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Neunzehntes Kapitel

Die schönen Wochen gingen bei günstigem Wetter im Engadin zu Ende. Man näherte sich Mitte September.

Den Abschluß des Aufenthaltes bildete ein Ausflug von Maloja über Chiavenna nach dem Comer See.

Ottilie war noch nie in Italien gewesen, auch Ottokar kannte die oberitalienischen Seen noch nicht.

Da das junge Paar seine Hochzeitsreise nach Rom und Neapel machen sollte, wollte ihnen Argobast, der solche Einfälle liebte, von der diesjährigen Schweizreise einen Blick in das gelobte Land, wie er sagte, voraus gewähren.

Die Fahrt bis Chiavenna wurde mittels Zweispänners zurückgelegt. Man fuhr die zwölf Kehren der alten Straße über den zweihundertfünfzig Meter hohen Absturz hinunter und danach durch die großartige Landschaft des Bergeller Tales mit seinen Wasserfällen und Saumpfaden. Immer sichtbarer wurde der Übergang aus dem Schweizerlande nach Italien.

Die jungen Leute genossen das für sie gewissermaßen Symbolische dieses reizvollen Überganges mit vollen Zügen und richteten ihre sehnsuchtsvollen Blicke in die unbekannte, immer südlichere Ferne, wo sie in wenigen Monaten als jungvermähltes Paar weilen sollten.

Auf Ottiliens Nerven hatte die starke Höhenluft eine außerordentlich günstige Wirkung gehabt; sie war entzückend frisch und munter, voller Liebenswürdigkeit und Schalkhaftigkeit.

Papa Argobast hatte sich noch den besonderen Dank des Paares verdient, indem er seinem Versprechen gemäß die Schlafzimmerausstattung aus Arvenholz dem weitbekannten Tischler Maurizio, einem geschickten Schweizer in Sils, in Auftrag gegeben hatte.

Frau Hilde entwarf unter dem Beifall des Brautpaares jedes einzelne Möbelstück in einer Zeichnung mit allen Verzierungen und Maßen, und der Tischler hatte schon an einigen Proben erwiesen, daß er hiernach ausgezeichnet zu arbeiten verstand.

Noch mehr als an dem lieblichen Comer See, wo man die Gebirgskette im Norden gleich einem überwältigenden Hintergrunde des Naturtheaters bewunderte, gewannen die jungen Leute, ehe die Rückfahrt über den Brenner angetreten wurde, an dem Luganer See einen Begriff von der italienischen Landschaft.

Hier sahen sie zum erstenmal die große eigenartige Linienführung der einförmig bewaldeten Uferhöhen, die in ihrer Einfachheit und Natürlichkeit die klassische Landschaft umriß, welche, von einer glücklichen Sonne beleuchtet, den Kunststil, der sie belebte, erst hervorgezaubert hat.

Hier sah man auch bei einem leichten Gewitter eine seltsame Naturerscheinung.

Einer der ersten Blitze, der zur Erde herabschlug, löste sich in einer Reihe von mehr als zwanzig langsam verglimmenden Leuchtpunkten auf. Dieser Perlenschnurblitz, der zufällig von ihnen allen vom Luganer Hotelgarten am See beobachtet wurde, gewährte einen wundersamen, fast märchenhaften Anblick.

Jeder Zuschauer hatte dabei seine besonderen Betrachtungen und Gedanken. Das junge Paar, das Arm in Arm beobachtete, dachte an die kommende Hochzeit, die der reichen Braut vielleicht ein Perlengeschmeide bringen werde. Frau Hilde erinnerte sich ihrer Bühnenlaufbahn, da sie so oft mit unechten Perlen von der Bühne herab Bewunderung erregt hatte. Argobast hatte im stillen, er wußte selbst nicht, wie es kam, ein altes Sprichwort im Sinne: »Perlen bedeuten Tränen«.

Als nach der Heimkehr der junge Jurist mit frischen Kräften schon seit Wochen wieder im liebgewonnenen Dienste war, ließ ihn eines Tages der Erste Staatsanwalt Treuß zu sich kommen. Vor ihm lag ein dickes, ganz altes Aktenstück aufgeschlagen.

»Ich hätte Gelegenheit«, sagte der Vorgesetzte, »Sie mit einem sehr interessanten, freilich schwierigen Ermittelungsverfahren zu betrauen. Der Fall erfordert reifliche Erwägungen und eine volle Arbeitskraft. Ich weiß, daß Sie strebsam sind, und würdige Ihre Fähigkeiten. Sie kennen aus Ihrer Assessorenzeit meine Grundsätze und Arbeitsmethoden –«

Der ehemalige Assessor verneigte sich.

»Ich komme also sofort zur Sache. Der Vorgang ist folgender. Ich skizziere nur. Im vergangenen Juli vor fünfundzwanzig Jahren wurde draußen vor der Stadt ein gewisser Thomas Wrobel, ein reisender Handwerksbursche aus Seeligenstadt, ermordet und beraubt aufgefunden. Er hatte sieben Stiche im Leibe und in der Brust. Seine silberne Taschenuhr und vor allem ein Hundertmarkschein, den er unvorsichtigerweise hatte sehen lassen, fehlten –«

Treuß blätterte in den Akten und fuhr fort: »Es konnte festgestellt werden, daß er mindestens seit dem Tage vor der Ermordung mit zwei jungen Walzbrüdern gewandert war. Der Messerschmied Nikolaus Kurstosch wurde als der eine dieser Genossen ermittelt, da er zu einer Zeit, da dritte Personen von der Tat noch nichts wußten, gar nichts wissen konnten, – die Leiche war noch nicht entdeckt –, in einer Schankwirtschaft verdächtige Einzelheiten ausplauderte. Sie wissen – ein bekanntes Indiz –«

Custodies stimmte zu.

»Auch sonst machte er sich durch seine Unsicherheit auffällig. Dabei war er im Besitze zwar nicht eines Hundertmarkscheines, aber einer größeren Barsumme in Kassenscheinen und Silber. Über den Erwerb konnte er sich nicht ausweisen, er machte widersprechende Angaben. Ein haarscharfes Messer, an dessen Klinge verdächtige Flecken sichtbar waren, wurde bei ihm gefunden. Durch Zeugen ergab sich, daß er kaum zwei Stunden vor der Tat mit Wrobel allein, also ohne Beisein eines Dritten, in einer anrüchigen Wirtschaft vor der Stadt in der Nähe des Tatortes gesehen worden war. Das wären die wesentlichen Ergebnisse – vielleicht habe ich Kleinigkeiten ausgelassen.«

Der Erste Staatsanwalt schlug die lange, ausführliche Anklage auf.

»Dieser Kurstosch beteuerte seine Unschuld, versuchte nicht ohne erneute Widersprüche die verdächtigen Einzelheiten zu erklären und trat sofort mit der Behauptung auf, daß sein Wandergeselle, also der Dritte im Bunde, der Täter gewesen sein müsse. Von diesem wußte er nur, daß er sich Wolf genannt hatte und aus Goslar gebürtig sein wollte. Ein besonderes Merkmal gab er noch an: Dieser Wolf, der Schlosser gewesen sei, habe eine Flamme auf der Brust als Tätowierung getragen. Die Erörterungen nach diesem angeblichen Wolf in hiesiger Stadt und in Goslar blieben völlig erfolglos. So blieb der Verdacht allein auf Kurstosch sitzen, der ihn auf die Anklagebank vor die Geschworenen führte.«

Treuß hatte das Protokoll über die Hauptverhandlung aufgeschlagen, nannte die Namen des Vorsitzenden, der Beisitzer und des Staatsanwaltes und knüpfte daran persönliche Bemerkungen, daß er sich einzelner dieser Herren aus seiner juristischen Vorbereitungszeit noch erinnere.

»Es folgte die ziemlich dramatische Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht. Es geschah, daß am Tage derselben der Gerichtsvorsitzende, der Staatsanwalt und die Geschworenen je eine von derselben ungeschulten Hand geschriebene Zuschrift des Inhalts erhielten, daß nicht Kurstosch der Täter, dieser vielmehr vollständig unschuldig, ja nicht einmal Mitwisser sei. Eine unglückliche Kette von Zufällen, so hieß es in dem Schreiben, belaste Kurstosch nur anscheinend. Ob insbesondere der angebliche Wolf oder wer sonst der Täter sei, wurde nicht gesagt. Die Vorsehung – so lautete es sehr merkwürdig – habe sich vorbehalten, den wirklichen Sachverhalt für immer zu verhüllen. Sie müssen diese Schriftstücke eingehend studieren, Herr Kollege, sie sind, wie Sie schon aus diesen wenigen Andeutungen erkennen, kriminalpsychologisch sehr interessant –«

»Ich habe immer gefunden, Herr Erster Staatsanwalt, daß die alten Strafprozesse häufig viel tieferes psychologisches Interesse boten als heutzutage.«

»Ich weiß doch nicht, Herr Kollege« sagte Treuß nachdenklich. »Hören Sie weiter. Der Briefschreiber beteuerte hoch und heilig die Unschuld des Angeklagten und warnte die Geschworenen mit recht bewegten Worten – Sie werden ja lesen – vor einem entsetzlichen Justizmord. Die Briefe waren in Düsseldorf aufgegeben; der Absender hatte sich sehr stolz »der Wissende« unterschrieben. Die Verhandlung wurde einige Tage ausgesetzt, aber die Ermittelungen in Düsseldorf blieben erfolglos. Statt dessen kamen neue Warnungsbriefe von derselben Hand mit immer eindringlicheren Worten aus Elberfeld. Ob sie nun bei dem Wahrspruche der Geschworenen von Einfluß gewesen sind, wissen wir natürlich nicht, Herr Kollege, aber Kurstosch – das ist die Tatsache – wurde, offenbar aus Mangel an hinreichendem Beweis, freigesprochen. – Das ist die Vorgeschichte, Herr Kollege, nun kommen die Überraschungen aus der Gegenwart –«

Custodies sah mit gespannter Erwartung auf.

»Gestern ist hier mit dem Poststempel Leipzig ein an die Staatsanwaltschaft gerichteter Umschlag mit einer Reihe von Papieren eingegangen – hier liegen sie –«

Treuß entnahm dem Kuvert die Schriftstücke. Er zeigte zunächst ein altes Zeitungsblatt. »Hier haben Sie einen ausführlichen Bericht unseres Anzeigers über die damalige Hauptverhandlung, der auch den Eingang und die Verlesung der anonymen Entlastungsschreiben erwähnt. Nun erfährt man auch, wie Gericht und Staatsanwaltschaft sich dazu gestellt haben. Es ist, als lebte die Verhandlung selbst vor einem auf. Herr Kollege, wir pflegen über die Gerichtsberichterstatter gern die Nase zu rümpfen. Ich lasse mich eines Besseren belehren. Hier im Bericht haben Sie ein Bild, das Sie in den Akten vergeblich suchen.«

Custodies nickte.

»Der Gerichtsberichterstatter schreibt doch in seiner Art eine gewisse Rechtsgeschichte! – Aber weiter. Dieser Verhandlungsbericht – also in der alten Zeitung – ist nun am Rande mit einer ganzen Reihe von Notizen versehen, welche verschiedene Tatumstände des Vorganges richtigzustellen suchen. Man gewinnt den Eindruck, daß diese Korrekturen tatsächlich ein Wissender vorgenommen hat. Auch ähnelt die Tintenschrift auf dem Zeitungspapier der Handschrift des Anonymus vor fünfundzwanzig Jahren. Ganz auffällig ist aber diese Handschrift auf zwei anderen mitgeschickten Briefbogen, die sich meiner Ansicht nach ohne weiteres als Entwürfe oder aus irgend welchem Grunde sonst nicht zu Ende geschriebene Mitteilungen des Anonymus an die damaligen Gerichtspersonen darstellen – vergleichen Sie, bitte.«

Treuß legte die Schriftstücke dicht nebeneinander und zeigte die Ähnlichkeit der ziemlich großen Schriftzüge, die ohne jede Kunst und Wissenschaft auch der gebildete Laie für gleichartig halten mußte.

Auch Custodies hegte kaum einen Zweifel.

»Es hat sich also jemand«, erklärte der Vorgesetzte, »diese Papiere – das erscheint auffällig und wunderbar – aus jener Zeit bis jetzt aufgehoben – verstehen Sie?«

Die Briefbogen zeigten dieselbe Größe und wenigstens auf den ersten Blick auch dasselbe Papier. Der Wortlaut war bis auf einige Kleinigkeiten, deren Abänderung wahrscheinlich zur Wiederholung auf einem anderen Briefbogen geführt hatte, derselbe. Das vergilbte Aussehen der Tinte ließ mit einiger Sicherheit auf die Gleichzeitigkeit der Niederschriften schließen.

»Und endlich enthält unsere neueste Sendung ohne jedes Begleitschreiben, das überhaupt fehlt, diese Photographie.«

Treuß legte sie vor. Ein altmodisches Bild, Visitenkartenformat, das einen jungen Menschen im Kniestück darstellte. Das Bild war offenbar sehr alt, es war stark verblichen. Aber das Gesicht war noch deutlich zu erkennen, schmal und lang, mit etwas starrem Ausdruck.

Treuß drehte die Photographie um. »Der Photograph Böhrer in Goslar hat sie gefertigt – das Wort Goslar ist mit Bleistift unterstrichen – ebenso einige Male im Zeitungsberichte – man möchte nach dem ganzen Zusammenhange annehmen, daß dieser Mensch hier der angebliche Wolf aus Goslar – jedenfalls der mutmaßliche Täter – sein soll.«

Staatsanwalt Custodies nahm das Bild in die Hand und versenkte sich in die verblichenen Gesichtszüge, als wolle er sie durch den Blick seiner Augen wieder beleben.

Dann versicherte er, daß er den interessanten Kapitalfall mit besten Kräften bearbeiten werde, und bedankte sich bei dem Chef nach Besprechung der nächsten Schritte für das geschenkte Vertrauen.

*


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