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Juli 1919.

Jetzt ziehen klare Hochsommertage über die Insel, auf der ich nun seit rund dreiviertel Jahren lebe.

Dreiviertel Jahre, in denen mir der eng umgrenzte Raum und seine Menschen lieb geworden sind, in denen mir die große Stille und der Himmel und die See, die Abgeschiedenheit und Weltenferne manches gegeben haben, was ich vorher nicht besessen habe. Wandlungen und Reifen im eigenen Wesen – Wandlungen im Sehen und Erkennen der Dinge, die hinter mir liegen, die um mich spielen und die kommen mögen. Kein tatloses Träumen, denn mein Tag ist ausgefüllt vom frühen Morgen bis zum Abend und gehört wie auch jetzt und heute meinen Briefen, meinen Aufzeichnungen, der Lektüre, der Musik, dem Zeichnen, dem Sport.

Ich bin auch nicht unglücklich in meiner Einsamkeit und glaube beinahe, das liegt an all dem unerstickten Schaffenwollen, das noch unerlöst in mir ist und trotz allem auf die Zukunft hofft. Auf eine Zukunft, die mir irgendwie die Möglichkeit wieder erschließen soll, als Deutscher für das deutsche Vaterland zu wirken.

Sorgen wegen der schwebenden Auslieferungswünsche der Entente? Danach fragen die Briefe guter Menschen aus der Heimat immer wieder. Und ich kann ihnen nur immer wieder sagen: Nein, darum ist mir wirklich kein graues Haar gewachsen.

Sehnsüchtig bin ich – nach der Heimat – nach meiner Frau, nach meinen Kindern. Oft plötzlich fällt das über mich her, kommt durch irgend ein zufällig gefallenes Wort, durch eine Erinnerung, ein Bild. Letzthin einmal, wie ich des Abends noch die Geige vorholte und ein wenig spielen wollte, ging's einfach nicht, so jäh kam das da über mich.

Und dann nachts. Die Fenster sind weit offen, und man hört das ferne Rauschen der See und manchmal das dumpfe Röhren und Brüllen der Tiere auf den Weidekoppeln. Bei Heinrich Heine steht es irgendwo: »Denk' ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um meinen Schlaf gebracht.«

In diesen hingegangenen letzten Junitagen kam die Nachricht, daß das Versailler Diktat unterzeichnet ist. Der Friedensvertrag – das Wort will mir kaum aus der Feder, angesichts dieser Zuchtrute, die blinde Rachsucht uns da gebunden hat, angesichts dieses dicht verfilzten Netzwerkes aus Ketten, in das jetzt unser armes Vaterland geschlagen ist. Maßlose Forderungen, die auch für den besten Willen unerfüllbar sind, brutale Drohungen, die hinter jedes Versagen der Kräfte den Würgegriff stellen. Zu all dem eine Dummheit ohne Beispiel – ein Dokument, das Krieg und Haß und Bitterkeit verewigt, wo nur Befreiung von dem Drucke der versunkenen Jahre und neuer Glaube an einander die Völker zu einer neuen friedlich aufbauenden Gemeinschaft führen können.

So bleibt nur der Glaube an die tausendfach bewährte Tatkraft und Tüchtigkeit des deutschen Menschen, der, wenn ihn auch ein grausames Geschick durch Dunkel und durch Tiefen führte, den Weg nach oben und zum Lichte immer wieder fand – und bleibt die große Wahrheit alles Weltgeschehens, daß Aberwitz am Ende aus sich selbst heraus zersplittert.

Arm geht das deutsche Vaterland und geht das deutsche Volk in seine nächste Zukunft. Mit Kolonien, Landesteilen und Schiffen hat ihm der wüste Raubvertrag, der auf der Kriegsschuldfrage als auf einer ungeheuren Lüge ruht, die Weltgeltung entrissen. Werkstätten hat er ihm zerschlagen, geistige Errungenschaften entreißt er ihm, aus dem Mitbewerb auf weiten Schaffensgebieten schaltet er es gewaltsam aus. Bitterste Erniedrigungen bereitet er ihm, will es in unversöhntem Haß, in unerloschener Angst erdrücken und vertilgen.

Trotz alledem: unser Vaterland wird bestehen, und es wird wieder blühen, wenn man von diesem aufgezwungenen Pakt dereinst nicht anders als von einem verächtlichen Schandmale vergangener Zeiten reden wird. –

Ruhe möchte ich der Heimat gönnen, den inneren Frieden, in dem das Land sich wieder finden, in dem dieses durch unerhörte Opfer, Hingaben und Schicksalsschläge verbrauchte, krank gewordene Erdreich wieder gesunden und erstarken kann. Mit schaffen möchte ich an seiner neuen Zeit!

Und kann als einzigen Dienst an meine Heimat nur abseits stehen und diese Verbannung weiter auf mich nehmen.

 

Tiefer als jeder vorhergegangene Zeitabschnitt hat mich die kurze Spanne, in der ich mit der Stellvertretung des Kaisers betraut war, in das Triebwerk seiner technischen Regierungsarbeit, seiner Information durch die verschiedenen Dienststellen, seine Zeitdisposition schauen lassen. Und obwohl ich die äußeren Umrisse dieses Mechanismus doch durch eine jahrelange beiläufige Beobachtung leidlich gut kannte, hat mich – wie ich mich deutlich noch erinnere – der nahe Einblick in die innere Struktur damals tief betroffen gemacht. Wenn ich auch hierüber rückhaltlos offen spreche, so mag dieser Umstand schon erkennen lassen, daß ich nicht meinen Vater für den letzten Endes allein verantwortlichen Schuldigen an diesen Zuständen halte. Der Kaiser ist hinter seiner repräsentativen Form im Grunde eine schlichte Natur gewesen, und wenn er diese Auswüchse um sich her werden ließ und duldete, so wurzelt sein Schuldanteil nur in seiner auf eine überkommene Auffassung der königlichen Würde gerichteten Erziehung und mehr noch in einer in seiner Natur liegenden Zugänglichkeit für Arrangements seiner Umwelt, in dem Verzicht darauf, das Schlichte und Gerade, das seinem tiefsten Wesen vielleicht besser entsprochen hätte, durchzusetzen. Da hatte sich nach und nach durch die Überwilligkeit seiner Umgebung für kleine und kleinste Handlungen ein weitläufiges Zeremoniell herausgebildet, das den einfachsten Vorgängen die Natürlichkeit nahm, das jedes Steinchen, an dem sein Fuß sich etwa hätte stoßen können, aus seinem Wege räumte und jeden seinem Ohre vielleicht unerwünschten Laut im Werden erdrosseln wollte. Das entwöhnte in seiner jahrzehntelangen Übung den Kaiser mehr und mehr von der Fähigkeit, der rauhen Wirklichkeit fest und mit zäher Ausdauer entgegenzutreten.

Wie aber soll ein Mann, der es schließlich als selbstverständlich nimmt, daß man ihm vor jeden Schritt seines Fußes einen Teppich breite, bestehen, wenn er plötzlich vor wirklich ernsthafte Konflikte gestellt ist, in denen ihm allein die eigene zielsichere Entschlußkraft helfen kann?

Der Begriff der Zeit schien bei repräsentativen Fragen keine Rolle zu spielen – aber sie fehlte, während sie hier vertan wurde, dann doch nur allzuoft, wenn wichtige Fragen eine ernsthafte und ruhige Beratung verlangten.

Es war – und das galt ebenso für manchen Minister oder Staatssekretär wie für mich selbst – bisweilen geradezu ein Kunststück, die schützende Mauer von eifrigen Herren, die Seine Majestät vor »Belästigungen« mit ärgerlichen Angelegenheiten, vor Überbürdung und Verstimmung bewahren wollten, zu durchbrechen. War das gelungen, dann war man noch lange nicht am Ziel – und ich erinnere mich mancher Fälle, in denen irgend eine Exzellenz, die ausgezogen war, um dem Kaiser Vortrag über eine bestimmte brennende Frage zu halten, wohl mit dem guten Eindruck von der Lebhaftigkeit, Frische und Mitteilsamkeit Seiner Majestät, vielleicht auch bereichert in seinem Wissen über irgend ein Gebiet der Forschungen oder der Technik, aber ohne seinen eigenen Drang losgeworden zu sein, wieder nach Hause strebte. Wer nicht mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit seinen Vortrag durchsetzte, dem konnte es geschehen, daß er statt dessen einen Vortrag des Kaisers über das gleiche Stoffgebiet erhielt, daß er sich so von vornherein vor vorgefaßten Ansichten sah – und aus der Besprechung verabschiedet war, ehe er auch nur dazu kommen konnte, seinen besonderen Standpunkt zu entwickeln. –

Ich habe an anderer Stelle schon angedeutet, daß ein Filtrat der öffentlichen Meinung in Form von in der Reichskanzlei zusammengestellten Presseausschnitten dem Kaiser zugänglich gemacht wurde. Die Redaktion dieses Materials schien mir zu sehr von dem Wunsche auszugehen, Unerfreuliches oder gar Bedrohliches auszuschalten, mehr angenehm als tief zu sein. Manches, was, wenn es auch nicht eben erfreulich zu lesen war, doch unbedingt vor die Augen des Kaisers gehört hätte, bekam er so nie zu sehen. Auf einem auf ähnlichen Gedankengängen errichteten Niveau bewegten sich vielfach die für den Kaiser bestimmten Gesandtschafts- und Konsiliarberichte. Es waren häufig nur mehr oder weniger amüsante Plaudereien und Feuilletons – nicht mehr. Als diese »politischen Berichte« im Jahre 1908 durch meine Hände gingen, vermißte ich nur zu oft die Klarheit in der Beurteilung der Lage, fest umrissene Bilder, positive Vorschläge!

Eine günstige Ausnahme unter den einlaufenden Mitteilungen der Mehrzahl unserer Auslandsvertreter machten die Berichte der Seeoffiziere, der Kommandanten. In ihnen zeigte sich das an breiter Weltkenntnis geschulte Auge, die Fähigkeit, die Dinge in ihrer richtigen Abschätzung am Maße der Gesamtlage zu sehen, erfahrene Ruhe und sachliche Kritik. Auch Anregungen von Umsicht und Weitblick sind ihnen zu danken.

Ich habe meine Ansichten über die hier gestreiften Fragen damals und später noch oft vor meinem Vater ebenso wie vor den in Frage kommenden Dienststellen zum Ausdruck gebracht.

 


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