Gedanken nur dem Königlich Preußischen Dienst, und dabei war er rastlos um das Wohl seiner einhundertzwanzig Grenadiere besorgt.

An sich hatten wir Hauptleute im 1. Garde-Regiment leichte und dankbare Arbeit. Das Unteroffizierkorps war voll besetzt und bestand aus durchweg sehr tüchtigen Männern, das alljährliche Rekrutenmaterial war vorzüglich. Lauter wohlerzogene junge Leute, von denen viele bereits in der vierten Generation beim Regiment oder gar bei derselben Kompanie dienten. Hingegen lag eine gewisse Schwierigkeit bei unserer Garde in der körperlichen Größe der Mannschaften. Da waren viele nicht im Verhältnis zu ihrer Länge auch in die Breite gegangen, und es wurde mit großer Sorgfalt darauf geachtet, daß gerade solche Leute im Anfange nicht überanstrengt würden. Meine langen Grenadiere konnten übrigens unglaublich viel essen! Besonderen Wert legte ich bei meiner Kompanie und auch später bei mir unterstellten Truppen auf Strammheit und Disziplin. Unsere Griffe im ganzen und die geschlossenen Bewegungen konnten sich sehen lassen, und die Grenadiere selbst waren stolz auf ihre tadellose Form.

Meine allgemeinen Grundsätze waren: Wenig Dienst, den aber energisch. Im übrigen die Leute nach Möglichkeit in Ruhe lassen. Viel Urlaub, Fröhlichkeit in der Kaserne, Ausflüge, Besichtigung der Sehenswürdigkeiten in Stadt und Umgebung, auch gelegentlichen Theaterbesuch. – Dabei ist es mir zu meiner Freude stets geglückt, mit einer Mindestanwendung von Disziplinarstrafen auszukommen. Meine Leute wußten sehr bald, daß ihr Kompaniechef mehr darunter litt, wenn er einen von ihnen bestrafen mußte, als der Betroffene. Ich suchte sie bei ihrem Ehrgefühl zu packen, und das brachte fast immer Erfolg.

Natürlich ist mit dem bisher Gesagten das Pflicht- und Arbeitsgebiet des Kompaniechefs keineswegs erschöpft. Er muß auch abseits von allen Fragen des Dienstes, rein menschlich ein rechter Vater seiner Soldaten sein. Er muß jeden einzelnen genau kennen und wissen, wo ihn der Schuh drückt. Gerade diese Seite des Offiziersberufes hat mir die größte Freude gemacht, und ihre Pflege hat mir das Zutrauen und die Anhänglichkeit jedes einzelnen meiner Grenadiere gewonnen. Mit allen ihren kleinen und großen Sorgen kamen sie zu mir, und in diesem festen und ehrlichen Vertrauen meiner Leute fühlte ich mich froh. Prächtige, liebe deutsche Jungen sind so durch meine Hände gegangen! Manch einen habe ich nachher im Kriege wiedergetroffen – manch einer ruht jetzt in fremder Erde, getreu dem Helmbandspruch unseres 1. Bataillons: Semper talis. –

Trotz dieser starken und leidenschaftlichen Hingabe an meinen Dienst im 1. Garde-Regiment, in dem ich auch meine beiden ehemaligen Adjutanten und späteren Kammerherren, den gewissenhaften Stülpnagel und den getreuen Behr, näher kennen lernte, bin ich auch während dieser Jahre nicht – oder nicht mehr – einseitig Soldat gewesen. Die Bonner Anregungen haben weiter gewirkt, und die lebendigen Fragen der Politik, des Wirtschaftslebens, der Kunst und Technik haben mich in den freien Stunden mehr noch beschäftigt als in den Jahren, in denen mir der Sinn für sie erschlossen worden war.

Hatte ich noch in meinem Leutnantsjahre alles, was mir an Hoffesten entgegenwuchs, mit einer gewissen interessierten Neugier mitgemacht und angesehen, so begann nun mit der reifenden Kritik eine immer schärfere Abneigung gegen das Pomphafte dieser Feste in mir zu werden. Die allzu häufige Repräsentation, wie sie hierbei in starrer Form aufrecht gehalten wurde, erschien mir oft genug als ein leerer, fast peinlich wirkender Anachronismus. Wie viele tief vorwurfsvolle oder sanft mahnende Blicke aus den Augen in ihren heiligsten Gefühlen getroffener Hofmarschälle habe ich so nicht geerntet! Aber auch hier (wie auf so manchem anderen Gebiete) hat mich die Übertriebenheit des Abgezirkelten, »Erhabenen«, Erstarrten erst recht zu einer augenfälligen Nonchalance gereizt. Gar nicht immer mit Willen – oft genug unwillkürlich, so als müsse sich hier eine Reaktion gegen eine mir wesensfremde Aufmachung von selbst erfüllen.

Hoffeste! Dabei fällt mir einer ein, für den und für dessen Kunst ich stets die tiefste, bewundernde Verehrung hatte, und den ich doch niemals ohne ein gutes Lächeln und Behagen auf diesen Festen sehen konnte: Adolf Menzel.

Meist war seinem Erscheinen schon eine Tragödie, die in seinem Haufe und auf der Fahrt nach dem Schlosse spielte, vorangegangen, denn er war in die Arbeit immer so sehr vertieft, daß er am Ende, trotz aller Eile bei der Toilette, zu spät ankam. In seinen letzten Jahren wurde schon stets ein Adjutant meines Vaters entsandt, der den alten Herrn in seiner Wohnung abholen und häufig genug noch anziehen helfen mußte. Half nichts – zu spät kam er doch.

Unvergeßlich ist er mir, wie ich ihn beim Fest vom Schwarzen Adlerorden sah. Die Ritter dieses hohen Ordens trugen an diesem Tage den großen roten Sammetmantel mit der Kette. Der kleine Mann, dem keiner von den Mänteln passen wollte, lag nun in einem dauernden und wilden Kampf mit seiner Schleppe und blickte dazu mit den sprechend funkelnden Augen zornig blitzend aus seinen Brillengläsern. – Am Schluß der Feierlichkeit war es üblich, daß die Ritter zu zweit am Throne vorbeischritten, um, nachdem sie dort ihre Verbeugung vor dem Kaiser gemacht hatten, den Saal zu verlassen. Nach der Rangordnung traf es sich stets so, daß der zwerghaft kleine Menzel mit dem überlebensgroßen Hausminister von Wedel zusammengehen mußte. Wenn nun dieses ungleiche Paar ehrfürchtig vor dem Throne stand, so war das an sich schon ein Bild, das gute, warme Heiterkeiten in der Seele wecken konnte. Es fand noch eine Steigerung, wenn in dem alten Menzel in diesem Augenblick der Künstler erwachte. Er schien dann völlig zu vergessen, wo er war, und ich habe es mit angesehen, wie er plötzlich, nach kurzem Kopfrucken, die Arme in die Seiten stemmte und, völlig von dem malerischen Eindrücke befangen, meinen Vater lange und eindringlich fixierte. – Der alte Wedel hatte mittlerweile seine Verbeugung längst korrekt abgeliefert, war im Abmarsch begriffen und bemerkte nun zu seinem Schrecken, daß sein Partner noch immer vor dem Throne stand.

Ich weiß nicht, was mir in dem Augenblicke die größere Freude machte: das ratlose, entgeisterte Gesicht des Hausministers, der sich da durch den kleinen Mann in einen unerhörten Bruch von Tradition und Etikette hineingezogen fühlte, oder der kleine Meister, der den Kopf bald rechts, bald links ruckte und unbekümmert um die anderen nach ihm, die nun doch schon auf das Plätzchen vor dem Throne lauerten, auf den Kaiser starrte. Endlich faßte Wedel sich ein Herz und zupfte Menzel fest am Ärmel. Die Störung aber nahm der scheinbar recht cholerische Meister bitter übel. Wenn ein Blick fauchen kann vor Wut, dann war es dieser, den er jetzt mit zurückgeworfenem Kopf bis in die Augenhöhe seines langen Partners stieß. Dann aber griff er in die Schleppe und stolperte zornig, beleidigt aus dem Saal. Das war, als dächte er: Nee – so'n Fest, wo man sich nicht 'mal seine Leute ein wenig ansehen darf – –!

Zahllose Male habe ich auf Hoffesten bei ihm gestanden und mit ihm geplaudert. Er war voll trockenen Witzes, voll Sarkasmus und Kritik. Nichts entging seinem scharfen Blick, und da man nach und nach daran gewöhnt war, bei ihm von allzu strengen und sicher auch fruchtlosen Einordnungsbestrebungen abzusehen, so fühlte er sich als eine Art überlegener Outsider vielleicht auch leidlich wohl in seiner Sonderstellung, die ihm ja in der Tat manche künstlerische Anregung bringen mochte.

Ich für mein Teil konnte, wie schon erwähnt, an dem Gepränge solcher Feste, auf denen jeder doch vor allem seine eigene Eitelkeit spazieren führte, sehr bald schon keine Freude mehr empfinden. Ich fand den starren Mechanismus ihres Betriebes öde, und ihr steifer Prunk erschien mir als ein Mosaikbild aus tausend kleinen Eitelkeiten und Farbstufungen von Wichtigtuereien. Daß repräsentative Feste eine gewisse Förmlichkeit nicht ganz entbehren können, empfand ich dabei wohl, aber mir schien, daß sie zugleich vom Wesen einer inneren Freiheit belebt sein müßten – und davon war hier wenig zu spüren.

Mehr als diese höfischen » shows« hat mir der freie, ungezwungene Verkehr mit tüchtigen Menschen aller Art, mit Künstlern, Schriftstellern, Sportsleuten, Kaufleuten und Industriellen an Anregung gegeben. Dazu habe ich als Sportsfreund und Jäger auch dem Körper sein Teil froher Arbeit zukommen lassen.

Als eine ärgerliche Fessel habe ich es bei all dem damals schon empfunden, daß ich als Prinz dauernd Rücksichten nehmen mußte, bei allem und jedem, was ich unternahm, von Menschen umgeben war, die mir – sicher aus bester Absicht, aber zu meiner Qual – immer wieder ihre beiden Sprüchlein, eines um das andere, hersagten: »– das dürfen Kaiserliche Hoheit nicht tun –«, »jetzt müssen Kaiserliche Hoheit das tun –«. Abwehr dieser Versuche, das Tun und Lassen eines freien Menschen in ein verstaubtes Schema einzuspannen, stieß nicht gerade auf Verständnis. Am besten also schon, man ließ sie reden und tat am Ende das, was einem einfach und natürlich schien.

Nur ein Mensch hat auch in diesen Fragen Sinn gehabt für meine Beengtheit und Verstehen für meinen Drang, weniger »Kronprinz«, mehr ein mitlebender und miterlebender Mensch zu sein: meine geliebte Mutter. Und immer wieder, wenn ich in solchen Aussprachen mit ihr zusammensaß, habe ich es empfunden, wie viel von ihrem Wesen auf mich gekommen ist – nur daß in meinem Blute sich männlich wehrte, was sich in ihr am Ende anpaßte und zur Ruhe fand. Zu diesem sich zum Frieden Finden hat sie aus der tiefen Religiosität ihres Wesens sicher eine starke, nie versagende Kraft geschöpft.

Aus dieser streng religiösen Lebensanschauung und Ethik ist auch ihr dringender Wunsch zu erklären, daß wir Söhne »rein«, unberührt von Erlebnissen mit anderen Frauen in die Ehe treten sollten. Diesem Ziele wurde von ihr und von unserer dahin verständigten Umgebung durch möglichstes Fernhalten jeder Persönlichkeit, die uns etwa vom geraden Pfade der Tugend hätte locken können, nachgestrebt. – Meine Mutter war bei ihrem Denken und Wollen sicher von der besten Absicht auch für uns und unser sittliches und physisches Heil geleitet, und ich für mein Teil mußte sie – was auch für Unsinn über mich früh schon verbreitet wurde – nicht allzusehr enttäuschen. Trotzdem glaube ich nicht, daß aus diesem theoretisch so schönen Grundsatz in Wahrheit viel Segen liegt. Mir will vielmehr eine übertriebene Eindämmung und Absperrung auch aus diesem Gebiete als Unnatur erscheinen, und ich möchte, rückschauend, heute sogar annehmen, daß die letzte Wurzel mancher Irrung, die in den Ehen fürstlicher Familien vorgekommen ist, in dieser fanatischen Fernhaltung alles weiblichen Umganges zu einer Zeit, in der gesunde Jugend sich geben und erlösen will, ruht.


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