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Juni 1920.

Ich habe diese Blätter, auf denen ich bis hierher eine Rückschau auf mein Leben und auf meine engere Umwelt bis zum Kriegsausbruche und zugleich meine Eindrücke und Erinnerungen aus der Vorgeschichte des großen Krieges niedergelegt habe, durch weit über ein halbes Jahr nicht mehr in Händen gehalten. Nicht etwa, weil ich von dem Vorjahr, auch die Erlebnisse des Krieges in gleicher Weise aufzuzeichnen, abgekommen wäre, sondern weil sich mir bei dem Fortschreiten dieser Arbeit bald genug eine Heraushebung gerade dieser über den Rahmen persönlicher Erinnerungen hinaus zu einem Stück Kriegsgeschichte ausgreifenden Teile des Manuskriptes als nötig zu erweisen schien.

So hat meine Arbeit seit den Oktobertagen des verflossenen Jahres bis in den neuen Sommer der Niederschrift der rein militärischen Erlebnisse gegolten, die ich vom Tage des Aufbruches ins Feld ab, während der langen Kriegsjahre als Führer der 5. Armee und als Oberkommandierender der »Heeresgruppe Kronprinz«, gemeinsam mit den mir anvertrauten Truppen hatte. Und alles Große, was ich in dieser Zeit erleben durfte, wie alles Schwere, was ich durchrungen und getragen, habe ich gewissenhaft verzeichnet.

Damit ist die Grundlage einer Darstellung der ungeheuren militärischen Leistungen jener Verbände entstanden, deren Männer als Kameraden unter mir und mit mir im Felde gestanden haben. Eine Darstellung, die mich, je mehr ich mich in sie vertiefte, desto mehr auch dazu verführte, die Fülle des vorhandenen Materials voll auszunutzen; es lockte der Gedanke, meinen getreuen Mitkämpfern hier ein schlichtes Ruhmesdenkmal durch eine sachlich-prunklose Schilderung ihres Weges aufzurichten.

Was ich da als rückschauender Soldat wie eine Rechenschaft über den Inhalt der blutigen und doch unsterblich großen viereinhalb Jahre niederschrieb, will sich zu dem, was ich vorher auf diesen Blättern hier erzählte, nach Art und Form nicht so recht fügen. Es ist militärische Facharbeit in engerem Sinne geworden und soll zu einem geschlossenen Werke eigenen Charakters entwickelt werden.

Diese Erwägungen haben mich dann zu dem Entschluß geführt, die ganze Darstellung der militärischen Unternehmungen und Kämpfe geschlossen aus dem Zusammenhange dieser Aufzeichnungen loszulösen und hier auch weiter, wie bisher, in freien Einzelschilderungen meine eigensten Eindrücke und Erlebnisse zu berühren, Stellung zu nehmen zu den wichtigsten Problemen, die der Krieg um mich her aufgerollt – in die der Niedergang und Zusammenbruch mich mit hineingerissen haben.

Aber ich möchte, ehe ich zu den Bildern dieser schon wieder ferneren Vergangenheit zurückkehre, erst noch von den acht oder neun Monaten reden, die hingegangen sind, seit ich die letzten in dem Manuskript verbliebenen Seiten vollgeschrieben habe. –

Wenn mir damals im letzten Herbst jemand gesagt hätte: du wirst, wenn das neue Jahr, das Frühjahr und der Sommer kommen, noch immer hier auf der Insel und ferne deiner Heimat sein! – ich würde dem Propheten nicht geglaubt, die Härte des Gedankens kaum ertragen haben. So hat mir die immer rege gebliebene Hoffnung auf eine fortschreitende Gesundung unserer Heimat zu neuer Ordnung und Ruhe, und so hat mir die Arbeit, die ich neben allem anderen, was mir die Tage, Monate und Jahreszeiten brachten, nie auf längere Zeiten unterbrochen habe, auch über diese lange Lebensspanne hinweggeholfen. Auch Freunde, die mich in meiner Einsamkeit besucht haben und die mir etwas wie ein Echo aus der Welt auf meine Insel brachten, haben mir das Los der Abgeschiedenheit erleichtert – weiter die einfachen und guten Menschen hier ringsum, die mich, seit sie auch meine Frau kennen gelernt haben, doppelt gerne mögen – und endlich mein getreuer Kamerad Major von Müldner, der diese Einsamkeit in opferwilliger Hingabe mit mir teilt und immer wieder tausend große und kleine Sorgen und Plagen auf sich nimmt, um sie mir erträglich zu machen.

Wer alles bei mir war? Im Herbst besuchte mich der prächtige Redakteur Prell, ein echter deutscher Mann, der die Niederländische Wochenschrift in Amsterdam leitet, und sein deutsch-amerikanischer Kollege Mr. Rostock, der mir interessante Schilderungen von der amerikanischen Kriegspropaganda gegen Deutschland gab. Ein Propagandabild, das drüben viel »Erfolg« gehabt haben soll, brachte er mir mit: es zeigte mich in altgermanischer Waffenkleidung beim Sturm auf Verdun im Kampf gegen Frauen und Kinder! – Auch Kapitän König, der ruhmvolle Führer der U-Deutschland, sprach damals auf der Insel vor, der Generalsekretär vom Ministerium des Innern Dr. Kan, dessen verständnisvoller und bei aller Korrektheit des holländischen Staatsbeamten echt menschlicher Fürsorge ich viel verdanke, und der ehemalige Oberpräsident von Ostpreußen und spätere Chef des Zivilkabinettes Seiner Majestät, Exzellenz von Berg, einer der besten, unbeirrt treuen Berater unseres Hauses in Glück und Unglück. Er ist noch aus der fernen Bonner Borussenzeit ein Jugendfreund des Kaisers und einer von den Männern, die dem einsam alternden Manne in Amerongen mit tief menschlichem Verstehen treu geblieben sind.

Trostlos in seiner düsteren Härte hat dann der Winter wieder eingesetzt. Der Tag, an dem sich's jährte, daß ich auf der Insel landete, war so wie jener erste eingehüllt in Grau und Nebel. Wolken, die bleischwer auf der See und auf dem kleinen Eiland lagen, und Stürme, die bei Tag und Nacht über die Deiche weg das armselige Land zerfegten. Da waren ein paar Tage gemeinsamer Arbeit mit dem Major Kurt Anker – meinem klugen und unermüdlich tätigen ehemaligen Nachrichtenoffizier der Heeresgruppe – eine erleichternde Befreiung.

Und kurz vor Weihnachten kam Müller, mein alter Adjutant und Chef meiner Verwaltung, und brachte Weihnachtsgaben aus der Heimat mit. Geschenke von Angehörigen und rührende Zeichen der Liebe von bescheidenen, ungekannten deutschen Menschen. Den deutschen Kindern, die damals zur Pflege und Erholung nach den grausamen Wirkungen der Hungerblockade bei guten Menschen auf der Insel weilten, habe ich dann noch vor dem Feste in dem kleinen Gasthofe »Seeblick« in Oosterland eine Weihnachtsfeier mit Lichterbaum, mit allerlei Gaben und alten deutschen Weihnachtsliedern veranstaltet.

Am 23. Dezember war in dem engen Kreise der wenigen treuen Hausbewohner die Feier in der Pastorie – und tags darauf fuhr ich mit Müldner, begleitet von den beiden Herren, die von der holländischen Regierung mit diesem Dienst beauftragt waren, aufs Festland hinüber und weiter nach Amerongen, um dort den Heiligen Abend und die Feiertage im gastlichen Schloß des Grafen Bentinck mit den Eltern zu verbringen. Wenige Monate vorher – im Oktober – hatte ich meinen Vater zum ersten Mal wiedergesehen seit jenem 9. November des vorhergegangenen Jahres, an dem ich, nach schweren Aussprachen und in der sicheren Überzeugung, daß er allen Widerständen zum Trotz beim Heere bleiben werde, in Spa von ihm gegangen war.

Unauswischbar ist mir das Bild, unauslöschlich in meinem Ohr der Klang der Stimme, wie er jetzt an dem Heiligen Abend im silbergrau gewordenen Haar, im Widerschein der vielen Lichter vor dem hohen schwarzgrünen Baume stand und uns das Weihnachtsevangelium las: » – Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.«

Am siebenundzwanzigsten fuhr ich nach Wieringen zurück. –

Es kam das neue Jahr – und seine Tage glichen den Tagen des versunkenen Jahres. Friede aus Erden? – Haß und Rachsucht nur wilder noch als je vorher! Der ungebrochene Vernichtungswille Frankreichs, das uns die Verlogenheit seiner Kriegsschuldthesen nicht verzeihen kann. Die Zeitungen wieder voll hetzender Glossen zur Auslieferungsfrage. Dazwischen, als Humor für mich, wilde Gerüchte über meine bevorstehende oder schon erfolgte Flucht im Flugzeug, Unterseeboot, und weiß Gott wie sonst. Einmal erschienen doch wahrhaftig zwei amerikanische Journalisten in dem Häuschen und baten, sich durch Augenschein von meinem Vorhandensein überzeugen zu dürfen. Ich habe ihnen diesen Wunsch gerne erfüllt. – Zu Anfang Februar wurde dann die »offizielle Auslieferungsliste« bekannt: neunhundert Namen etwa – und der meine an der Spitze. Damals zum ersten, einzigen Male bin ich aus der Zurückhaltung meines Lebens auf der Insel herausgetreten und habe mich in einem Telegramm an die interalliierten Mächte gewendet und mich freiwillig für die übrigen angeforderten Männer zur Verfügung gestellt. Dieser aus einem einfachen Antrieb meines Empfindens getane Schritt – auf den übrigens niemals eine Antwort von irgend einer der Mächte erfolgte – ist in der Heimat wie im Auslande vielfach mißverstanden worden.

Hatte ich bis in den Monat März hinein auf Grund der Nachrichten in den verschiedenen Tagesblättern in der Hoffnung gelebt, daß unsere Heimat trotz aller nachwirkenden Fieberschauer der Revolution und trotz aller ungelösten Parteigegensätze auf dem Wege zu einer inneren Beruhigung und Festigung wäre, so brach dieser gute Glaube nun mit den Berichten über das Kappunternehmen und seine schwerwiegenden Folgen zusammen. Über den Schmerz an diesem Rückfall in blutige Unruhen hinaus bedeutete der Zwischenfall für mich eine bitter harte Enttäuschung meiner bis hierher bestehenden Aussichten, daß ich es vielleicht in nicht zu ferner Zeit würde wagen können, meinen Platz in meiner Familie und auf meinem deutschen Grund und Boden wieder einzunehmen, ohne daß durch mein Kommen neuer Zündstoff in das Vaterland getragen würde. Die Vorgänge hatten gezeigt, daß die rechte Stunde zur Heimkehr noch nicht gekommen war – daß sie vielleicht noch in weiter Ferne lag. Wie nun die geistige Verfassung der Heimat sich offenbart hatte, mußte ich fürchten, zum Zankapfel der gegnerischen Parteien zu werden, mußte ich besorgen, daß meine Rückkehr, und wenn ich selbst mich jeder politischen Stellungnahme auch noch so ferne hielt, ohne Rücksicht auf meinen Willen von der einen oder anderen Richtung zur Parole neuer Kämpfe für oder gegen bestehende Zustände gemacht werden würde. Die Gründe, die für mich an jenem 11. November 1918 entscheidend gewesen waren, an dem ich mich mit schwerem Herzen zur Fahrt nach Holland entschlossen hatte, erwiesen sich als noch nicht überwunden – ich mußte also, wenn ich den Sinn meines Opfers von damals erfüllen und dieses nicht durch ein Versagen aus halbem Wege entwerten wollte, weiter warten und harren.

Ich gebe offen zu, daß die Märztage, in denen ich mich durch schwere Bitterkeiten zu diesem Erkennen durchgerungen habe, zu den härtesten Prüfungszeiten meines Lebens gehören. Die fünfzehn Monate, die ich bis dahin auf meiner Insel in der primitivsten Umwelt, ferne aller geistigen Anregung und Kultur verbracht hatte, waren mir erträglich geworden, weil ich das Ende dieser Einsamkeit, den Wiedereintritt in den Kreis der Meinigen und in das deutsche Arbeitsleben jederzeit als ein nicht mehr allzufernes Ziel vor mir zu sehen glaubte. Als ein Ziel, das in wenigen Monaten vielleicht erreichbar war. – Dieser offene Blick ins Freie hat mich auch wahrhaft Hartes mit gutem Mute tragen lassen, und der Gedanke: Nur noch eine kurze Weile! war der beste Trost. Alles gewann dadurch das Wesen des Vorübergehenden und Provisorischen.

Es wäre eine törichte Selbsttäuschung gewesen, wenn ich versucht hätte, mir diesen Trost über die Märztage hinaus zu erhalten. Was da an alten Wunden aufs neue aufgerissen worden war, das konnte nicht in Monaten vernarben – das brauchte Jahr und Tag zur Heilung – vielleicht länger.

Seltsam, wie kleine, scheinbar äußerliche Hilfen der Natur uns oft in schweren seelischen Konflikten, mit denen wir durch viele Tage, viele Nächte ringen, in Augenblicken Kraft zur Klarheit und zur Überwindung dieser Qualen geben! Ganz deutlich sehe ich den späten Märztag noch, spüre noch» wenn ich daran denke, den herben Geruch des Seewindes und den Dunst der im ersten Vorfrühlingsschein erwachenden Erde. Aus dem Arbeitszimmer in meiner Pastorie geht es nach rückwärts durch eine kleine und im Winter eisig kalte Veranda in den schmalen, langgestreckten Gemüsegarten. Ein richtiges Handtuch. An diesem Tage war die Verandatüre weit offen, und ich stand in ihr und sah in suchenden Gedanken über das kleine nachwinterlich verkommene Gärtchen hin, in dem wir auch im Vorjahr alles, was etwa grünen wollte, hatten wachsen und wildern lassen, wie es eben wuchs: wozu? – man war in einem Vierteljahr ja doch wohl nicht mehr hier! Jetzt aber vor den wirren, ungepflegten Beeten, vor dem Gestrüpp der Sträucher und vor den von Schnee und Regen verwaschenen Wegen spürte ich plötzlich den drängenden Wunsch, auch hier zu schaffen. Neben dem rohen Bretterverschlage, der als Hundezwinger sich an das Haus anschließt, lehnte ein Spaten. Mit einer heißen Arbeitslust habe ich den ergriffen und habe umzugraben begonnen. Weiter – immer weiter; bis das Kreuz mich schmerzte. Eine Befreiung von inneren Lasten sind mir die Spatenstiche dieser Stunde gewesen: Nicht in unfruchtbarem Zuwarten die Zeit bis zur Heimkehr verrinnen lassen! Nach dem Ziele der Wünsche und Sehnsucht streben – aber sich abfinden mit der Härte der Tage und sie so leben, daß auch sie erfüllt sind und in die Zukunft wirken! – Seitdem habe ich täglich in unserem kleinen Garten gearbeitet. Es ist Ordnung in ihn gekommen. Einer wird seine Früchte ernten – ich oder ein anderer.

Das waren die Tage des Kapp-Putsches gewesen. Ich muß zu dieser unglückseligen Episode noch etwas sagen. Ich würde mein Empfinden und würde meine tiefe Überzeugung, nach der eine über den Gegensätzen der Parteien stehende monarchische Regierung den besonderen, innerpolitisch so vielfältig aufgesplitterten Verhältnissen unserer Heimat – des deutschen Landes und der deutschen Menschen – am besten entspricht, verleugnen, wenn ich nicht offen ausspräche, daß ich die Versuchungen und Lockungen verstehen kann, die so viele bewährte, vortreffliche und sicher von idealer Gesinnung geleitete Männer in dieses abwegige Unternehmen verstrickten. Daß nicht zugleich ein genügend klares Verständnis für die nach dem Zusammenbruche gewordene Lage ihnen die Kraft gab, diesen Versuchungen zu widerstehen, bedaure ich tief. Mit Tatsachen zu rechnen, auch wenn die Tatsachen unseren Wunschbildern nicht entsprechen, ist für uns Deutsche heute nötiger denn je, weil uns als erste und wichtigste Pflicht gegen uns selbst und gegen jene, die nach uns kommen werden, zunächst der Wiederaufbau unseres niedergebrochenen Hauses vorgeschrieben ist, weil jede Kraft, die sich im Streben nach anderen Zielen verzettelt, diesem Notwendigsten verloren geht und entgegenwirkt. Steht das Haus erst wieder groß und fest auf unserem Heimatboden, dann wird am Stolz auf das Geschaffene auch unser krank gewordenes deutsches Nationalgefühl wieder erstarken! – –

Was bleibt noch zu berichten? Es ist sachte Frühling – mein zweiter Frühling auf der Insel – geworden. Die Eltern sind auf ihren neuen Wohnsitz übergesiedelt.

In den im Spätherbst 1919 erschienenen »Records«, seinem Memoirenwerke von rückhaltloser Offenheit, sagt Lord Fisher:

»The Essence of War is Violence.
Moderation in War is Imbecility.«

Auf gut deutsch:

»Das Wesen des Krieges ist Gewalttätigkeit.
Beschränkung im Kriege ist Dummheit.«

Und weiter: »Es ist Pflicht der Regierung, und zwar jeder Regierung, sich in weitem Maße auf die Ratschläge der Militär- und Marinesachverständigen zu verlassen, aber auf die Dauer muß eine Regierung, die ihren Namen verdient und die vom Vertrauen des Volkes getragen wird, alle diese Fragen in ein bestimmtes proportionales Verhältnis bringen, und manchmal wird es nicht nur besser, sondern unbedingt erforderlich sein, Wagnisse auf sich und Gefahren in Kauf zu nehmen, denen man mit Befolgung der Ratschläge der Militär- und Marinesachverständigen wohl aus dem Wege gehen könnte.«

Erkennen wir diese Sätze des Lord Fisher als richtig an – und ich für meine Person stehe nicht an, mich hier zu ihnen zu bekennen – so ergibt sich hieraus eine herbe Kritik des Verhaltens unserer Reichsregierung, denn es hat während des ganzen Krieges ein solches Zusammenarbeiten zwischen ihr und der Obersten Heeresleitung, vor allem aber ein solches Übergewicht der Regierung niemals bestanden. Die Reichsregierung, die in allen das politische Gebiet berührenden Fragen das letzte und entscheidende Wort hätte sprechen müssen, hat eine viel zu passive Rolle gespielt. In den kritischen Augenblicken, in denen die Ereignisse nach Entscheidungen, nach Handlungen und Taten schrieen, geschah von ihr aus meist wenig oder garnichts. Allenfalls »pflog sie Erwägungen«, »stellte Erhebungen an«, schwankte zwischen dem »Allerdings« der Einsicht und dem »Immerhin aber« ihrer eigenen Angst vor jeder Bewegung – und ließ die rechten Augenblicke ungenutzt verstreichen. So kam es – was jetzt den Hauptpunkt aller Vorwürfe gegen General Ludendorff ausmacht – daß die O.H.L. zeitweise mehr in Probleme der äußeren oder inneren Politik eingriff – eingreifen mußte! – als ihr nach der sachlichen Abgrenzung ihres Arbeitsfeldes eigentlich zustand. Sie tat es notgedrungen, tat es, damit zur Lösung der drängenden Fragen nur überhaupt etwas geschehe und die Dinge nicht ganz und gar im Sande verliefen und einschliefen.

Wenn man also in der breiten Öffentlichkeit dem General Ludendorff den Vorwurf gemacht hat, und immer noch macht, daß er wie ein Diktator geherrscht habe, indem er sich in alle Fragen der Politik, in die Probleme des Ersatzes, der Ernährungs-, Rohstoff- und Arbeiterangelegenheiten mischte, so wird der Kenner der tatsächlichen Umstände und Vorgänge einen Kern von Wahrheit, der in einer solchen Behauptung liegt, kaum bestreiten. Er wird nur immer wieder darauf verweisen müssen, daß General Ludendorff zum Eingreifen gezwungen war durch die Tatlosigkeit und Schwäche der Behörden und Persönlichkeiten, die von Rechts und Pflicht wegen zur Erfüllung der auf den erwähnten Gebieten erwachsenen Aufgaben berufen waren. Ich konnte ihm nicht widersprechen, wenn er mir mehrmals sagte: »Das alles ist ja garnicht meine Sache, aber gemacht muß doch etwas werden – und wenn ich es nicht tue, geschieht zu Hause (d. h. von seiten der Regierung) doch nichts!« Mein Herz hat in solchen Augenblicken den tatkräftigen und verantwortungsfreudigen Mann wohl verstanden, wenngleich mein Verstand mir sagte, daß sich hier allzuviel auf diese Schultern türmte. – Jede Arbeitskraft hat ihre natürlichen Grenzen, und mehr als vierundzwanzig Stunden ergibt kein Tag. So mußte es denn ausgeschlossen sein, daß ein Mann, und wenn er auf seinem ureigenen Felde unser Bester und darüber hinaus auch noch so reich begabt war, neben dem ungeheuren Apparate der Obersten Heeresführung gleichzeitig auch noch alle Gebiete der Wirtschaftsfragen, der inneren und äußeren Politik übersehen und beherrschen konnte. Der Zwang, sich auf eine solche übermächtige Aufgabe einzustellen, mußte selbst die stärkste Persönlichkeit zu einer Zersplitterung ihrer Kräfte führen. –

Der ungünstige Ausgang der Marneschlacht im September 1914 hatte uns das Schlieffensche, nach ihm von Moltke übernommene Kriegsprogramm – schnelle Niederwerfung Frankreichs, dann Abrechnung mit Rußland – verdorben. Daß wir jetzt vor einem Kriege von nicht absehbarer Dauer standen, schien wahrscheinlich, und ich persönlich habe bald darauf schon – im Jahre 1915 – die Einsicht gewonnen, daß die Zeit im Falle einer übermäßigen Ausdehnung des Krieges für unsere Gegner und gegen uns wirksam sein müsse. Sie mußte ihnen die Möglichkeit geben, eine ihnen als Hinterland ihrer Fronten offenstehende Welt mit all ihren unermeßlichen Kraftquellen zu mobilisieren und gegen uns heranzuführen, und mußte unser umschlossenes Mitteleuropa aus den Verbrauch seiner durch keinerlei planmäßige Vorkriegsvorsorge gehobenen Bestände an Material aller Art beschränken. Sie mußte den Gegnern Gelegenheit gewähren, Riesenheere aufzustellen und damit die Ansprüche an die Leistung ihrer einzelnen Kämpfer auf ein Mindestmaß herabzusetzen – und sie mußte uns zwingen, von jedem deutschen Manne die Hingabe des Letzten weit über Menschenkraft hinaus zu fordern, uns endlich an der Ungleichheit der Bedingungen hüben und drüben erschöpfen!

Von dem Augenblick der Erkenntnis dieser Lage an wäre es Pflicht und Aufgabe des leitenden Staatsmannes, des Reichskanzlers gewesen, bis zu einem gewissen Grade unabhängig von den Plänen und Ansichten der militärischen Führung, dauernd auf politische Schritte zur Beendigung des Krieges zu sinnen, Fühler auszustrecken, Verbindungen hinter den Kulissen des Kampfes zu suchen und auszuwerten. Mochten die Waffen noch so glänzende Augenblickserfolge bringen, der weitschauende Politiker konnte und mußte diese wohl als Tritte und Griffe für sein Vorwärtskommen nutzen, er durfte sich aber nicht von ihnen blenden lassen. Er durfte nicht der O.H.L. gegenüber den Standpunkt einnehmen: Macht ihr erst eure Arbeit zu Ende, nachher komme ich an die Reihe, vorläufig ist für mich nichts zu tun.

Ich möchte nicht ungerecht gegen den zweifellos guten Willen unseres ersten Kriegskanzlers werden, und so komme ich zu der Frage: War Herrn von Bethmanns Energie denn überhaupt noch fähig zu starkem Wollen und starkem Wagen? Hatte er den furchtbaren Zusammenbruch seiner England-Theorie und hatte er das Harakiri seiner Reichstagserklärung vom 4. August 1914 als seelisch intakter Mann überlebt? Jedenfalls blieb unser politisches Schicksal weiter diesen in mißlungenen Unternehmen unsicher gewordenen Händen, diesen müde und resignierend ausblickenden Augen anvertraut. – Unvergeßlich stellt sich, wenn ich Bethmann Hollwegs Energetik suche, eine Episode vor mich hin, die mir ein Hamburger Großreeder im Sommer 1915 mit aller Bürgschaft für die Wahrhaftigkeit des Vorganges erzählte: Ballin sei beim Reichskanzler gewesen und habe dem eindringlich und aus seiner breiten Kenntnis der Weltlage über die Situation gesprochen. Als er geschwiegen, habe Bethmann aus tiefer Versunkenheit geseufzt, sich über die Stirne gestrichen und gesagt: »Am liebsten wäre ich tot – – « Und Ballin, um ihn aus dieser Lethargie zu reißen, mit dem Versuch zu lachen, im Sinn der alten Kasernenhofanekdoke: »Ja – das könnte Ihnen so passen: den ganzen lieben Tag im Sarge liegen und zusehen, wie sich die anderen quälen müssen!« –

Ganz gewiß wäre es keine leichte und keine für dieses entmutigte Herz erfüllbare Aufgabe gewesen, einen unserer Gegner vom Verbande abzusprengen und mit ihm zu einer Sonderverständigung zu kommen; daß es aber, wie man im Auswärtigen Amte annahm, zwecklos gewesen wäre, einen ernstlichen Versuch dazu zu machen, habe ich während des Krieges nicht einsehen können, und das sehe ich auch heute noch nicht ein.

In Frage gekommen für einen Sonderfrieden wäre nach meiner Ansicht vor allem Rußland. Vielleicht schon im Frühsommer 1915 nach unserem siegreichen Durchbruch bei Gorlice – obwohl die Schwierigkeiten für Verhandlungen mit Rußland damals noch sehr groß waren. Nikolai Nikolajewitsch und die gesamte russische Kriegspartei waren noch am Ruder, das Ententeabkommen gegen jeden Sonderfrieden war noch sehr frisch, und endlich war der Eintritt Italiens in den Krieg gegen uns Ende Mai erfolgt. Bei alldem aber war nicht abzusehen, wie Rußland sich zu einem Vorschlage unsererseits gestellt hätte, der ihm die Grenzen vom 1. August 1914 und vielleicht eine große finanzielle Anleihe oder auch die Übernahme aller seiner finanziellen Verpflichtungen gegen Frankreich angeboten hätte.

Ausgesprochen für ein Sonderabkommen mit Rußland aber war die Lage, als im Hochsommer 1915 Rußland militärisch arg in der Klemme war und der Zar den anerkannt deutschfreundlichen Stürmer zum Ministerpräsidenten ernannte. Ich hielt das damals für ein unverkennbares Zeichen der Geneigtheit zu etwaigen Verhandlungen und drang in unsere leitenden Persönlichkeiten, diese Handhabe zu ergreifen. Es sind denn in der Tat im Laufe des Sommers und Frühherbstes reichlich Besprechungen allgemeiner Art geführt und Bedingungen erwogen worden – aber das blieben schließlich Privatunterhaltungen deutscher Diplomaten untereinander oder Fühlungnahmen zwischen diesen und der O.H.L. Praktische Folgerungen, die sich in der Aufnahme von Beziehungen zu Stürmer ausgewirkt hätten, sind nicht geboren worden. Es blieb bei leeren Wehen, bei allgemeinen tatlosen Klagen darüber, daß aller und jeder Draht zu den respektiven Herren jenseits der Fronten mit dem Kriege so völlig abgerissen sei – daß man zusammen nicht kommen könne: das Wasser sei viel zu tief. –

Wenn man mir gegen diese Ausführungen einwenden will, daß es verhältnismäßig einfach sei, jetzt nach dem Verluste des Krieges auszutreten und zu behaupten: »Ich hab's ja immer gesagt!« und »Wenn man mich gehört und mir gefolgt hätte, so wäre es vielleicht anders gekommen!«, so will ich mich solchen an sich nicht ungerechtfertigten Einwürfen gegenüber durch die Mitteilung einiger Gedanken und Anregungen aus einer Denkschrift ausweisen, die ich zu einer Zeit, in der sie noch wirken und fruchtbar werden konnten, am 18. Dezember 1915, aufgesetzt und allen in Frage kommenden Stellen zugänglich gemacht habe. Ich vertrat in dieser Denkschrift die Auffassung, daß mit allen Mitteln auf die Erreichung eines Sonderfriedens mit einem unserer Gegner gesonnen und gearbeitet werden müsse. Rußland schien mir hierzu am meisten geeignet. Am Schluß dieser Denkschrift hieß es damals wörtlich:

»Was unser Volk in diesem Kriege geleistet hat, das wird erst die spätere Geschichtschreibung in vollem Umfange zu würdigen wissen. Wir wollen uns aber keiner billigen Selbsttäuschung hingeben. Die Blutopfer, die das deutsche Volk bisher gebracht hat, sind bereits jetzt enorm ... Es ist nicht meines Amtes, hier die Verlustzahlen aufzustellen, nur sollte uns eine Reihe ernster Anzeichen zum Nachdenken anregen, wie lange unsere Lücken im Heere noch geschlossen werden können. Es ist mir wohl bewußt, daß, wenn wir, wie die Franzosen, unsere Volkskraft restlos ausschöpfen würden, der Krieg noch recht lange geführt werden könnte. Dies sollte aber gerade vermieden werden. Jeder, der mit der Front in enger Fühlung lebt, wird schon jetzt oft tief traurig, wenn er die Kinder sieht, die in die Gräben wandern müssen. Wir sollten daran denken, daß Deutschland auch nach dem Kriege noch genügend Kräfte übrig behält, um seine Mission zu erfüllen. Von den finanziellen Verhältnissen soll hier garnicht gesprochen werden, weil ich nicht in der Lage bin, über diese Frage ein kompetentes Urteil abzugeben. Wirtschaftlich hat sich Deutschland großartig den Kriegszeiten angepaßt, und dennoch muß auch hier der Wunsch bestehen, daß der Krieg nicht unnötig in die Länge gezogen wird, da sonst zu große Werte verloren gehen. Auch die trotz aller guten Maßregeln der Regierung dauernd steigende Teuerung der Lebenshaltung der armen Bevölkerungsklassen, die große Futternot auf dem Lande und was damit in Zusammenhang steht, lassen eine Abkürzung des Krieges sehr erwünscht erscheinen. Somit liegt die Beantwortung der Frage: was können wir erreichen? einfach so:

Bekommen wir einen Sonderfrieden mit Rußland, so können wir im Westen reinen Tisch machen. Ist dies aber nicht möglich, so müssen wir versuchen, eine Verständigung mit England herbeizuführen ...

Nur auf diesen beiden Wegen ist meines Erachtens ein Ende abzusehen, und ein Ende muß abzusehen sein, wollen wir nicht unser Vaterland bis zur gänzlichen Erschöpfung weiter kämpfen lassen.

Gerade unsere momentane günstige Lage ermöglicht es uns, im angedeuteten Sinne zu verfahren.« –

Das also habe ich vor Weihnachten 1915 geschrieben und geraten – es hat nicht mehr genutzt, als wenn ich's in den Wind gerufen hätte. Ein ähnliches Spiel wiederholte sich im folgenden Jahre, und es wurde Herbst 1916, bevor der Reichskanzler mit seinen Erwägungen bis zu der Erklärung gereift war, daß von Aussichten auf einen Sonderfrieden mit Rußland nicht die Rede sein könne: Rußland hänge am Diktate Englands, und England wirke auf Fortsetzung des Krieges. Inzwischen hatten wir es allerdings zu einer Errungenschaft gebracht, die jede gütliche Verständigung mit dem zaristischen Rußland ausschließen mußte: wir hatten das Königreich Polen geschaffen und im Hochsommer 1916 ein polnisches Programm aufgestellt, das auf den Zaren und auf ganz Rußland wie ein Schlag ins Gesicht wirken mußte. Stürmer fiel, und im Vorfrühling 1917 fiel unter den anprallenden Wogen der von der Entente geförderten Revolution auch der Zar. Die Ostfront war in den Monaten, die dem Ausbruch des russischen Umsturzes folgten, ruhig, und erst am letzten Juni setzten die Russen mit dem zweiten Brussilow-Angriff ein, den unser zwei Wochen später vorgetragener Gegenangriff und Durchstoß westlich Tarnopol zu einem großen Siege über das in Zersetzung befindliche Heer gestaltete. Etwa zur gleichen Zeit, am 12. Juli, erfolgte endlich Bethmanns Rücktritt. Den in der Hauptsache richtigen Mitteilungen, die der Kanzler selbst im zweiten Bande seiner »Betrachtungen« über meine Stellung in den bezüglichen Vorgängen gibt, habe ich Wesentliches nicht hinzuzufügen. – Herr Michaelis, ein politisch ungeprüfter Mann, über dessen Können oder Versagen damals niemand so recht ein überzeugendes Urteil hatte, übernahm das Erbe. Soviel ich damals hörte, war Exzellenz von Valentini, als er – »Ein Königreich für einen Kanzler!« – händeringend nach einer ihm geeignet erscheinenden Persönlichkeit suchte, auf den im Rahmen seines bisherigen Arbeitsfeldes sicher hochverdienten Beamten verfallen.

Ich selbst habe Herrn Dr. Michaelis, den ich bis dahin nicht kannte, den man mir aber als besonders tüchtig und gewissermaßen als ein stilles aber tiefes Wasser gerühmt hatte, in jenen Julitagen des Jahres 1917, in denen ich auf Befehl Seiner Majestät im Zusammenhange der Bethmann-Krise mit den Parteiführern in Berlin verhandelte, im Schloß Bellevue unmittelbar vor seiner Präsentation bei Seiner Majestät zum erstenmal gesehen und gesprochen. Die Unterredung bewegte sich um die brennenden Fragen der durch den im Reichstagsausschuß erfolgten Vorstoß des Abgeordneten Erzberger geschaffenen Lage und mehr noch um den üblen Eindruck, den die in Form und Inhalt so unpolitisch, unklug und plump aufgezogene und daher unsere Interessen schwer schädigende Friedensresolution auf die Gegner machte. Statt als der Ausdruck ehrlichen Friedenswillens eines ungebrochenen Kämpfers mußte diese Kundgebung als ein Zeichen unserer militärischen Schwäche und schwindender Widerstandsfähigkeit erscheinen. Als Folgen konnte nur das Gegenteil der bezweckten Wirkung erwartet werden. – Ich fand Michaelis in der Hauptsache durchaus meiner Ansicht – konnte ihn zu einer Aufdeckung seiner eigenen Ideen in dieser kurzen Zwiesprache allerdings nicht recht bewegen und so auch kein Bild davon gewinnen, welche Pläne er zur Meisterung der überaus schweren Aufgabe, die ihm nach Herrn von Bethmanns Scheiden als Erbe zufallen sollte, in der Tasche trug. Nur daß hier beste Gesinnung und guter Wille zu einem gottesfürchtigen Vertrauen kamen, ließ sich erkennen. Das war nicht gerade viel, aber ich sagte mir: er steht vor seiner Audienz bei Seiner Majestät, er kennt deine Abwehrstellung gegen die bisherige Politik, weiß nicht, wie weit er zu dir reden darf – und man muß eben sehen.

Jedenfalls schien mir der Kanzlerwechsel der rechte Augenblick zu sein, um noch einmal den Versuch zu wagen, meine Stimme, meine Auffassung der Dinge den entscheidenden Stellen zu Gehör zu bringen. Mich trieb dazu, nach aller Kritik, die ich an Herrn von Bethmann Hollwegs Regierung stets geübt hatte, die Überzeugung, daß sich ein Urteil über ein System, das nun mit Bethmanns Ausscheiden zu einem gewissen äußeren Abschluß gekommen war, nicht in Ablehnung und Negation erschöpfen dürfe; daß, wer für sich das Recht der Kritik einer Leistung in Anspruch nimmt, damit auch die Pflicht trägt, Vorschläge für einen besseren Weg zu machen und vor Gegenwart und Zukunft zu vertreten.

So habe ich in jenen Sommertagen 1917, während derer wir in Rußland kämpften, eine weitere Denkschrift ausgearbeitet und gleichzeitig dem Kaiser, dem Reichskanzler und der O.H.L. eingereicht. Sie ist entstanden in Tagen, in denen ich als Führer meiner Heeresgruppe auf einen soeben bestandenen breiten Abwehrsieg an der Aisne und in der Champagne gegen eine Durchbruchsoffensive von neunundsiebzig französischen Divisionen zurückblicken konnte – und ich will das Urteil darüber, ob in ihr nun der »Kriegsfanatiker« und »Sieger« sich zum Worte meldet, oder ob sie ein Zeugnis meines Willens zum ehrenvollen Frieden ist, gerne der Allgemeinheit überlassen. Ich setze die hauptsächlichen Ausführungen dieser nach einer Unterredung mit dem klugen, politisch weitsichtigen Dr. Viktor Naumann entstandenen Denkschrift hierher, obwohl erst jene Abschnitte, die sich auf die auswärtige Politik beziehen, für meine Stellung zur Ostfriedensfrage Bedeutung haben, weil sie in ihrem Zusammenhange meine damalige Haltung auch zu mancher anderen kriegswichtigen Frage zeigt:

»Der Wechsel in der Reichsleitung, mit der zugleich eine neue Ära deutscher und preußischer Politik beginnen soll, wird es als eine natürliche Folge mit sich bringen, daß man die Bilanz aus der Vergangenheit ziehen muß, um nach ihrer Feststellung den Plan für die Zukunft auf einigermaßen sicherer Grundlage überhaupt entwerfen zu können. Meines Erachtens muß daher zunächst Aufklärung über folgende Punkte geschaffen werden:

  1. Wie groß ist unser Vorrat an Rohmaterial aller Art?
  2. Welches Höchstmaß der Verarbeitung dieses Materials ist möglich?
  3. Wie groß ist unser Vorrat an Kohle?
  4. Wie der an Nahrungs- und Futtermitteln?
  5. Wie steht es mit den Transportverhältnissen? ???

Hat man alles dies festgestellt, so wird man weiterhin sich darüber Klarheit zu verschaffen haben, wieviel zum Militärdienst verwendbare Reserven Deutschland im kommenden Jahr einziehen und ausbilden kann, ohne hierdurch seine durchaus notwendige wirtschaftliche Arbeitskraft zu gefährden.

Doch auch hiermit ist der Abschluß dieser Bilanz noch nicht beendet.

Wir müssen auch den moralischen Wert noch einsetzen, die Stimmung unseres Volkes, und bei ihrer Prüfung wird es sich voraussichtlich ergeben, ja man kann wohl ›gewiß‹ sagen, daß die Friedenssehnsucht in den weiteren Schichten der Bevölkerung eine recht starke geworden ist.

Die ungeheuren Blutopfer des nunmehr drei Jahre andauernden Krieges, die fast ausnahmslos jedes deutsche Haus und jede deutsche Familie in Trauer versetzt haben, die Aussicht, daß neue schwere Verluste an kostbarsten Menschenleben zu erwarten stehen, die Gemütsdepresston, die durch Entbehrung aller und jeder Art erzeugt und genährt wird, die Ernährungs- und Kohlennot, alles dies zusammengenommen hat eine Unlust in weiten Volksschichten, und zwar nicht etwa nur in sozialdemokratischen, erzeugt, die für die Fortführung des Kampfes ebenso erschwerend ist, wie sie zersetzend auf den monarchischen Gedanken gewirkt hat.

Rechnet man hinzu, daß die bestimmte Hoffnung auf schnelle Beendigung des U-Bootkrieges sich nicht erfüllt hat, so wird man sich über die ernsten Stimmungen kaum wundern dürfen. Genau die gleiche Ausstellung wie für uns selbst müssen wir nach dem besten uns zugänglichen Material für den Bestand bei unseren Bundesgenossen vornehmen, denn nur auf diese Weise erfahren wir, was wir überhaupt zu erwarten haben und daher leisten können.

Ist für uns und unsere Bundesgenossen die Antwort auf die bezeichneten Fragen gefunden, so werden wir uns einen annähernd richtigen Einblick in die Machtmittel und Reserven unserer Gegner zu verschaffen haben. – – Man darf aber schon heute, ohne als Schwarzseher verschrieen zu werden, es rund heraus sagen, daß ein Vergleich beider Aufstellungen, der unseren und der gegnerischen, kaum zu unseren Gunsten ausschlagen wird. –

Die natürliche Folge davon ist, daß selbst im besten Falle an eine Offensive nicht mehr gedacht werden darf, sondern nur an ein möglichstes Halten der Stellung bei intensiver Fortführung des U-Bootkrieges für eine gewisse Zeit.

Ist sie verstrichen und keine Hoffnung auf Beendigung des Kampfes eingetreten, so müssen wir den Frieden suchen, den unsere Diplomatie in der Zwischenzeit schon vorzubereiten hat.

Dies zu tun, ist um so mehr unsere Pflicht, als wir es uns selbst sagen können, daß unser größter Bundesgenosse, Österreich-Ungarn, gezwungen durch seine wirtschaftlichen, noch mehr durch seine innerpolitischen Verhältnisse, über eine sehr gemessene Frist hinaus den Krieg nicht mehr fortzuführen vermag. – – –

Ich brauche wohl garnicht erst zu erwähnen, daß auch in der Türkei die Verhältnisse nicht allzu rosig sind. –

Nun verkenne ich durchaus nicht: auch unsere Gegner befinden sich in einer sehr schlechten Lage, und auch in ihren Reihen scheut man den Winterfeldzug aufs äußerste, jedoch haben zwei Momente in letzter Zeit einen gewissen Umschwung der Stimmung hervorgerufen.

Zunächst der Eintritt Amerikas in den Streit und die dadurch wachgerufenen Hoffnungen, dann aber die vorschnelle Handlung des Deutschen Reichstags (Friedensresolution), die im feindlichen wie im neutralen Ausland als unsere glatte Bankerotterklärung angesehen worden ist. Heute glaubt man in London und Paris, ja selbst in Rom, abwarten zu können, weil die Frage unserer Waffenstreckung nur noch als eine zeitliche erscheint. – –

Was haben wir nun zu tun, um mit Ehren und möglichst mit Erfolg trotz alledem zu bestehen?

Zunächst, was sollen wir im Innern tun?

Innehaltung der Trennungslinien zwischen den einzelnen Reichsämtern, ohne die Gemeinsamkeit des Handelns aus dem Auge zu verlieren.

Trägt daher auch der leitende Staatsmann die volle Verantwortung für die innere und äußere Politik, so ist andererseits ein gedeihliches Zusammenarbeiten mit der O.H.L., dem Admiralstab usw. unerläßlich. Auch die großen Bundesstaaten müssen auf dem Laufenden gehalten werden.

Ernste Sorge bleibt nach wie vor die Regelung der Kohlen- und Ernährungsfrage.

Äußere Politik. Auch hier kann nur ein Wille herrschen, gestützt auf die gegenseitigen offenen Informationen der leitenden Stellen, Auswärtiges Amt, O.H.L., Admiralstab.

Offenheit gegen unsere Bundesgenossen muß uns Pflicht werden. Soweit es irgend angängig ist, haben wir die Neutralen zu schonen und ihren Wünschen entgegenzukommen. –

Jeder Gedanke des Friedenssuchens über England ist aufzugeben, und zielbewußt muß auf den russischen Frieden hingearbeitet werden.

Es besteht die Hoffnung, daß nach dem Abschlagen der jetzigen Offensive ein Stimmungswechsel in Rußland eintreten wird; dann heißt es, den richtigen Zeitpunkt erfassen.

Wir können auch die Neutralen verständigen, daß wir im wesentlichen einen Frieden auf dem status quo haben wollen; sie werden das der anderen Seite mitteilen, zugleich müssen wir durch gewandte Unterhändler die Russen bearbeiten.

Es ist fast sicher anzunehmen, daß der Westen ablehnt, dagegen steht zu hoffen, daß Rußland dann für sich den Frieden sucht. In dem Fall haben wir eine Situation geschaffen, die England, das schon unter der U-Bootnot stöhnt, zweifelhaft stimmen wird, ob es und seine Verbündeten noch weiter kämpfen sollen oder in absehbarer Zeit in Unterhandlung mit uns eintreten müssen.

Sollte jedoch Rußland nicht nachgeben, so können wir dann vor unser Volk hintreten und sagen: Wir haben alles getan, den Frieden herbeizuführen. Die Gegner – das ist nunmehr bewiesen – wollen uns aber vernichten, also müssen wir den letzten Nerv anspannen, ihren Plan zu vereiteln. – Vielleicht bringt ein solches Handeln uns ungeahnte Hilfe aus unserem Volke heraus. Unter allen Umständen ist es daher unsere Pflicht, auf einen nicht zu fernen Frieden hinzuarbeiten, denn haben die U-Boote innerhalb der nächsten Monate England nicht zur Einsicht gebracht, so nützt ihr ferneres Wirken nicht mehr in dem gleichen Maß wie zuvor.

Die Not wird bei uns steigen, die Auffüllung der Mannschaftsreserven bei uns von Tag zu Tag schwieriger werden.

Die Lebenskraft unseres Volkes wird durch weitere blutige Verluste sich mindern, im Innern können Streiks und Aufstände kommen, ein Brachliegen der Munitionserzeugung kann uns wehrlos machen. Die finanzielle Belastung des Reiches wird ins Riesenhafte wachsen, die Bundesgenossen werden möglichenfalls ihren Frieden mit den anderen suchen, die Neutralen zum Anschluß an die anderen gezwungen werden.

Politik treiben bedeutet den Mut besitzen, der Wahrheit ins Antlitz zu sehen. Eine Gefahr kennen und erkennen, heißt sie schon halb überwunden haben.

Es handelt sich heute um die Erhaltung der Dynastie, um den Bestand des Deutschen Reiches und das Fortbestehen des deutschen Volkes. Diktieren unsere Gegner den Frieden, dann ist der letzte Buchstabe hohenzollernscher, preußischer und deutscher Geschichte mit dem gleichen Federstrich geschrieben. Dazu darf es nicht kommen, und daher ist es unsere Pflicht, wenn es sein muß, auch auf einen Verständigungsfrieden einzugehen. Ein solcher bringt uns zwar eine Enttäuschung, aber eine uferlose Verlängerung des Krieges könnte uns im Frühjahr 1918 allein, ohne Bundesgenossen, nach dreieinhalb Kriegsjahren aus schweren Wunden blutend der ganzen Welt gegenüberstehen sehen, uns mit Vernichtung bedrohen.

Erhalten wir einen baldigen Frieden mit dem östlichen Gegner, so wird sich auch das Resultat für uns ergeben, daß Rußland als wirtschaftliches Expansionsgebiet uns gewonnen ist; kommt er zu spät, so kommen wir zu spät, weil der Amerikaner sich in dem weiten Reich bereits eingenistet hat.

Im ersteren Falle ist aber der Krieg finanziell für uns gewonnen, auch daran müssen wir denken.

Eins steht fest: Behaupten wir uns in diesem Kriege, so sind wir tatsächlich die Sieger, weil wir gegen die ganze Welt gekämpft haben, ohne vernichtet zu werden.

Dies wird uns ein unerhörtes Ansehen nach dem Kriege verschaffen und eine gewaltige Machtvermehrung.

Unsere Lage gleicht der Friedrichs des Großen vor dem Frieden von Hubertusburg. Er gilt in der Geschichte mit Recht als Sieger, weil er im Kampf nicht unterlag.

gez. Wilhelm,
Kronprinz des Deutschen Reiches
und von Preußen.«

 

Im März des Jahres 1918, rund dreiviertel Jahre nach dem Entstehen meiner Denkschrift haben wir einen Sonderfrieden mit dem revolutionären Rußland geschlossen – aber was für einen Frieden! Auf der einen Seite mit der herrischen Gebärde des Siegers, der seinen Willen diktatorisch aufzwingt, auf der anderen Seite nachgiebig und willfährig vertrauend in Fragen, die unser eignes Lebensmark berührten. Herr Joffe durfte, allen Warnungen Helfferichs zum Trotz, in Berlin einziehen und seine Rubel für die Weltrevolution in Deutschland rollen lassen. – Immer wieder das gleiche Bild: Halbheiten.

Nein, die Regierung hat meines Wissens nicht genug ernstliche Versuche unternommen, um die Arbeit der Waffen durch nachdrücklich und rechtzeitig eingeleitete, zulängliche politische Maßnahmen zu ergänzen.

 

Ich habe durch Heranziehung von Denkschriften, die ich im Dezember 1915 und im Juli 1917 dem Kaiser, der Obersten Heeresleitung und dem Reichskanzler eingeschickt oder übergeben habe, gezeigt, wie ich mehrfach während des Krieges die Anbahnung eines Verständigungsfriedens mit dringenden Worten angeregt habe. Die beiden hier erwähnten Ausarbeitungen erschöpfen das Bild meiner vielfältigen Bemühungen in dieser Richtung natürlich bei weitem nicht. Die aktenmäßige Zusammenstellung all dessen, was ich im Laufe der Kriegsjahre seit den Tagen der ersten Marneschlacht zur Durchsetzung meiner in all dieser Zeit niemals verleugneten Ideen über die Unerträglichkeit einer unbegrenzten Kriegsdauer für Front und Heimat, über die Dringlichkeit eines Verständigungsabkommens und über die Vorzüge eines solchen (auch wenn es zunächst wenig vorteilhaft erschiene!) vor einem nach uferloser Erschöpfung erreichten Ausgleich unternommen habe, würde den Rahmen, der diesen Aufzeichnungen gesetzt bleiben soll, sprengen. Dazu kamen meine Versuche, irrige allzu optimistische Auffassungen, die an einzelnen hohen Stellen über die Heimatnot, über die Tragfähigkeit der in dem letzten Jahre weit überlasteten Fronttruppen und über viele andere ähnliche Fragen herrschten, auf Grund meiner in direkter Berührung mit den leidenden Menschen gewonnenen Einsicht und Überzeugung zu korrigieren. All diese Dinge bleiben einer anderen noch im Werden befindlichen Schrift vorbehalten.

»Aber« – so werden viele hier einwenden – »vor der Öffentlichkeit und namentlich vor der Truppe hat der Kronprinz doch mehr als einmal in Wort und Schrift Siegeswillen und Siegeszuversicht bekundet und gefordert. Er wollte doch sogar darauf hinwirken, daß gewisse deutsche Zeitungen, die diesen Siegesglauben dämpften, nicht an die Front gelangen sollten.«

Jawohl, das habe ich getan! Und tat damit meine Pflicht als Heerführer und Soldat, genau so, wie ich meine Pflicht als politisch denkender Mann und als Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen tat, wenn ich vor den maßgebenden Befehls- oder Regierungsstellen auf Anbahnung eines Verständigungsfriedens oder auf klare Erkenntnis auch unangenehmer Wahrheiten hinzuwirken suchte. Ich bin dabei der festen Überzeugung, daß diese beiden, scheinbar so verschieden gerichteten Handlungen nur in dieser Verbindung jede für sich ein volles Recht besitzen, daß sie eine ohne die andere unvollkommen geblieben wären. Was ich bedaure, ist allein der Umstand, daß ich als politisch unverantwortlicher Ratgeber nicht Mittel oder Möglichkeiten hatte, auf die politisch verantwortlichen und entscheidenden Stellen erfolgreich einzuwirken – daß ich sehenden Auges politische Entschlüsse oder Entschlußlosigkeiten miterleben mußte, die nach meiner Auffassung Schicksalsfragen über Deutschlands Zukunft aufs unglücklichste entscheiden mußten.

Der Hinweis auf meine Anregung eines Verbotes verschiedener den Krieg in seiner um jene Zeit geltenden Form methodisch sabotierender Blätter für die Front ist mir vorhin in die Feder gelaufen. Man hat damals bei den Demokraten mit großer Entrüstung von einer beabsichtigten Knechtung der Pressefreiheit und der öffentlichen Meinung durch die etwaige Durchführung der Idee geredet. Damals, als es sich darum handelte, die Truppe, an deren Kampfkraft alles hing, ihrer alleinigen Aufgabe zu erhalten, sie vor einer Verstrickung in abwegige, zersetzende Fragen zu bewahren. Es ist denn in der Tat auch nichts erfolgt, man ließ das Übel ruhig weiterfressen. –

Nur mit einem von hartem Siegeswillen und Siegesglauben erfüllten Volke hinter sich konnte die Regierung Schritte zur Herbeiführung eines Sonderfriedens, einer Verständigung mit dem einen oder dem anderen unserer Gegner wagen. Zwecklos und geradezu verderblich und schädigend für unsere Lage war jeder Versuch, wenn wir dabei den Eindruck machten, als ob wir etwa ein dringendes Friedensbedürfnis hätten und den Krieg nicht lange aushalten könnten. Zweck- und sinnlos waren daher unsere offen in die Welt hinausgeschrieenen Friedensangebote – die überdies noch keinerlei klares Bild von dem gaben, was wir eigentlich wollten. Sie hatten nur den Erfolg, daß sie der Hoffnung der feindlichen Völker auf unseren baldigen Zusammenbruch psychologische Stützen gaben und daß sie damit den Siegesglauben und den Willen der Gegner, bis zum » knock out blow« durchzuhalten, stärkten – uns zum Schaden, uns zum Verhängnis.

Umgekehrt aber waren Siegeswille und Siegeszuversicht für die Dauer und bis zum glücklichen Ende nur in einem Volke und in einem Heere aufrecht zu erhalten, die an ihrer Spitze nicht nur eine kraftvolle kühne Heeresleitung wußten, sondern gleichzeitig, und dieser völlig ebenbürtig, auch eine Regierung, die während des blutigen Ringens zu Lande, zu Wasser und in der Luft keine Sekunde lang die Beherrschung der zahllosen Fäden und Drähte der äußeren Politik aus dem Auge verlor, deren zum starken Zugriff bereiter Hand nicht die leiseste, etwa für unser Schicksal nutzbare Bewegung auf dem im Weltkriegsfieber sich windenden Erdball entging. Eine Regierung, die in kühnem Fernblick, aber gleichzeitig in weiser Abwägung und Erkenntnis des Möglichen den Weg vor sich sah, auf dem sie das Vaterland so rasch wie möglich zu einem glücklichen und ehrenvollen Frieden führen konnte.

 

Ein sicherer Wegführer zu einem brauchbaren Frieden konnte nur eine solche Regierung sein, die in ihrer inneren Politik das gesamte Volk in all feinen verschiedenen Gliedern, Schichten, Richtungen und Parteien fest in der Hand hatte.

Daß es bei einem zu inneren Zwistigkeiten und Spaltungen so besonders neigenden Volke wie dem deutschen ganz außerordentlich schwer war, die Vielheit der Meinungen, Wünsche und Dränge zu einheitlicher Kraft zu sammeln, ist sicher. Das nationale Empfinden, das etwa in England und Frankreich während der ganzen Dauer des Krieges alle Parteien zu einem einzigen Willen zusammenschloß, hat bei uns Deutschen leider vielfach durch Parteigesichtspunkte, die nur allzu bald da und dort wieder zur Geltung kamen, offensichtliche Aufsplitterungen erfahren; hierdurch wurde die Idee des Burgfriedens erschüttert und wurden Einbußen unserer Stoßkraft herbeigeführt. In dieser Richtung ist keineswegs allein auf der linken Seite gegen den großen Gedanken selbstloser vaterländischer Opferfreudigkeit gesündigt worden. Auch eine verfehlte Wirtschaftspolitik, die dem Kriegsunternehmertum uneingeschränkte Selbständigkeit und uferlose Gewinnchancen ließ und die kriegsnotwendigen Betriebe dem um sein Dasein ringenden Staatswesen nicht straffer einzuordnen verstand, hat durch diese Unterlassungssünde zweifellos zu einem frühzeitigen und bald sehr schroffen Zutagetreten der alten sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze beigetragen. – Dazu hat der geradezu krankhafte Hang zu einer mißverstandenen Objektivität um jeden Preis weite Teile unseres deutschen Volkes auch während des Krieges immer wieder zu breiten Erörterungen und bis zur seelischen Flagellation gesteigerten Selbstprüfungen vor aller Welt getrieben – hat diese Welt schließlich glauben gemacht, daß die Gewissenhaften unter uns an unserem Recht, an unserem Tun und Wollen verzweifelten. In England aber haben zur gleichen Zeit alle Parteien für jedes Programm und jede Handlung ihrer Regierung nur den einen alten starken Grundsatz der festgefügten Nation gehabt: » Right or wrong – my country!«

Ein armer Held solch mißverstandener Objektivität, ein Mann, in dessen Herzen die starke Flamme für die größere Idee niemals auflodern konnte, ist auch der erste Kriegskanzler des Reiches gewesen. Seine am 4. August 1914 im Reichstage abgegebene Erklärung über unseren Einmarsch in Belgien bleibt das große bittere Schulbeispiel für sein Unvermögen, die Seele des eigenen Volkes und die Mentalität der Gegner zu verstehen. An jenem 4. August 1914, und ehe noch ein Schuß da drüben gefallen war, hatten wir Deutschen die erste große Schlacht vor den Augen der Welt verloren. –

Und blind für alles Werden und Geschehen um ihn ist er auch während der langen Jahre, die wir ihn dann im Laufe des Krieges noch ertragen mußten, geblieben. – So hat er immer wieder hervorgehoben, es sei ein besonderes Verdienst der sozialdemokratischen Partei gewesen, daß sie sich zu Beginn des Krieges zur Mitarbeit gestellt habe. Als ob die Arbeitermassen damals nicht ihre Führer einfach hinweggefegt hätten, wenn die sich etwa gegen ein Mitmachen ausgesprochen hätten. War doch damals das ganze deutsche Volk einmütig der tiefen Überzeugung, daß wir an der Schwelle eines uns aufgezwungenen, unausweichlichen Krieges standen, aus dem nur entschlossener Kampf- und Siegeswillen uns zu einem gesicherten Frieden bringen konnte. Daß manche Führer der äußersten Linken im stillen einen restlosen deutschen Sieg niemals gewünscht haben, scheint dem Kanzler lange verborgen geblieben zu sein. Getan hat er jedenfalls nichts gegen all ihre Bestrebungen, die darauf ausgingen, das Vertrauen der Massen in die deutsche Sache zu untergraben und zu erschüttern.

General Ludendorff führt in seinen Kriegserinnerungen bewegte Klage darüber, daß die Regierung in der Heimat so gut wie nichts unternommen habe, um den Willen zum Siege im deutschen Volke lebendig zu erhalten und die defaitistischen Strömungen energisch zu bekämpfen. Auch ich konnte mich während des Krieges dem gleichen Eindruck, daß die berufenen Stellen das Anschwellen dieser Gegenströmungen ohne jede tatkräftige Abwehr duldeten, nicht verschließen. Der Defaitismus, der in Frankreich, England und Amerika als ein gegen die Notwendigkeiten der Stunde und gegen das Staatsinteresse gerichtetes Prinzip mit rücksichtsloser Tatkraft erstickt wurde, konnte bei uns die üppigsten Blüten treiben. Hilflos stand unsere Regierung ihm gegenüber, und sie glaubte durch weiche Nachgiebigkeit die antinationalen Treibereien beschwichtigen und beschwören zu können. Widerstandslos ließ sie die Dinge laufen und schien sich über das schicksalsschwere Ende, in das sie so über kurz oder lang ausmünden mußten, die letzte Klarheit garnicht geben zu wollen.

Wo irgend Schwierigkeiten aufwuchsen und Hindernisse sich ergaben, da sollten wieder die kleinen Mittelchen, die halben Maßregeln, die mit beiden Händen hingestreckten übergroßen Konzessionen oder das zaghaft und zu spät gewährte Entgegenkommen helfen. Sie gaben Flickwerk, mit dem man sich notdürftig behalf, bis dann am Ende alles aus den Fugen ging. – Zivildiktatoren mit starkem, weg- und zielbewußtem Siegeswillen, wie Clemenceau und Lloyd George solche für ihre Länder gewesen sind, haben bei uns vollständig gefehlt. Je länger der Krieg dauerte, umso autokratischer und straffer wurde in den Ländern unserer Gegner regiert, umso unsicherer und nachgiebiger gegen jeden Druck von links bei uns. – Den heimischen Munitionsarbeitern wurden, um sie bei guter Stimmung zu erhalten, phantastische Löhne bewilligt. Ihre Begehrlichkeit wurde dadurch nur gesteigert, die Drückebergerei nur noch lohnender prämiiert, der Frontsoldat noch mehr verärgert und kriegsunlustig gemacht. Warum wurde nicht jede kriegswichtige Arbeit in der Heimat als Wehrpflicht geregelt? Warum wurden die zu der Heimatarbeit Eingezogenen nicht in Entlohnung und Verpflegung den Heeresangehörigen gleichgestellt? Man redete ja bis zum Überdruß von den pflichttreuen Heimatkämpfern! Die Organisation in diesem Sinne hätte Kriegsarbeitgeber und Kriegsarbeitnehmer mit gleicher Kraft umspannen müssen.

Zur Zusammenfassung des Heimatkampfes wurde endlich – und erst auf das Betreiben der O.H.L., deren Sache das wieder garnicht war – das Hilfsdienstgesetz eingeführt. Aber wie verwässert, wie verstümmelt sah das aus!

Entschlußlos und wenig glücklich ist das Verhalten der Regierung auch in dem Probleme der preußischen Wahlrechtsfrage während des Krieges gewesen. Die Sozialdemokratie trieb eine große Propaganda mit dem zur Parole erhobenen Begriff und schreckte – während draußen unsere Heere in schwerstem Ringen lagen und mit ihrem Wohl und Wehe von dem Weiterarbeiten des versorgenden Mechanismus in der Heimat abhängig waren – selbst vor Streikdrohungen nicht zurück.

Demgegenüber gab es für die Regierung nur zwei Wege: Entweder stellte sie sich auf den Standpunkt, daß der Krieg keine geeignete Zeit für Verfassungsänderungen sei, zumal während des Krieges der beste Teil des Volkes, der an der Front unter den Waffen stand, von der Mitwirkung an der Neugestaltung ausgeschlossen war – dann mußte sie sich aber auch dazu aufraffen, jede auf eine gegenteilige Auffassung zielende Agitation rücksichtslos zu unterdrücken. Oder die Regierung entschloß sich für diese Wahlrechtsänderung – dann hätte sie aber auch vor einer schnellen Auflösung des Abgeordnetenhauses nicht zurückschrecken dürfen, um kein Mittel unversucht gelassen zu haben, ihren Willen durchzusetzen.

Die Regierung wählte auch hier den Weg der Halbheiten.

Als mir der Chef des Zivilkabinettes, Exzellenz von Valentini, 1917 die sogenannte Osterbotschaft mitteilte, erklärte ich ihm mein Befremden über dieses Stückwerk, indem ich darauf hinwies, daß mit einem derartigen Erlaß niemand zufrieden sein würde. In kurzem würde die Regierung doch gezwungen werden, das gleiche Wahlrecht zu geben – da geschähe das doch schon besser jetzt und aus freiem Entschluß Seiner Majestät. Valentini erwiderte: »Das gleiche geheime Wahlrecht bleibt ausgeschlossen; es ist ein Pluralwahlrecht ähnlich dem belgischen beabsichtigt.« Zeuge dieser Unterredung war mein Generalstabschef der Heeresgruppe, Graf von der Schulenburg.

 


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