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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Als der Messerschmied Kurstosch vor dem Staatsanwalt Custodies im schlesischen Amtsgericht zur Vernehmung erschien, machte er einen nach dem Vorausgegangenen überraschend besonnenen Eindruck.

Der Ankläger traf einen glücklichen Ton, der auch manchem anderen die Zunge gelöst hätte. Nur eine gewisse, anscheinend unüberwindliche Vorsicht und Scheu waren bei dem Zeugen zurückgeblieben.

Als er das Bild des mutmaßlichen Täters wieder zu Gesicht bekam, sah er es lange sinnend an. Dann erklärte er, daß er diese Züge heute mit ganz anderen Augen sehe als kürzlich in seiner ersten Verwirrung. Er habe begreiflicherweise über die Ereignisse viel nachgedacht, da sei die Vergangenheit, die er bisher gewaltsam aus seiner Erinnerung verscheuchte, wieder lebendig geworden und habe immer deutlichere Gestalt angenommen.

Er habe sich im Geiste in jenes unglückliche Wanderjahr zurückversetzt und könne sich heute Örtlichkeiten, Personen und Umstände wieder ziemlich genau vorstellen. Es komme ihm vor, als habe seine Erinnerung in der Zwischenzeit nur geschlafen und sei nun erwacht. Er müsse sagen, so wie der Mann hier auf dem Bilde aussehe, stehe sein damaliger Wandergenosse schon seit einigen Tagen deutlich vor ihm. Je länger er das Bild anschaue, desto bekannter, belebter wollten ihm die Züge erscheinen.

Doktor Custodies, der einige Ahnung von der Unzuverlässigkeit und Einbildungskraft des menschlichen Gedächtnisses hatte, ließ sich durch diesen hoffnungsvollen Anfang des Verhörs zunächst nicht zu überspannten Erwartungen hinreißen.

»Sie haben vor fünfundzwanzig Jahren Angaben darüber gemacht«, begann er, »daß Ihr Wandergenosse aus Goslar auf der Brust als Tätowierung eine Flamme getragen habe – halten Sie das aufrecht – besinnen Sie sich noch?«

»Jawohl, eine lodernde Flamme.«

»Ganz richtig – eine lodernde Flamme – so haben Sie schon damals gesagt – Sie haben sie sogar gezeichnet.«

»Das könnte ich heute wieder.«

»Dann tun Sie es.«

Der Staatsanwalt schob ihm ein Stück Papier und einen Bleistift hin.

Der Zeuge setzte sich und zeichnete, erst langsam, bedächtig, zuletzt schneller, fast hastig.

Doktor Custodies hatte die Akten aufgeschlagen und einem Umschlag einen Zettel entnommen.

»Schauen Sie mal an«, sagte er vergleichend, »wie gut sich Ihre Erinnerung, die Sie solange haben schlafen lassen, bewahrt hat. Dieselbe Gefäßform, aus der die Flamme lodert – dieselben Flammenzacken.«

Der Meister war selbst überrascht und traute seinen Augen kaum. »Was habe ich gesagt, Herr Staatsanwalt?«

»Früher haben Sie auch näher erzählt, wie der Goslarer zu seiner Tätowierung kam – wissen Sie das noch?«

»Wir kehrten in einer Penne ein, wo sich ein Fleischergeselle an uns heranmachte und uns beschwatzte, uns gegen einige Groschen tätowieren zu lassen.«

»Sie ebenfalls?«

»Ja.«

»Welches Sinnbild wählten Sie selbst?«

»Eine Schwurhand.«

»Das haben Sie auch vor fünfundzwanzig Jahren schon gesagt – weshalb eine Schwurhand?«

»Als Zeichen der Wahrhaftigkeit – der Treue.« Der Kleine sagte das sichtlich bewegt.

Der Staatsanwalt nickte.

»Es stimmt, Herr Kurstosch. Wie kamen Sie gerade dazu?«

»Weil ich die Lehren meiner alten Mutter im Herzen trug.«

»Ist Ihre Tätowierung heute noch sichtbar?«

»Nein.«

»Haben Sie sie entfernt?«

»Ja – schon lange.«

»Wann?«

»Bald nach meiner Freisprechung.«

»Aus welchem Grunde?«

»Weil ich alles austilgen wollte, was mich an jene schreckliche Zeit erinnerte.«

Doktor Custodies suchte in den Zügen des Mannes durchdringend zu lesen. Der Messerschmied saß mit dem Gesicht nach dem Fenster zu, wie Zeugen und Beschuldigte immer zu sitzen pflegen, so daß das hereinfallende Licht ihn ganz beleuchtete, während es den vernehmenden Beamten mehr von der Seite traf, so daß seine beobachtenden Mienen etwas im Schatten lagen.

»Wie kam der Mann aus Goslar zum Bilde der Flamme?« forschte er nach kurzem Schweigen weiter. »Wissen Sie das vielleicht?«

»Der Fleischer wollte ihm, glaub' ich, ein schönes Mädchen einstechen, er bestand aber auf der Flamme.«

»Sehr gut – bitte – so weiter – weshalb hatte er für die Flamme eine Vorliebe?«

»›Eine Flamme muß es sein!‹ sagte er. ›So wie inwendig soll es auch draußen lodern!‹ So ähnlich waren seine Worte. ›Mit der Flamme bin ich befreundet!‹ Das hat er geäußert.«

»Er wollte Schlossergehilfe sein?«

»Ja – so sagte er – er hatte bei einem Schlosser in Goslar gelernt – mit der Flamme werde er sein Glück machen! erklärte er noch.«

»Hatte er in Goslar nur gelernt oder war er auch von da gebürtig?«

»Er nannte Goslar seine Vaterstadt.«

»Darüber täuschen Sie sich nicht?«

»Schwerlich, Herr Staatsanwalt.«

»Hat er von seinem Vater gesprochen?«

»Er erzählte von zu Hause – die Eltern waren arm – ganz arm – sie hatten ihm keinen Pfennig in den Wandersäckel stecken können – er wollte gern verdienen, um nach Hause zu schicken – sie lebten in bitterster Not – die Mutter war krank auf den Tod – darüber war er oft traurig – einmal verzweifelte er und weinte – er wollte sie retten – er verehrte sie sehr.«

»Welche Krankheit sollte die Mutter haben?«

»Sie litt an der Lunge.«

»Wirklich? Davon haben Sie früher nichts gesagt.«

»Es fällt mir heute auf Ihren Vorhalt ein.«

»Nannte er vielleicht den Vornamen seines Vaters? Schrieb er ihn auf einen Brief in die Heimat?«

Der Zeuge verneinte.

»Oder vielleicht der Mutter?«

»Nein – auch nicht.«

Der Staatsanwalt machte eine Pause. Ein tiefer Ernst lag in seinem Gesicht. Dann sagte er: »Herr Kurstosch, ich will Ihnen zu Ihrer eigenen Beruhigung etwas sagen.«

Der Messerschmied sah ihn wieder an.

»Schon das wenige, was Sie bisher heute ausgesagt haben, stimmt in der Hauptsache so auffällig mit Ihren früheren Angaben überein, die Ihnen seit vielen Jahren nicht wieder vorgehalten worden sind, daß ich kein Bedenken trage, nicht nur Ihre heutige Aussage, sondern auch Ihre Verteidigung von damals für wahr zu halten. Unwahrheiten und Phantasien hätten Sie sich schwerlich über ein Vierteljahrhundert hinweg so im einzelnen gemerkt.«

»Das glaube ich selber nicht« sagte der andere aufatmend und sich die Hände nach seiner Gewohnheit wie beim Waschen reibend.

Kaum hatte Custodies seine Erklärung beendet, als er sie bereuen zu müssen glaubte. Er wollte – sehr zweckmäßigerweise – dem Manne Vertrauen einflößen und wußte doch nicht, ob er seine Angaben nicht in eine ganz falsche Richtung lenkte. So nahe lagen in solchen zweifelhaften Fällen die richtige und die falsche Maßnahme beisammen.

»Kennen Sie dieses Büchlein, Herr Kurstosch?« Dabei zeigte Custodies dem Zeugen ein kleines blaues, ganz altes Heft, das, als er es aufschlug, vergilbte, zerrissene Blätter zeigte.

Kurstosch starrte die Blätter an. »Mein Wanderbuch?« fragte er.

»Jawohl.«

Der Zeuge zauderte es anzufassen und blickte es wie etwas Unheimliches an.

»Hier ist der Eintrag vom einundzwanzigsten Juli, an dem Sie das Stadt- und Meistergeschenk erhalten haben.«

»Das war der Unglückstag.«

»Hatte der Goslarer kein Wanderbuch?«

Kurstosch sah auf. »Freilich.«

»Haben Sie es gesehen?«

»In seiner Hand – wiederholt.«

»Ich meine – darin gelesen – seinen Namen gelesen?«

Der Zeuge zögerte. »Nein – ich erinnere mich nicht – ich war nicht neugierig. – Kann ich dieses Buch zurückerhalten, Herr Staatsanwalt?« Dabei griff er nach seinem Wanderbuche.

»Später, Herr Kurstosch – heute noch nicht. Wann und wie, glauben Sie, hat wohl der Goslarer den Thomas Wrobel aus Seeligenstadt erstochen?«

»Das kann nur geschehen sein an dem Abende, als er mich und Wrobel unerwartet vor der ›Kanne‹ traf, aus der ich mit dem Seeligenstädter herauskam. Wrobel war angetrunken und wollte durchaus nicht in die Herberge, sondern ins Freie. Da bot ihm der Unbekannte, der wie aus der Erde gewachsen plötzlich dastand, an, ihn ein Stück zu begleiten.«

»Weshalb konnten Sie Ihr Verbleiben in der Zwischenzeit nicht nachweisen?«

»Ich geriet noch in eine andere üble Wirtschaft – kein Mensch wollte mich wiedererkennen – ich hatte auch reichlich genossen.«

»Und seit dem Verlassen der ›Kanne‹ haben Sie Wrobel und den anderen nicht wiedergesehen?«

»Nein.«

»Was dachten Sie über ihr Wegbleiben?«

»Da hatte ich so meine Gedanken.«

»Welche denn?«

»Ich dachte – ja – ich dachte – es sei was passiert.«

»Zwischen den beiden?«

»Jawohl.«

»Aber am nächsten Abend waren Sie nochmals in der ›Kanne‹.«

»Ich glaube.«

»Da haben Sie verdächtige Andeutungen gemacht – Sie wissen ja – wie kamen Sie dazu?«

»Das waren meine – meine eigenen bösen Gedanken.«

Der Meister brach ab und blickte zu Boden; der Staatsanwalt schwieg einen Augenblick.

»Sie waren wieder angetrunken – die Leiche des Ermordeten war da noch gar nicht entdeckt.«

»Das stimmt wohl.«

»Hatten Sie den Hundertmarkschein bei dem Seeligenstädter auch gesehen?«

»Jawohl.«

»Bei welcher Gelegenheit?«

»Wiederholt – er zeigte ihn öfter – er prahlte damit – das ärgerte mich.«

»Weshalb?«

»Nun, ich glaubte – er könnte damit – anderen böse Gedanken machen.«

Der Kleine holte tief Atem. Man hörte es vernehmlich in dem stillen Raume.

»Sie selber hatten viel Papier- und Silbergeld im Besitz – über den Erwerb konnten Sie sich nicht ausweisen – woher stammte es?«

Kurstosch sah den Staatsanwalt mit bittenden Augen an. »Ich weiß nicht mehr.«

»Wirklich nicht?«

»Gefunden, Herr Staatsanwalt« stotterte er.

»Gefunden? Bloß gefunden?«

Der Kleine faßte sich ein Herz. »Also gestohlen, Herr Staatsanwalt – es ist längst verjährt – richtig gestohlen.«

»Wem, wo und wann?«

»In einer Herberge – eine Woche vorher – einem Schlafgenossen – es war schon ungerechtes Gut – er hatte es selbst erst gestohlen – nun wissen Sie alles.«

Custodies war etwas überrascht.

»Weshalb haben Sie das bei Ihrer Verhandlung nicht gesagt? Wie konnten Sie es auf Ihre Verurteilung wegen Mordes ankommen lassen?« fragte er lebhaft. »Wenn Sie den Diebstahl zugestanden und den Erwerb des Geldes nachwiesen, entfiel ja der Verdacht, daß es von der Einwechslung des Hundertmarkscheins herrührte.«

»Das habe ich damals nicht so verstanden, Herr Staatsanwalt. Ich hatte gerade die entgegengesetzte Auffassung. Wenn ich den Diebstahl zugab, dachte ich, traute man mir auch die Mordtat zu. Nur nichts zugeben! hieß es damals in unseren Kreisen. Wer zugibt, ist schon halb verloren! Und ich habe ja eigentlich recht behalten. Und würde mein Vormann sich als Besitzer des gestohlenen Geldes bekannt haben –?«

Doktor Custodies hatte mehr erfahren, als er erwartet hatte. Ein düsteres Bild aus den Tagen ehemaliger Wanderzeit war lebendig geworden; auch tiefere seelische Einblicke in Beweggründe, ja in bloße Gedanken hatten sich ergeben.

Wie er diesen scheuen Menschen, der schließlich aus sich herausging, in seiner charakteristischen Eigenart vor sich gesehen hatte, erkannte er ihn als einen nicht nur in Gedanken zwischen Gut und Böse schwebenden Menschen, den sein hartes Schicksal noch besonders merkwürdig gemacht hatte.

Nun glaubte er zu wissen, daß die neueren Beweismittel, die von unbekannter Hand den Stein abermals ins Rollen gebracht hatten, von gewichtiger Bedeutung waren.

*


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