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August 1919.

Die Tage haben mir wieder ein paar liebe Besuche aus der Heimat gebracht – vor allem den vortrefflichen Major Beck, mit dem mich so viel gemeinsames schweres Erleben bei der Heeresgruppe verbindet. In Stunden und wieder Stunden sind da auf langen Spaziergängen und beim Beieinandersitzen, in Worten und im Schweigen, die versunkenen Zeiten des ungeheuren Ringens wieder vor mir lebendig geworden. Namentlich die letzte Qual, die nach unserem Mißlingen vor Reims gekommen war – das unaufhaltsame Zerbröckeln von Kraft und Zuversicht – und dann das Ende.

Auch ein paar holländische Familien haben mich aufgesucht, und Ilsemann aus Amerongen war bei mir und mußte mir vor allem von meiner lieben Mutter viel erzählen. Sie leidet schwer, ist körperlich erkrankt und gibt sich doch nicht nach, kennt nur einen Gedanken: meines Vaters und unser aller Wohl, hat nur einen Wunsch: uns leichter zu machen, was wir tragen müssen.

Aber der beste Besuch steht noch bevor: meine Frau und die Kinder sollen für eine kurze Weile zu mir auf die Insel kommen! Wie wir es bei der Enge und dem Mangel an jeder Bequemlichkeit hier schaffen wollen, weiß ich selbst noch nicht – aber es wird schon werden. Rührend, wie auf die bloße Erzählung hin, daß ich Frau und Kinder bald hier zu sehen hoffe, die Hilfsbereitschaft mir überall entgegenkommt. Nicht nur auf der Insel, wo sie mich ja jetzt alle gerne mögen und wo die friesische Zurückhaltung längst einer herzlichen Anteilnahme an meinen Freuden oder Leiden gewichen ist, auch drüben auf dem festen Lande.

Dieser Tage will Müldner, mein unermüdlicher und getreuer Kamerad in dieser Einsamkeit, auf ein paar Tage nach Amsterdam, um Besorgungen und Einkäufe zu machen. Tapeten sollen in ein Zimmer, allerlei Hausrat muß ergänzt werden, und Amsterdamer Freunde wollen fehlende Möbel leihen. Die Pastorie soll sich verschönen – so wie sie jetzt noch ist, wäre es kaum möglich, eine Dame aufzunehmen. Meine prächtigen Leute arbeiten fieberhaft.

 

Doch ich will zu meiner Darstellung zurückkehren! Bei Erinnerungen über unsere äußere Politik in den Vorkriegsjahren war ich stehen geblieben. In unmittelbarem Zusammenhange mit ihr stand die innere. Auch hier litten wir immer wieder unter dem gleichen Mangel an Stetigkeit, Festigkeit und Weitblick. Man ging mit dem Blick auf den Tag und nicht mit dem Blick auf die Zukunft. So kam es auch hier zu halben Maßnahmen und zur Verstimmung aller.

Seitdem ich angefangen habe, politisch zu denken, hat sich in mir immer entschiedener die Auffassung gestärkt, daß für unsere innere Politik eine gesunde Entwicklung in liberalerer Richtung die gegebene Linie sei. Daß man heute nicht mehr mit den Grundsätzen Friedrichs des Großen und noch weniger mit einer leeren, seiner Art äußerlich nachstrebenden Geste regieren dürfe, war mir durchaus klar. Ebensowenig aber konnte ich mich mit der dauernd nachgiebigen, meist verspäteten Weise, mit der liberale Reformen bei uns durchgeführt wurden, befreunden. Die beinahe zum System gewordene Art, erst zu verweigern, dann gezwungen einen Teil zu geben, schien mir bedenklich und gefährlich. Eine vorausschauende, rechtzeitig einsetzende und in liberaler Richtung bewegte Politik hätte es erreichen müssen, uferlosen Wünschen, von welcher Partei immer sie kommen mochten, einen Damm zu setzen und damit eine gerechte Balance der Kräfte zum Wohle des Ganzen zu erhalten. Eine solche Regierung würde auch mit einer gewissen Stetigkeit der Gruppierungen haben rechnen können. Nach dem Zerfalle des Bülowschen Blockes aber – der an sich gewiß keine Naturschönheit von besonderem Anreiz gewesen ist – bestand die letzte Weisheit der »über den Parteien« schwebenden Bethmannschen Regierungspolitik nur noch in einer krampfhaften Majoritätsbildung von Fall zu Fall und in einer Verstimmung wechselnder Minoritäten.

Die Sozialdemokratie als Vertreterin großer Teile der von Parteiorganisationen straff zusammengefaßten Arbeiterschaft mußte, soweit ihre politischen und wirtschaftlichen Bestrebungen sich irgend in das auf Grund seines geschichtlichen Bestandes weiter zu entwickelnde Staatswesen einordnen ließen, unbedingt und ohne Verkennung oder drosselnde Beschränkung des Möglichen berücksichtigt werden – aber die Regierung brauchte und durfte sich trotzdem von ihr nicht in allen Unternehmungen treiben und drängen lassen. In dem ideologischen Bestreben, die Sozialdemokratie von dem Boden der Negation zur positiven Mitarbeit heranzuziehen, und in Verkennung des Umstandes, daß die Sozialdemokratie jener Jahre an ein Aufgeben ihrer Oppositionspolitik im Rahmen der damals bestehenden Verfassung aus rein taktischen Gründen nicht herangehen wollte, hat die Bethmannsche Regierung sich von der außerordentlich geschickt geführten, innerlich gut disziplinierten Partei über Bedarf ausnützen und schwächen lassen. Auf die übrigen Parteien wurde nur wenig Rücksicht genommen. Ganz hinweggegangen wurde dabei über die Tatsache, daß in dem damaligen Deutschland doch ohnehin schon die soziale Gesetzgebung und Arbeiterfürsorge in ihrem humanen und fortschrittlichen Geist turmhoch über allen Maßnahmen dieser Art in anderen Ländern stand und daß dieses große Werk unter eifrigster Förderung durch den Kaiser entstanden war. Unklar, wechselnd und nahezu immer an der unrichtigen Stelle hart oder nachgiebig, wie in der Stellung zur Opposition, war die Politik der Regierung auch in der polnischen und elsaß-lothringischen Frage.

An einer wirtschaftlichen Mobilmachung für den Fall eines Krieges wurde von seiten der Regierung überhaupt nicht gearbeitet, trotzdem doch kein Zweifel darüber bestehen konnte, daß England bei Kriegsausbruch sofort versuchen werde, uns von jedem Überseeverkehr abzusperren, und daß wir damit in bezug auf Nahrungsmittel und Rohstoffe aller Art auf die Eigenproduktion und etwaige Bestände angewiesen sein würden.

Der einzige Mann der Regierung, bei dem ich, wie in allen Problemen der äußeren Politik, so auch bei diesen Fragen der inneren Angelegenheiten Verständnis für meine Sorgen und Befürchtungen fand, war Admiral von Tirpitz.

Ich habe seit dem Juli 1909, in dem Herr von Bethmann Hollweg die Nachfolge des Fürsten Bülow antrat, in den acht Jahren seiner Kanzlerschaft zu vielen Malen Gelegenheit gehabt und Anlaß gesucht, mich mit ihm über die Stellungnahme der Regierung nach außen wie nach innen auszusprechen. Im gleichen Satze, in dem ich hier niederschreibe, daß ich ihn stets als durchaus anständig denkenden und handelnden, hochehrenwerten Mann erkennen lernte, möchte ich aussprechen, daß wir keine Freunde gewesen sind und daß zwischen unserer geistigen Wesensart eine unüberbrückbare Kluft lag. Da stand auf einer Stelle, an die wir den Besten, Kühnsten, Weitestblickenden und Weisesten uns hätten wünschen müssen, ein Bureaukrat, dessen Seele voll Schwerblütigkeit und Unentschlossenheit war, dessen Geist in einer müden Resignation von Weltbürgertum und einem stillen Hinnehmen von unabänderlichen Entwicklungen träumte. Die Leute haben ihn gern einen Philosophen genannt: den Philosophen von Hohensinow. Ich habe Spuren einer Weltweisheit in dem matten Wesen dieses nur allzuleicht in tatlosen Fatalismus verfallenden Mannes, der jeden Aufstieg selbst mit dem Schlagworte von der »gottgewollten Abhängigkeit« umgrenzte, nie zu entdecken vermocht. Sein bedenkliches Herz hatte keine Flügel, sein Wille war freudlos, sein Entschluß war lahm.

Dieser in seinen Entschlüssen ewig schwankende Mann, der sich bedrängt fühlte, wenn er mit Naturen von frischerer Farbe in Berührung kam, war sicher nicht die Persönlichkeit, die geeignet war, die deutsche Politik in den Vorkriegsjahren und gar während der drei ersten Jahre des Krieges gegen jene auf zähen Willen, gesammelte Kraft und rücksichtslose Tat gerichteten schlagfertigen Männer zu vertreten, die England und Frankreich als Exponenten ihrer Macht aufgestellt hatten.

Viele sehr urteilsfähige Leute erzählten mir schon in jener Zeit meiner informatorischen Beschäftigung, daß man mit Bethmann sehr gut diskutieren könne – das Unbefriedigende sei nur, daß man dabei niemals zu einem schlüssigen Ergebnis komme. Denn wie auch endlich eine scheinbar endgültige Fassung lauten möge – er habe dann nach einigem Sinnen doch noch einen Satz zu sagen, und der beginne mit dem Worte »immerhin –«. Dieses »immerhin« steht mir gleich wie ein Motto über Herrn von Bethmann Hollwegs politischem Werk.

Zu einer richtigen Demonstration gegen ihn vor aller Öffentlichkeit habe ich mich ein einziges Mal hinreißen lassen, und ich gebe gerne zu, daß diese öffentliche Äußerung meiner Ansicht besser unterblieben wäre. Man wird sich erinnern, daß ich damals in der Reichstagssitzung des 9. November 1911 meinem Beifall zu den Reden gegen Herrn von Bethmanns und von Kiderlen-Wächters erst herausfordernde, dann wieder den Rückzug antretende Marokko-Politik, die uns einen schweren diplomatischen Echec eingetragen hatte, deutlich Ausdruck gab. Man hat mich damals in der linksstehenden Presse eilig als Sturmbock überspannter alldeutscher, auf den Krieg hinzielender Ideen affichiert. Nein doch: die Dinge lagen anders! Mir war die »drastische Methode« Kiderlens, das Provozieren, wie es durch die Sendung des »Panther« nach Agadir zum Ausdruck gekommen war, gleich unsympathisch wie das eilige Zurückweichen nach der Drohrede des Lloyd George im Mansion House – denn beides waren Zeugnisse der tastenden Unsicherheit unserer Führung, die nicht ermaß, wie sehr der erste Schritt die Mentalitäten der Gegenseite treffen, wie sehr der zweite unser eigenes Prestige vor der Welt beeinträchtigen mußte. So kam ich aus dem Gefühle, daß die politische Spannung bis auf Manometer neunundneunzig gestiegen war, an jenem 9. November 1911 zu meiner spontanen Akklamation jener Reden, die sich geißelnd gegen die schwächliche und schwankende Politik der Regierung wandten.

Wie doch der Zufall spielt: wieder ein 9. November, der in dem Merkbuche meiner Erinnerung steht! Drei Jahre nach dem großen Reichstagssturm um jenes Kaiser-Interview des Daily Telegraph – und auf den Tag sieben Jahre vor dem letzten Akte des Niederbruches in Berlin und Spa!

Zu einer Aussprache über den Vorgang ist es bald genug gekommen. Am gleichen Abend noch.

Zunächst hat Seine Majestät mich verwarnt. Gut.

Dann habe ich meinem Herzen Luft gemacht und alles das von mir geladen, was ich an Sorgen für die Zukunft, an Wünschen nach Abstellung einer von Unzulänglichkeit geführten Politik in mir getragen habe. Ganz ohne Rückhalt habe ich gesprochen – und nur wieder bemerken müssen, daß der Kaiser nicht zuhören konnte.

Schließlich haben wir wenig unterhaltsam bei Tisch gesessen.

Und dann hat Bethmann, der sich bei all dem wieder höchst achtenswert und sachlich gab, mir, dem »Frondeur«, auf Wunsch Seiner Majestät und in dessen Gegenwart einen ausführlichen Vortrag gehalten, der mich nicht überzeugen konnte. –

Politik, auch große Politik ist keine Geheimwissenschaft. Die Zeiten, in denen sie mit Metternichschen Kniffen betrieben werden durfte, sind endgültig überholt. Sie kann heute auf Aperçus der Rede und kann auf das Jabot des Wiener Kongresses so gut wie auf das Monokel einer jüngeren Entwicklungsepoche verzichten. Aber ein paar andere Werte setzt sie neben allem Selbstverständlichen, Erlernbaren voraus: Gesunden, praktischen Verstand, der alle Probleme in ihrer Reduktion auf die einfachste Formel erfaßt, Menschenkenntnis gegenüber dem Einzelnen und Blick für die allgemeine Geistesverfassung der Völker, mit denen sie zu rechnen hat.

Keine von diesen Eigenschaften hat Herr von Bethmann, der übrigens das Ausland kaum kannte, besessen. Und weder Kiderlen-Wächter noch der Staatssekretär von Jagow waren die Männer, um dieses Manko durch ihre geistige Mitgift auszugleichen.

Wohl gab es auch in unserer Diplomatie Männer anderen Formats, die großzügig dachten und klar sahen, aber man war zufrieden, sie auf Auslandsposten zu wissen, von wo ihre Stimme zwar gehört wurde, aber ihr Einfluß auf die Führung der auswärtigen Politik doch nur sehr gering sein konnte. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß Männer wie Wangenheim und Marschall oder auch Monts und Metternich es verstanden hätten, unsere auswärtige Politik in eine richtige und stetige Bahn zu lenken.

Gerade Herr von Kiderlen wurde von Bethmann gerne als das große politische Licht aus dem Osten gepriesen. Ich selbst mochte den erfreulich natürlichen, tapferen Schwaben trotz seines Panthersprunges in den Porzellanladen von Agadir persönlich gerne leiden – seine besondere sachliche Eignung für den wichtigsten Posten unserer Außenpolitik ist mir nicht aufgefallen, zumal ihm hierfür eine der wichtigsten Voraussetzungen völlig mangelte: die Fähigkeit, die Dinge auch einmal aus dem Augenpunkte des Anderen zu betrachten. Er hat nicht nur die Mentalität Frankreichs und Englands stets völlig aus dem Bereich seiner Erwägungen gelassen, er hat nicht einmal die politische Stimmung des Landes erfaßt, in dem er zehn Jahre lang die Interessen Deutschlands zu vertreten hatte – Rumäniens!

Das klingt beinahe wie ein schlechter Witz, und ist doch nur ein Beispiel dafür, wie wenig Menschenkenner der Kanzler selber war und wie weit der Horizont seiner Auguren im Auswärtigen Amt sich spannte. – Doch ich bin den Beleg auf meine Auffassung von Herrn von Kiderlens rumänischen Erfahrungen noch schuldig.

Nach der Rückkehr von meiner Reise nach Rumänien im April 1909 meldete ich meinem Vater, ich hätte den Eindruck gewonnen, daß uns dort ein einziger Mann wohlgesinnt sei, und das sei König Carol selbst. Die politisch führenden und nur auf den Abgang des greisen Königs wartenden Kreise ständen durchaus und nachhaltig unter französischem und russischem Einfluß. Die Sympathien der Kronprinzessin seien nach England gerichtet, und der Kronprinz stehe sehr unter dem Einfluß seiner Frau. So könne ich mich dem Gedanken nicht entziehen, daß Rumänien im Kriegsfalle seine Bündnishilfe zum mindesten versagen werde – wenn es sich nicht zum Anschluß an die Gegenseite entschlösse. – Seine Majestät schickte mich zum Staatssekretär des Äußeren in die Wilhelmstraße, damit ich dort meine Wahrnehmungen mitteile. Herr von Kiderlen-Wächter hörte mich behaglich-überlegen an und lächelte zu meinem Bericht. Am Ende meinte er, ich müsse mich getäuscht – ich müsse böse geträumt haben. Ganz Rumänien, das er doch kenne »wie sei' Weste'tasch'«, sei bündnistreu bis auf die Knochen. »Sozusage' mündelsicher!« – Wir haben bald darauf erfahren müssen, wie die Ereignisse ihren Lauf nahmen, sobald König Carol gestorben war.

Aber was wollte am Ende die falsche Einschätzung Rumäniens besagen neben dem Irrwahn, in dem Herr von Bethmann Hollweg und Jagow in der Beurteilung der Stimmung Englands befangen waren! Befangen blieben bis zu jenem Augusttage des Jahres 1914, an dem Sir Edward Goschen dieses Wahngebilde vor den entsetzten Augen des Reichskanzlers zerriß.

Weil er – was ihm hoch anzurechnen bleibt – sachte, unzureichende Versuche einer Annäherung an England verschiedentlich gemacht und dabei nicht auf grundsätzlichen Widerstand gestoßen war, und weil er wußte, daß England in Paris mehrfach erklärt hatte, daß es eine herausfordernde Politik zu vermeiden und einen von Frankreich erzwungenen Krieg nicht mitzumachen wünsche, glaubte er, die Annäherung sei soweit gediehen, daß England in einen Krieg mit uns überhaupt nicht eintreten werde. Aber auch der letzte Anlauf, den man im Jahre 1912 mit der Einladung des Kriegsministers Lord Haldane nach Berlin genommen hatte, war ergebnislos geblieben. Er war an den inzwischen viel zu eng gewordenen Beziehungen Englands zu Frankreich und damit zu Rußland gescheitert, und selbst die großen Opfer, die Admiral von Tirpitz in der Frage der Flottennovelle für eine englische Neutralitätsklausel zu bringen sich bereit erklärte, konnten hier keinen Umschwung mehr herbeiführen. England war fest, seinen »Zwei Kiele zu einem«-Standard unter allen Umständen durchzuhalten – Sir Edward Grey lehnte unter Hinweis auf seine »bestehende Freundschaft zu anderen Mächten« jede Bindung ab – und damit ergab sich für jeden, der da Augen hatte, um zu sehen, das Gesicht der Dinge.

Auch Haldane hat aus der Stellung Englands in einem Kriegsfalle Frankreichs und Rußlands keinerlei Hehl gemacht; er hat, wie mir der Kaiser später selbst erzählte, dem Botschafter Fürsten Lichnowsky bei einem in politischen Fragen erfolgten Besuche offen mitgeteilt, daß seine Regierung unter den genannten Voraussetzungen, und gleichgültig von welcher Seite der Stein ins Rollen gebracht werden möge, eine Niederringung Frankreichs durch uns und damit eine absolute Vorherrschaft Deutschlands auf dem Kontinente nicht würde hinnehmen können. Sie würde eingreifend an der Seite von den England verbündeten Mächten stehen.

Daß die Herren unseres Auswärtigen Amtes und daß vor allem der verantwortliche Leiter unserer Politik trotz dieser Tatsache in ihrer Traumwelt weiteratmeten und sich beruhigt und selbstzufrieden im Schatten ihrer Illusionen ergingen, bleibt eine Unbegreiflichkeit im Bilde jener von Gefahren und Bedrohungen umlagerten Zeit und Stellung unseres Vaterlandes. Man hatte aus den Pariser Stimmen den Friedenswillen Englands herausgehört und ließ sich gerne zu der lockenden Auffassung verführen, daß England den Frieden in Europa unter allen Umständen wahren wolle, daß die warnend ernsten Worte von Lord Haldane in London allein darum gesprochen worden seien, um einen Bruch dieses Friedens von deutscher Seite nach Möglichkeit zu verhindern.

 

Ich bin, was meinen Weg betrifft, wieder über die Zeit hinausgeglitten, von der ich folgemäßig erzählen wollte. Also auch zu einem richtigen Chronikschreiber will es nicht langen!

Ich muß versuchen, den Faden wieder aufzunehmen. –

Bis zum Jahre 1909 hatte ich auf gelegentlichen Reisen, teils allein, teils im Gefolge meines Vaters, England, Holland, Italien, Ägypten, Griechenland, die Türkei und einige Gegenden Kleinasiens besucht. Meine Aufenthalte in fremden Ländern waren dabei stets nur von verhältnismäßig kurzer Dauer gewesen, aber sie hatten hingereicht, mir wertvolle Vergleichsmöglichkeiten zu geben und mich von der Notwendigkeit, mehr von der Welt zu sehen, zu überzeugen.

Eine große Freude war es daher für meinen Wissensdrang, als mir mein Vater im Jahre 1909 die Genehmigung zu einer ausgedehnten Orientreise erteilte. Meine Frau begleitete mich bis Ceylon und ging dann nach Ägypten, während ich eine Reise durch Indien unternahm. Die englische Regierung hatte diese Reise in äußerst entgegenkommender Weise vorbereitet, sodaß ich wirklich reichen geistigen Gewinn von ihr nach Haufe brachte. Großzügig und herzlich war im einzelnen die Gastfreundschaft, die mir überall geboten wurde. Besonders gerne gedenke ich Lord Hardinges, Sir Harold Stuarts, Sir John Havitts und Sir Roos Keppels. Auch der Maharadja von Dschaipur und der Nisam von Haiderabad bereiteten mir glänzende Aufnahmen.

Mein jagd- und sportliebendes Herz fand in Indien alles, was es sich je ersehnen mochte, und die großartigen Bilder indischer Landschaft und Baukunst erschlossen mir eine neue Welt. Ich habe mich der Flut von Erlebnissen aller Art, die so auf mich eindrangen, mit der ganzen Aufnahmefähigkeit und Genußfreude meiner jungen Jahre hingegeben, wollte all das Große und Neue ungezwungen auf mich wirken lassen und übersah dabei vielleicht doch manchmal, daß ich repräsentieren sollte, daß man in mir den Sohn des Deutschen Kaisers und den Urenkel der Queen erwartete.

Den größten und nachhaltigsten Eindruck machte auf mich das organisatorische und verwaltungstechnische Talent der Engländer. Dabei fiel mir als hervorstechende Eigentümlichkeit auf, daß in den verschiedenen Verwaltungszweigen verhältnismäßig sehr junge aber tatkräftige Beamte mit großer Selbständigkeit und Verantwortung ausgestattet waren. Allgemein herrschte eine weitgehende und gesunde Dezentralisation. Überall trat mir auf dieser Reise die ungeheure Weltmacht Englands entgegen – deren ganze Größe man in unserem an seinem eigenen raschen Emporschnellen berauschten Deutschland vor dem Kriege leider vielfach und erheblich unterschätzte.

Ebenso klar aber wurde mir auf dieser Reise, wie gewaltig groß die Konkurrenz war, die Deutschland den Briten auf dem Handelsmarkte im fernen Osten machte. So mancher englische Kaufmann sagte mir in vertraulichem Gespräch, daß es so nicht weitergehen könne; England dürfe und wolle sich von uns nicht an die Wand drücken lassen. Ich selbst habe während der Seefahrt festgestellt, daß uns etwa ebensoviel deutsche wie englische Handelsdampfer begegneten. Auch der halblaute Fluch »Those damned Germans!« drang zuweilen an mein Ohr.

Das waren Sturmzeichen. –

Als ich später den maßgebenden Herren in der deutschen Heimat von diesen Beobachtungen sprach, wurde die Warnung leicht genommen und abgetan: Daß irgendein englischer Pfeffersack fluchte, wenn wir ihm das Geschäft verdarben, was hatte das zu sagen? Der Mann sollte sein weekend aufgeben und arbeiten wie unsere Leute, dann brauchte er nicht zu fluchen! Im übrigen wollten wir doch wahrhaftig in Frieden mit den Herrschaften leben! »Und sehen Kaiserliche Hoheit selbst – wie hat man Sie dort aufgenommen!« – Also da war nicht viel zu machen. Ich für mein Teil wußte und ließ mich darin nicht beirren: daß der »Pfeffersack« England selber war – daß niemand dort gewillt war, sein weekend zu opfern – daß meine Aufnahme ein Akt der internationalen Höflichkeit gewesen war, nicht mehr. Der Wille, mit den anderen in Frieden durchzukommen, hat aber nur dann Bedeutung, wenn man zugleich die Wege kennt und geht, ihn zur Tatsache umzusetzen. –

Nach meiner Rückkehr von der Orientreise besuchte ich auf Befehl Seiner Majestät mit meiner Frau die Höfe in Rom, Wien, St. Petersburg und zur Königskrönung London.

Überall fanden wir wohl persönlich sehr freundliche Aufnahme – aber überall traten mir auch mahnende Zeichen der Konflikte und Gefahren entgegen, die sich immer drohender rings um das Reich zusammenballten.

Die Reise nach London machten wir auf dem neuen riesigen Panzerkreuzer »Von der Tann«, und dieses hervorragend durchkonstruierte Kriegsschiff erregte in England das größte Aufsehen. Bei der großen Flottenparade in Solent war es interessant zu beobachten, wie die englischen Seeoffiziere und Mannschaften sich mit gespanntester Aufmerksamkeit mit unserem »Von der Tann« beschäftigten. Für die Kriegsschiffe der anderen Nationen hatten sie daneben überhaupt kaum noch Interesse übrig. Die Urteile kamen durchweg auf ein uneingeschränktes Lob für die wundervollen Linien des Schiffes und für die praktische Verteilung seiner Artillerie.

Die Aufnahme, die meine Frau und ich während der Krönungsfeierlichkeiten in London in allen Kreisen der Bevölkerung fanden, war ungemein herzlich. Auch die englische Presse begrüßte uns außerordentlich warm, und wir haben in diesen festlichen Tagen von Deutschenhaß nichts gespürt. Aber wenn es ein sprechendes Beispiel dafür gibt, wie falsch es wäre, auf solchen einem Fürsten oder Thronfolger dargebrachten Zeichen von Sympathie Schlüsse auf dem Gebiete der großen Politik zu ziehen, so haben wir das dort erlebt. Ein »signum vanitatis« haftet es in meinem rückschauenden Gedenken:

Als König Georg und Königin Mary am Schlusse der Krönungsfeier in der Westminsterabtei in feierlichem Zuge die Kirche verließen, stieg unvermittelt ein dreimaliges Hoch auf sie aus der Versammlung auf. Gleich darauf, als die fremden Fürstlichkeiten ebenfalls aufbrachen, machten auch wir uns auf den Weg. Und da, als wir etwa die Mitte der riesigen Kirche erreicht hatten, wurde die gleiche spontane Huldigung, die erst dem Könige und der Königin gespendet worden war, auch der Kronprinzessin und mir zuteil. Es ist mir nachher von englischer Seite gesagt worden, wir könnten uns auf diesen Vorgang »etwas einbilden«, denn es sei in der englischen Geschichte bisher noch nie dagewesen, daß in der Westminsterabtei einem fremden Fürstenpaare eine derartige Ovation dargebracht worden wäre.

Vier Jahre später standen wir im Kriege – vier Jahre später war ich, dem sie damals zugejubelt hatten, ein »hun«.

Von meinem damaligen Aufenthalte in London möchte ich hier noch eine Episode erwähnen, die ein Licht auf die Auffassung eines führenden englischen Politikers jener Tage wirft. Der Staatssekretär des Äußeren, Sir Edward Grey, wurde mir vorgestellt, und im Laufe des bald recht lebhaften Gespräches machte ich die unvorsichtige Bemerkung: es wäre nach meiner Ansicht im Hinblick auf einen sicheren Frieden das weitaus Vernünftigste, wenn Deutschland und England, die beiden großen germanischen Nationen, die stärkste Landmacht und die stärkste Seemacht, zusammengingen; dann könnten wir uns übrigens auch (wenn wir das überhaupt sollten) in die Welt teilen. – Grey hörte zu, nickte und meinte dann etwa: »Ja – richtig, aber England will mit niemand teilen, auch nicht mit Deutschland.« –

In Wien sprach der damalige Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand mir gegenüber sehr ernst und sorgenvoll über die staatsgefährliche serbische Propaganda, und er sah einen baldigen europäischen Konflikt, der seine Wurzeln in diesen von Rußland her geschürten Umtrieben finden mochte, voraus. Mir, der ich bis dahin die immer peinlicher gewordene Abhängigkeit unserer äußeren Politik in allen Ostfragen von den Ideen des Wiener Ballplatzes nur mit großem Mißbehagen beobachtet hatte, stiegen angesichts der Ausführungen des Erzherzogs schwere Bedenken mit Hinblick auf diese Verschiebung unseres politischen Augenpunktes von Berlin nach Wien auf – und diese Bedenken, die ich von da ab immer wieder sowohl im Auswärtigen Amte wie vor einzelnen Vertretern unseres diplomatischen Dienstes rückhaltlos, leider aber ohne Erfolg zum Ausdruck gebracht habe, sind seit jenem Tage in mir nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die schon vom Fürsten Bismarck in seinen letzten Aufzeichnungen mit banger Voraussicht ausgesprochene Sorge, daß das Reich eines Tages in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von der überlegenen Diplomatie Österreich-Ungarns gelangen könnte, schien mir längst ihre bedrohliche Erfüllung gefunden zu haben. Und damals, im Wiener Belvedere, unter den merkwürdig suggestiven Worten des gefährlich ehrgeizigen und keineswegs zu einer bescheidenen Rolle gewillten Mannes, der so klug wie rücksichtslos war, hat mich das bestimmte Gefühl, daß wir infolge dieser schon zu weit gediehenen Abhängigkeit eines nahen oder fernen Tages in einem zur höheren Ehre der österreichisch-ungarischen Hausmacht forcierten Konflikte zu Vorspanndiensten herangezogen werden könnten, unmittelbar angeweht: Hier streckte der Erzherzog vorsichtig seine Taster vor, entwickelte Gedanken, deren Wirkung auf mich ihn erkennen lassen sollte, was er von mir erwarten durfte. – Das Schicksal hat dem an sich zweifellos bedeutenden Manne das Spiel aus den Händen genommen und hat ihn selbst zum Funken gemacht, an dem der große Brand sich entzünden sollte. Aber es hat dann hinter seinem blutig beschlossenen Leben uns keine von den bitteren Folgen unserer Unselbständigkeit und Unterordnung erspart: es hat uns durch die Auswirkung der überspannten Wiener Forderungen an Serbien gegen unseren eigenen Willen in den Krieg verstrickt. – Am 28. Juli 1914 war es, daß mein Vater, als Serbien fast alle Punkte des österreichischen Ultimatums angenommen hatte, zu der Depesche, die diese Unterwerfung Serbiens meldete, die Worte niederschrieb: »Eine brillante Leistung für die Frist von bloß 48 Stunden! Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und (der österreichische Gesandte) Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen! Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung empfohlen!« – Ich zitiere das Telegramm mit dieser Marginalnotiz, weil es ein unumstößlicher Beweis für Deutschlands und des Kaisers Friedenswillen ist. Für einen guten Willen – über den hinweg unser an die Politik des Wiener Ballplatzes bis zur Hörigkeit gefesseltes Schicksal sich erfüllte. – –

In Rußland, wo ich nach Abschluß der Indienreise gleichfalls – wie an anderer Stelle schon erwähnt – mit meiner Frau verweilte, gewann ich den Eindruck, als sei der Zar an sich deutschfreundlich gesinnt wie nur je – als könne er seine Gesinnung weniger betätigen als jemals vorher. Er war vollständig von der panslawistischen, deutschfeindlichen Partei des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch umsponnen und kam dem Großfürsten gegenüber, der seinen Deutschenhaß jetzt ganz offen zur Schau trug, kaum zu Wort.

 


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