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Der Januarnachmittag dämmerte, als in Villa Hildburg die Vorsaaltüre leise geschlossen und von außen geöffnet wurde.
Moritz, der Diener, hatte es aber doch gehört und sah überrascht nach, wer komme. Er erschrak fast, als er im Halbdunkel seinen Herrn erkannte.
Er wollte schnell das elektrische Licht einschalten, aber Argobast winkte ihm ab. Er wollte ihm beim Ablegen des Überziehers behilflich sein, aber der Herr schüttelte den Kopf, half sich selbst und bedeutete Moritz, sich nicht um ihn zu kümmern.
Langsam, fast lautlos und einigemal stehenbleibend, stieg Argobast die breite Holztreppe nach dem ersten Stockwerk empor und trat in sein Zimmer.
Nur sieben Wochen war er nicht hier gewesen. Aber alles kam ihm im eigenen Hause so fremd vor, als kehre er von einer langen, langen Reise zurück.
Erschöpft setzte er sich in den großen Polsterstuhl und schloß einige Minuten die Augen, als müsse er sich erst an die frühere Umgebung wieder gewöhnen. Dann starrte er mit wiedergeöffneten Augen ins Leere.
Er erhob sich, trat vorsichtig an die Türe zum Nebenzimmer und lauschte. Von Zeit zu Zeit vernahm er das ihm bekannte Geräusch vom Umschlagen eines Blattes. Es war alles wie früher, es schien sich hier nichts geändert zu haben. Frau Hilde lag in ihrem Zimmer auf dem Diwan und las.
Sie konnte lesen? fragte er sich. Sie hatte die Ruhe, zu lesen, da sie doch aus der Zeitung wissen mußte, daß heute die Entscheidung fiel? Aber er kannte ja ihre Gewohnheit, sich von peinlichen äußeren Ereignissen durch Lektüre abzulenken. Widrige Eindrücke konnten sie manchmal außer Fassung bringen. Und ob sie las? Vielleicht blätterte sie nur. Er kannte auch das an ihr. Sie blätterte so hastig.
Die Eheleute hatten, während Michael in Untersuchungshaft saß, nur wenige Briefe gewechselt. In seinem ersten Schreiben hatte er ihr seine Verhaftung mit dem Hinweis auf die zweifellos in den Zeitungen veröffentlichten Ereignisse mitgeteilt und von einem baldigen glücklichen Wiedersehen gesprochen.
Hilde antwortete im gleichen Sinne und schrieb in beruhigenden und zuversichtlichen Worten, daß im Hause alles seinen, regelmäßigen Gang gehe, so daß er sich um sie und um Ottilie nicht zu sorgen brauche.
Auf den Sachverhalt näher einzugehen, verbot sich nach den Vorschriften der Untersuchungshaft von selbst. Einblicke in ihr gegenseitiges Verhältnis zu bieten, entsprach nicht seinem Empfinden. Auch Hilde vermied, ihre Gefühle zu Papier zu bringen.
Offenbar im stillschweigenden Einverständnisse war nie mit einem Worte davon die Rede, daß Hilde oder Ottilie ihn im Gericht besuchen sollten. Er begriff, daß nach seinen kriminalpsychologischen Experimenten ihrer Natur ein solcher Schritt fast unmöglich war. Ottilie selbst schrieb nicht, sie ließ ihre Grüße durch die Mutter ausrichten.
Gefühlsausbrüche, wie man sie sonst in dem Briefwechsel von Untersuchungsgefangenen liest, kamen nicht zum Vorschein. Die gegenseitigen Beziehungen waren wohl aus der Grundlage jahrelangen Vertrauens und treuer Liebe so gefestigt, daß es keiner besonderen Versicherungen bedurfte, die in solchen Briefen meist die Anzeichen vorausgegangener häuslicher Unstimmigkeit zu sein pflegen.
Selbst in den wechselseitigen Weihnachts- und Neujahrsbriefen – unglücklicherweise fielen die Festtage gerade in diese schwere Zeit – ließ sich wohl in der Absicht, sich gegenseitig das Herz nicht noch schwerer zu machen, eine verhaltene Gefühlsbeherrschung erkennen.
Argobast öffnete leise die Verbindungstür. Er hatte sich nicht geirrt; seine Frau lag auf dem Diwan. Aber sie las nicht, die Hand mit dem Buche hing schlaff herab.
»Ottilie?« fragte sie, ohne aufzusehen.
»Ich bin's« antwortete er zögernd.
Sie wendete ihm das Gesicht zu und erhob sich, indem sie das Buch schnell weglegte. »Du bist es?«
»Ja, Hilde.«
Sie sah ihn lange verwundert an. Endlich fragte sie: »Wie kommst du nach Hause? Hat man dich entlassen? Bist du entflohen?« Dabei stand sie wie angewurzelt an derselben Stelle vor dem Diwan; ein großer runder Tisch trennte sie.
»Ich bin nicht entwichen« sagte er mit trübem Lächeln.
Mit halbgeöffnetem Munde sah sie ihn wieder an, ohne ein Wort zu sagen.
»Das Verfahren ist eingestellt worden« setzte er langsam hinzu.
»Dann haben die Zeitungen heute morgen falsch berichtet?« fragte sie lebhaft. Wie ein Sonnenstrahl flog es über ihr vergrämtes Gesicht. »Du hast nicht eingestanden?« Sie trat ganz dicht an den Tisch heran und hing an seinen Mienen.
Er wich unwillkürlich einen Schritt nach der Tür zurück. »Das Geständnis ist richtig.«
Sie beugte sich, als habe sie nicht recht gehört, mit dem Kopf ein Stück nach vorn.
»Die Anklage ist niedergeschlagen worden, weil – weil der Fall verjährt ist« erklärte er ernst.
»Verjährt? Was heißt das?« fragte sie, indem ihre etwas verschleierten Augen immer noch auf ihm ruhten.
»Wenn zwanzig Jahre und mehr vergangen sind, kann man nicht mehr bestraft werden.«
»Obwohl man die Tat begangen hat?«
»Ja« sagte er tonlos.
Einen Augenblick noch sah sie ihn entgeistert an, so wie man einen ganz Fremden ansieht, der plötzlich zu uns hereintritt. Dann sank sie in die Kissen und bedeckte schluchzend ihr Gesicht mit beiden Händen.
Nun war er von der Türe, die er hinter sich schloß, zurückgetreten und stand am Tische.
Plötzlich schreckte sie auf und schien sich überzeugen zu wollen, wo er stand. »In deinem ersten Briefe schriebst du von einem baldigen glücklichen Wiedersehen« sagte sie etwas heiser.
Er nickte.
»Später schriebst du niemals etwas Gegenteiliges.«
Er widersprach nicht.
»Wie konntest du mir solche Hoffnungen machen, wenn du –« Sie vollendete nicht.
»Damals ahnte ich noch nicht, weshalb ich ein Geständnis ablegen würde.«
Sie faßte sich mit der Hand ans Herz.
»Bitte, wir wollen uns nicht in solchen juristischen Ausdrücken bewegen«, sagte sie hastig, »die ich vielleicht falsch verstehe. Entspricht das alles der Wahrheit, was du nach dem Zeitungsbericht zugestanden hast – du hast –?«
Er neigte wieder sein Haupt. »Es ist richtig, Hildegard. Ich will dir alles noch eingehender, als ich vor Gericht getan habe, erklären.«
»Später – vielleicht später!« rief sie nervös, ihr Gesicht wieder in die Kissen verbergend.
Er blieb an seiner Stelle stehen und schien sich mit keinem Schritte näher zu wagen. Er sagte nichts und wartete ab, daß sie sich etwas beruhige.
Endlich fragte er: »Kannst du mich anhören?«
Sie trocknete sich schnell die Augen. »Wie denkst du dir die Zukunft?« fragte sie, auf dem Diwan sitzend, in etwas verändertem Tone.
Er hatte diese Frage erwartet.
»Die Hütte lasse ich in ein Aktienunternehmen umwandeln« antwortete er. »Das hatte ich mir ja immer vorbehalten. Die Nachfrage ist groß; das läßt sich begreifen. Die meisten Aktien fallen mir selbst zu. Ich brauche nicht weiterzuarbeiten. Die Dividenden werden außerordentliche sein – für unsere Zukunft ist gesorgt.«
Sie sah an ihm vorüber und fragte: »Was soll aus Ottilie werden? Weißt du, daß sie Ottokar sein Jawort zurückgegeben, daß er ihren Verzicht angenommen hat?«
»Wann hat er das getan?«
»Vor fünf Wochen schon – es stand in den Zeitungen, er selber hätte zunächst die Untersuchung gegen dich geführt.«
Er seufzte, gleichsam in der Erinnerung. »Das trifft zu – dann wurde sie ihm abgenommen – wie trägt Ottilie ihr Schicksal?«
»Ruhiger, als ich erwartete.«
»Es tut mir leid um unser Kind, Hildegard« sagte er mit bewegter Stimme. »Gerade er war der Charakter, mit dem sie unangefochten hätte durchs Dasein gehen können. Ich habe dir das oft gesagt.«
Hildegard antwortete nichts.
»Er ist eine glücklich veranlagte starke Natur« fuhr er sinnend fort. »Ich hatte gehofft, er werde unser Kind ungefährdet durchs Leben tragen. Nun hat er sich abgewendet. Diese Aufgabe sagte ihm wohl nicht zu. Ich begreife das. Der Reine, der Wahrhafte sollte, dachte ich, die Tochter des Schuldbeladenen in seine Obhut nehmen. Es soll nicht sein. Es gibt Naturen, die sich mit dem Schuldhaften nie – in keiner Weise – verknüpfen können. Vielleicht gehört er zu ihnen.«
Frau Argobast nickte bedeutungsvoll.
»Wie stellt sie sich zu mir?« fragte er wieder.
»Ich weiß nicht – sie hat sich nicht geäußert.«
Er holte tief Atem.
»Hältst du es für möglich«, begann Hildegard zögernd, »daß du hier am Orte bleibst?«
Er dachte einen Augenblick nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er endlich, »davon kann nicht die Rede sein – hast du einen Plan – wo möchtest du leben?«
Sie ließ den Kopf sinken.
»Wir können von unserem Gelde leben, wo wir es wünschen – in Deutschland oder im Auslande – vielleicht zunächst einige Jahre im Auslande. Mein Fleiß hat dieses Vermögen erworben, an dem das Verbrechen keinen Teil hat.«
»In der Zeitung stand es anders – Du sollst gesagt haben –«
»Was?«
»Daß aus deiner geheimen Schuld deine Arbeitskraft erwachsen ist.«
»Hast du das gelesen? Hast du das verstanden? Mein Geld ist ehrlich verdient – das weißt du ja selbst – wo möchtest du leben?«
Sie wendete sich ab. »Ich – ich werde mich später entscheiden.«
Er sah sie an. »Was soll das heißen?«
Sie zuckte die Achseln.
Er ging um den Tisch einige Schritte herum und stand nicht weit von ihr. »Worüber willst du dich später entscheiden? Wo du leben willst? Gewiß – es muß heute nicht sein – einige Tage haben wir Bedenkzeit.«
Er trat langsam wieder einen Schritt näher. Sie sah ihn ängstlich von der Seite an. Plötzlich stand sie auf und entwich vom Diwan an den blauen Kamin.
Er blieb an seiner Stelle wie angewurzelt stehen. »Was muß ich tun, Hilde, um dein altes Vertrauen wiederzugewinnen?« fragte er.
Sie sah ihn ernst an. »Das ist dahin«, flüsterte sie, »das kommt nicht wieder.«
In ihren Zügen lag eine steinerne Ruhe.
Er schwieg; kein Laut war hörbar.
»Laß diese Angelegenheit deine Nerven nicht überempfindlich beeinflussen.«
»Wenn du sie für so überempfindlich hieltest, hättest du sie schonen sollen –«
»Du weißt nicht, sagst du«, begann er wieder, als ob er Unheil ahne, »wie Ottilie sich zu mir stellt? Was hast du selber beschlossen?«
Sie rührte sich nicht.
»Ich kann mir nicht denken, daß dein Vertrauen ganz geschwunden ist« fuhr er zögernd fort. »Ein zwanzigjähriges Zusammenleben kann nicht mit einem Schlage ausgelöscht werden – bitte, sage mir ein einziges Wort.«
Ein tiefer Seufzer entrang sich statt der Antwort ihrem schweratmenden Busen.
»Du hast mein Werden und Steigen – hast mein Glück gesehen – das gibt Kräfte, auch gemeinsames Unglück zu teilen. Ich habe dich auf den Händen getragen – ich habe dir jeden Wunsch erfüllt.«
Einen kleinen Schritt trat er näher und sprach leiser: »Du bist meiner Natur gerecht geworden – wir haben in uns selber eine Quelle höchsten Genusses gefunden – das gibt eine unlösliche Bindekraft.«
»Da wußte ich nicht –« sagte sie errötend.
»Was wußtest du nicht?«
»Daß du – daß du getötet hast –!« stieß sie zwischen den Lippen hervor, ohne ihn anzusehen.
Unwillkürlich trat er wieder einen Schritt zurück. »Ja, du bist allerdings in der Lage, mir diesen Vorhalt zu machen. Ich kann das nicht ändern. Diese Dinge sind geschehen. Wir müssen also über die Dinge hinwegkommen, Hilde, wenn sie nicht über uns kommen sollen. Ich bin stark geworden in der schweren Schule der Schuld, das habe ich sagen wollen. Opfer habe ich genug gebracht. Was mir geblieben ist, halte ich mit Zähigkeit fest – verstehst du?«
Sie sah ihn mit merkwürdigen Blicken an.
»Sieh mich nicht mit solchen Augen an – gib mir die Hand, Hilde – du hast mir – nach sieben Wochen – zum Willkommen wahrhaftig noch nicht die Hand gegeben.«
Er streckte seine Hand verlangend nach ihr aus; zögernd reichte sie ihm ihre weiße Hand.
»Sie ist kalt«, sagte er, »in diesem warmen Zimmer – ich will sie, wie sonst, erwärmen.«
Er preßte ihre Hand an seinen Mund; sie zog sie, als fühle sie einen plötzlichen Schmerz, unter einem leisen Aufschrei zurück.
Er biß sich in die Lippen, seine Blicke verfinsterten sich.
»Beherrsche dich – locke die Leute nicht herbei« flüsterte sie ihm zu.
»Ich finde nicht, daß du mich begrüßest wie einen Wiedererstandenen, wie einen Totgeglaubten!« sagte er bitter. »Weshalb entziehst du deine Hand meinen Lippen? Das war sonst nicht deine Art. Deine Hand – welche – bietest du mir keinen Kuß?«
Er näherte sich – er wartete.
»Nein!« stieß sie fast heftig hervor.
Er erblaßte. Ihr Widerspruch reizte ihn. »Weshalb nicht? Wohl dem Mörder nicht –?« lachte er unheimlich.
»Vergiß nicht, daß du mir zwanzig Jahre lang dein Geheimnis und damit dein Innerstes verborgen hast« erklärte sie bebend. »Das bedeutet einen Vertrauensbruch über fast ein Vierteljahrhundert hinweg.«
»Sollte ich dir mein Geständnis zum Hochzeitsgeschenke machen?«
»Du hast mir ein ganz anderes Inneres – ein schuldloses, reines, edles vorgegeben – nun breche ich über der großen Enttäuschung zusammen.« Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme.
»Du hast meine ununterbrochene Sühne gesehen, ohne meine Sünde zu kennen.«
»Ich habe niemals an dir etwas wahrgenommen, was ich für eine Reue halten könnte – ich habe dich immer ruhig, gleichmäßig, besonnen, ohne Anzeichen von Schuldbewußtsein gesehen – sage mir, ob du Reue empfindest?«
Er zögerte mit der Antwort. »Vielleicht nicht das, was du und die Welt gemeinhin als Reue bezeichnen.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Also keine Reue« sagte sie tonlos. »Ich habe dich immer für den Mann innersten Friedens gehalten – du hast nie geseufzt – nie geklagt – du warst nie schwermütig, obwohl ernst – nie verriet Blässe oder Röte deines Gesichts innere Verlegenheit – du konntest keine Fliege töten – an keinem Bettler vorübergehen, ohne ihm etwas zu geben – Mitleid war dir ein notwendiges Gefühl – wenn du von Unglücklichen sprachst, glänzten dir die Augen – wirklich keine Reue? Du empfindest keine Reue über das vergossene Blut –? Sage mir –« Sie hatte mit bittender Stimme gesprochen.
Wie ein Turm von Erz ohne sichtbare Zugänge stand er da und sagte »Nein!«
Sie trat bleich zurück. »Du hast immer ruhig im Schlafe gelegen und niemals im Traume geschrien oder gejammert – was bist du für ein Wesen, wenn eigne Blutschuld dich nicht rührt, den sonst alles rührt?«
»Charaktere wie ich, Hildegard, bereuen nicht in solcher Weise, wie du schilderst. Mein ganzes Dasein, das sagte ich schon, war eine einzige tätige Reue.«
Sie schüttelte das Haupt und wollte das nicht gelten lassen. »Man muß es auch fühlen und aussprechen« sagte sie unter Tränen.
Er war nahe herangekommen und stand mit eigentümlichen Blicken vor ihr. »Wir wollen das ein andermal ausmachen, Hildegard – heute – sei gut – umarme mich.«
Er wollte bitten, aber seine Stimme versagte den bittenden Ton –
Sie rührte sich nicht. »Ich kann nicht – kann nicht mehr –« brachte sie hervor und wand sich wie unter Schmerzen.
Er stampfte mit den Füßen. »Schaudert dich vor mir? Ist dein Blut kalt? Ich will es dir warm machen.«
Eine Glutröte überflog ihr bleiches Gesicht. »Weshalb hast du die alten Zeitungen aufgehoben und die anderen Schriftstücke – das Wanderbuch?« wich sie ihm aus.
»Das wollte nun das Verhängnis.«
»Weshalb hast du die garstige Flamme nicht entfernt, wie ich oft dich bat?«
Er wurde ganz ernst. »Im Zeichen der Flamme bin ich groß geworden – sie war mein Talisman, mein Amulett – sie hat mein Leben geleitet – ich würde unter gleichen Verhältnissen immer wieder so handeln – hörst du? genau so! – du hast mir meinen Glauben unterstützt – hast die Flamme oft geküßt – besinne dich nur – erst seit ich sie tilgte, kam mein Lebensschiff dem Scheitern nahe.«
Er stand vor ihr, ganz nahe, er hauchte sie an.
»Die Flamme hat dich verraten!« rief sie. »Weshalb hast du mich nicht als Zeugin benannt?«
»Wofür?«
»Für den Nachweis –« sie sprach nicht weiter.
»Für welchen?«
Sie zögerte und wurde glutrot. »Daß du die Flamme –«
»Daß ich die Flamme nicht auf der Brust hatte?«
»Dem Untersuchungsrichter, der dich vorlud, schriebst du, du wolltest nicht aussagen.«
»Da wußte ich nicht – ich fürchtete eine Falle – du hättest mir schreiben – mich auffordern müssen.«
Sie erschien ganz verwirrt.
Er sah sie ungläubig an. Sie machte ein Gesicht, daß man nicht wußte, ob sie ihr Anerbieten im Ernst meine.
Dann lachte er merkwürdig.
»Wie kannst du mich so empfangen? In diesem schweren Kleide? In dieser geschlossenen Taille? Du weißt, wie ich dich liebe – heute ist Festtag, Hilde – ich bin freigesprochen worden – wir wollen tafeln –«
Er trat auf sie zu, um sie an sich zu ziehen; einen Augenblick wußte sie nicht, was sie beginnen sollte.
Er redete sich in seine Aufwallung immer mehr hinein. »Das Blut von meiner Hand ist tausendmal abgewaschen worden im Laufe der Jahrzehnte – das braucht dich nicht zu schrecken – und wenn es vor deinen Blicken wieder sichtbar werden sollte, presse dich an mich – wallendes Blut stillt tropfendes Blut.«
Sie sah ihn entsetzt an. Er war ganz verändert. In seinen dunklen Augen blitzte ein unheimliches Feuer. Er schien diese Veränderung zu fühlen, das brachte ihn zur Verzweiflung
Er wollte sie an sich reißen, als sie ihn mit einem Überaufgebot von Kräften zurückstieß. Er taumelte.
Kaum war es geschehen, so bereute sie. Aber das war nun zu spät. Auch ihr eigner Trotz war erwacht.
Bleiche Wut malte sich in seinen Zügen. Er war nicht wiederzuerkennen, so hatte sie ihn nie gesehen.
Todesangst überkam sie; ihre Glieder zitterten. Die Sinne schwanden ihr. Sie hatte keine Kräfte zum Umkehren. Sie wußte kaum, was sie tat.
»Du willst mich morden!« kreischte sie. »So mußt du ausgesehen haben, als du siebenmal stachst – siebenmal –« Sie kauerte sich zusammen, als wollte sie ihn um Gnade anflehen.
Er sah sie entgeistert an – lange – durchdringend. Es war, als stände er vor einer ganz fremden Welt, die kalt und leer an ihm vorüberzog. Mit einem Male beherrschte er sich. Seine gespannten Muskeln ließen nach. Er blickte fremd drein. Er sank in sich zusammen und wurde still, ganz still.
»Nun ist es vorbei«, flüsterte er vor sich hin, »nun ist alles vorbei – unwiederbringlich – ich überzeuge mich – du hast recht – jetzt erst weiß ich, was du sagen willst.« Er sank in einen Sessel.
Sie erhob keinen Widerspruch; sie kämpfte mit einer Schwäche. Der Augenblick war peinlich.
Unsagbarer Schmerz packte ihn nochmals für einen Augenblick. »Ich habe dem verlorenen Zuchthäusler, der mir fremd war, die rettende Hand gereicht, und mich, den Freigesprochenen, stößt die eigene Frau zurück«. Markerschütternd klangen seine Worte.
»Das war nun deine Art« sagte sie mit merkwürdigen Augen ganz langsam, als lege sich eine eisige Hülle um ihr Herz. Wie versteinert sah sie aus und versteinert war ihr zumute, wie sehr sie schluchzend nach Atem und Leben rang.
Draußen vor der Türe hörte man Geräusch. Er öffnete und sah hinaus. »Es hat niemand gerufen, Franziska« sagte er zu dem Stubenmädchen, das sich mit verstörten Mienen zu schaffen machte. »Wo ist Fräulein Ottilie?« fragte er noch.
»Sie wollte nur einen kurzen Weg machen.«
»Dann wird sie bald zurück sein – sagen Sie ihr, daß ich da bin – sie soll heraufkommen.«
Damit schloß er die Tür.
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