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Niemand konnte den Charakter Ottokars so treffend, so tief erfassen als Argobast, der ihn doch erst seit Wochen kannte, ihn seiner Tochter gedeutet hatte.
Als ernster Knabe war er in einem freundlichen Vaterhause aufgewachsen. Vielleicht durfte er sich rühmen, daß kaum eine Lüge über seine Lippen gekommen war. Zwischen ihm und seinen Eltern hatte jenes glückliche Familienverhältnis des Vertrauens geherrscht, das für Unwahrheiten keine Gelegenheit bot.
Eine reine Jugend lag hinter ihm. Er war kein Mucker, war auch nicht spröde. Es war eine Sicherheit des Gefühls und der Entscheidung in ihm, die ihn mit Anfechtungen fast spielend fertig werden ließ.
Es erschien zunächst etwas merkwürdig, daß gerade dieser Jüngling Jurist werden wollte. Aber vielleicht hielt ihn sein gesundes Verhältnis zum Leben von der Theologie zurück, mit der er sich schon befreunden zu wollen schien. Es war etwas in ihm, das sich gern an das Wirkliche hielt und Überspannungen jeder Art vermied.
Als er dann in der Praxis den kriminalistischen Wissenschaften nähertrat und den kleinen und großen Verbrecher in der Wirklichkeit sah, als er die Vertreter der neuen Kriminalistenschule hörte, die ihm mit Verbrecher und Verbrechen ein seltsames Spiel zu treiben schienen, gerade in dieser Zeit kam sein allmählich erwachsener Entschluß, Staatsanwalt zu werden, zur Reife.
Er brachte dem Rechtsbrecher weder Härte noch Schwäche entgegen. Er überhob sich nicht, er enthielt ihm seine menschliche Teilnahme nicht vor.
In seinen großen Schwurgerichtsvorträgen – ein Redner im eigentlichen Sinne war er nicht – leuchtete sein Glaube an die Herrschaft des Guten als tröstlicher Gedanke hindurch, so daß ihm Richter, Geschworene und Zuhörer gern folgten. Von aller staatsanwaltlichen Moralpredigt und Verfolgungslust entfernt, bot er der Öffentlichkeit ein vom Anklagepodium in dieser Weise kaum gehörtes Weltbild des Gerechten.
Eben aus seinem unbedingten Glauben an das Gute – hier klangen doch wohl religiöse Erinnerungen hindurch –, nicht etwa aus übertriebener Sittenstrenge, war er zu der Überzeugung gekommen, daß Verbrechen nicht Kraft, sondern nur Schwäche bedeuten könne, weil echte und wahre menschliche Kraft immer die Richtung zum Guten nehmen müsse.
Daß einem solchen Charakter die Liebe eine schöne Reife bringen mußte, war gewiß.
Seine Beziehungen zu Ottilie Argobast hatten sich ganz allmählich ergeben. Mit einem Male verspürte er, daß unter den nicht wenigen sympathischen Mädchengestalten, die ihm in Gesellschaft und Ballsaal, auf der Eisbahn und beim Tennisspiel in den letzten zwei Jahren begegneten, ihn diese eine sylphenhafte Erscheinung besonders, ja allein fesselte und anzog.
Daß ihr Vater einer weitgehenden Entlassenenfürsorge oblag, stimmte ihn nur kurze Zeit nachdenklich.
Er hatte wohl ein Gefühl dafür, daß am Eingange des Strafprozesses er selber als Ankläger stand, während am Ende desselben der Vater Ottiliens gewisse unvermeidbare Nachteile der staatlichen Strafe am einzelnen Menschen wieder gutzumachen suchte. Mußte sich aber hieraus ein Gegensatz in der Auffassung oder gar in der Gesinnung ergeben? War nicht Argobast dabei in einer viel glücklicheren Stellung als er? Und handelte er vor allem nicht ganz offensichtlich aus genau demselben Glauben an das Gute?
Im übrigen war es schon zu spät, umzukehren; das Mädchen hatte es ihm in aller Zurückhaltung seltsam angetan.
So wurden die ersten verstohlenen Zeichen der gegenseitigen Neigung verstanden und erwidert.
Aber den Charakter der Erwählten machte er sich wohl, wie die meisten Liebhaber, zunächst keine besonderen Gedanken. Was er an ihr wahrnahm, erschien ihm sympathisch, freundlich, wertvoll.
Als sie sich nähertraten, und er ihr in Gesicht und Augen lesen durfte, empfand er das Rätselhafte und Geheimnisvolle einer Mädchenseele, die sich gleichwohl unbefangen darbot, so reizvoll, daß er sich ihm nicht wieder entziehen konnte und auch nicht mehr entziehen wollte.
Und was er seit dem Tage der Verlobung äußerlich und innerlich mit ihr erlebt hatte, erfüllte seine Erwartungen so sehr, daß er täglich in ein immer höheres Seelenglück mit ihr hineinzuleben glaubte.
Aber in diesen Tagen der Wonne geschah es, daß ein Schatten das junge Glück trüben wollte.
Ottokar erhielt einen merkwürdigen Brief, anscheinend von verstellter Damenhand geschrieben; die Absenderin nannte sich nicht.
Das Schreiben lautete folgendermaßen: »Sehr geehrter Herr Doktor! Wie kein Mensch im geringsten bezweifelt, sind Sie bei der entschiedenen Wahl dem Zuge Ihres Herzens gefolgt. Deshalb vertraut man auch zuversichtlich darauf, daß Ihre Neigung die kleine Prüfung besteht, welche die eigentümlichen Verhältnisse mit sich bringen.«
Custodies stutzte.
»Es handelt sich um einige ganz belanglose Vorgänge aus zurückliegenden Jahren, die Fräulein Argobast zweifellos, um ihre Harmlosigkeit darzulegen, am liebsten selbst gestehen würde, und die deshalb zu ihrer Entlastung Ihnen von dieser Seite mitgeteilt werden.«
Ottokar glaubte nicht recht zu lesen; das Papier zitterte in seiner Hand.
»Fräulein Argobast hatte – eine gerade Ihnen vielleicht begreifliche und entschuldbare Erscheinung – auch in der späteren Schulzeit ihre alte merkwürdige Neigung zu Unaufrichtigkeiten noch nicht abzulegen vermocht.«
Der Bräutigam hörte sein Herz schlagen.
»In den Mittelklassen zog sie nach bekannter Art etwas eigenmächtiger Schulkinder in Entschuldigungsbriefen wegen unterlassener Hausarbeiten oder versäumten Unterrichtes – also aus unbedeutenden, harmlosen Anlässen – den eigenartigen, wahrscheinlich zur Nachahmung anreizenden Namenszug ihres Vaters nach. Auch nahm sie einer Schulkameradin, die hiervon nichts wußte, aus ihrem Bücherschränke Baumbachs ›Zlatorog‹ in einem Prachteinbande aus Übermut fort.«
Ottokar traten in tiefem Schmerze die Tränen in die Augen.
»Bei Ihrer Menschenkenntnis und Neigung zu Fräulein Argobast darf man vertrauen, daß Sie über die kleinen Eigenarten einer mutwilligen Kindheit freundlich hinwegsehen und deren Trägerin, die sich vielleicht instinktiv gerade zu einem Vertreter Ihres Berufes hingezogen fühlt, in Ihren besonderen liebenden Schutz nehmen werden.«
Der Mann, der diese Zeilen gelesen hatte, war in seinem Gesicht nicht wiederzuerkennen; er lehnte sich im Stuhle zurück und schloß die entsetzten Augen.
Einen Augenblick war es, als ob ihm alle Gedanken schwänden; so groß war die in seinem Gehirn hervorgerufene Verwirrung. Als er wieder zu denken vermochte, zuckte sein Herz unter dem Zweifel, in welchem Sinne der Brief geschrieben worden war.
Mit wohlwollenden, fast schmeichelnden Worten und in Ausfluß einer Fürsorge für sein und Ottiliens Glück wurden da Handlungen behauptet und zugleich beschönigt, die, wenn man sie nüchtern betrachtete, ein sehr ernstes und häßliches Gesicht zeigten.
Die außerordentliche Glätte des Ausdruckes ließ den peinlichen Verdacht aufsteigen, daß unter der Maske der Teilnahme und Harmlosigkeit sich eine heuchlerische Lästerung verstecken wollte. In welchen Abgrund einer Seele schaute er dann. Mit welcher teuflischen Ironie sollte der Argwohn in sein Herz geträufelt werden. Es war nicht möglich, daß ein junges Mädchen diese Zeilen entworfen hatte. Er hätte überhaupt eine solche Handlung keinem Menschen zutrauen mögen. Sein Glaube an das Gute ließ es nicht zu.
Er las wörtlich und langsam noch einmal. Die Worte standen untilgbar da, keines hatte er falsch gelesen.
Er überflog die Adresse; da standen seine Titel und Namen.
Der Poststempel zeigte als Ort der Briefaufgabe Darmstadt. Er hatte keine Ahnung, wie ihm gerade von da eine solche Mitteilung kommen konnte. Er nahm die Schrift unter eine Lupe; sie war nicht ganz regelmäßig, zeigte bald größere, bald kleinere Buchstaben, die Schriftlage war nicht die natürliche, sie schien verstellt, der Neigungswinkel wurde zum Verräter.
Custodies hielt die Schrift für eine jugendliche. Er hatte beruflich in der Beurteilung einige Übung. Buchstabenbildung und Orthographie waren ganz modern; die weibliche Handschrift war nicht zu verkennen.
Briefpapier und Umschlag zeigten elegante, gewählte Ausführung und Farbe.
Ein aufsteigender Kopfschmerz erinnerte ihn plötzlich daran, daß ihn ein eigentümlicher Geruch umgab. Der Brief strömte ein Parfüm von sich; er führte ihn an seine Nase und sog es ein. Sein Kopfschmerz wurde stechender. Er war nicht imstande, den Charakter des Parfüms festzustellen; es schien sich auszubreiten, seine Finger, seine Hände nahmen den Geruch an.
Als er nach einigen Amtsstunden fähig war, vernünftig zu überlegen, versuchte er die geheimnisvolle Sachlage ganz objektiv, wie ein Jurist, zu prüfen.
Enthielt der Brief nur Verleumdungen? Das glaubte er zunächst mit voller Bestimmtheit. Er kannte seine Ottilie nun schon seit Wochen, sie sahen sich fast täglich. Ihr Auge, ihre Mienen hatten etwas Unschuldsvolles. Da glitt kein falscher Zug darüber hinweg.
Oder war vielleicht ein Fünkchen harmloser Wahrheit, wie es oft, wie es meist zu geschehen pflegt, in diesem starken Irrtum, in dieser ungeheuren Übertreibung? Das war der weitere Gedankengang, dem sich Ottokar hingab.
Dann ließ sich vielleicht auch annehmen, daß ein eigentümlicher, empfindsamer Charakter nicht aus böser Absicht, sondern aus verworrenem Eingriffe in fremde Beziehungen, aus einer übertriebenen Empfindlichkeit oder aus Überspanntheit diesen törichten Schritt unternommen hatte, ohne sich die Möglichkeit schwerer Folgen klar vor Augen zu halten. Welcher wunderlichen Verwirrungen war nicht ein jugendliches, zumal weibliches Gemüt zu gewissen Zeiten fähig! Er kannte das aus seinen amtlichen Erfahrungen. In diese Auffassung, die seinem Charakter nahe lag, redete er sich gern hinein, er zergliederte, sie, um schließlich immer wieder vor einem sphinxartigen Geheimnisse zu stehen.
Auch daran dachte er zur Entlastung der Briefschreiberin, daß sie vielleicht durch seine amtliche Stellung oder durch die bekannte Fürsorgetätigkeit von Ottiliens Vater gewissermaßen in eine kriminelle Sphäre verlockt worden sei. Solche seelische Ansteckungen, hatte er gehört, sollte es zumal bei weiblichen jugendlichen Gemütern geben.
Je länger er überlegte, desto mehr verschwamm ihm ein Ergebnis in unklaren Umrissen. Von dieser Seite konnte er das Rätsel nicht lösen.
Er wollte der frivolen Briefschreiberin auf die Spur kommen. Das war sein nächster Entschluß. Zweifellos stammte sie von hier, wo Ottilie in die Schule gegangen war. Die höhere Töchterschule von Fräulein Niggeloh hatte sie selbst erwähnt.
Dieser Hinterlist, die angewandt worden war, mußte man mit gleicher List begegnen. Das war nur Gerechtigkeit. Die Ehre Ottiliens forderte es.
Als er sich bei diesem Gedanken betraf, zuckte er zusammen. Wie weh wurde ihm ums Herz, da er sich in Angelegenheiten seiner Liebe mit staatsanwaltschaftlichen Erwägungen zu befassen Anlaß sah.
Wie klein war er geworden! Wo blieb sein Glaube an das Gute in der Welt? Hatte er ihn nur in den Angelegenheiten anderer? Nicht in der eigensten Herzenssache? Was war mit ihm auf einmal geschehen?
Hintreten mußte er vor Ottilie, mit Sicherheit und Güte, mußte ihr den Brief zeigen und ihr durch sein volles Vertrauen bekunden, daß er keinen Augenblick an die Verleumdung geglaubt habe! Das war Ottiliens schönste Rechtfertigung.
Sofort traten andere Gedanken vor seine Seele. Sollte, durfte er wirklich die Liebste ohne zureichenden Grund beunruhigen? Bereitete er ihr nicht in jedem Falle einen überflüssigen, ersten Schmerz in ihrer jungen Liebe, wenn er sie der Verleumderin preisgab? Was tat er sonst anderes? Konnte er berechnen, welchen Eindruck diese Verunglimpfung auf ihr Gemüt machen würde?
Kannte er sie wirklich bereits so gut, daß er gar nichts zu befürchten brauchte? Wenn sie in einer naheliegenden Empfindsamkeit der Zweifel erfaßte, ob er selbst nicht doch für Augenblicke der Lüge sein Ohr geliehen habe? Wenn sie ihn auf sein Gewissen fragte, ob dies geschehen sei, wie konnte er vor ihr stehen? Sah er nicht Möglichkeiten, die alles Glück zunichte machten?
Der junge Held kämpfte diesen schweren Kampf nicht zu Ende. Es reizte ihn plötzlich seltsam, die Verleumderin zu entlarven. Das Kriminalistische des Falles begann ihn tatsächlich doch zu fesseln.
Und wenn er sich ganz genau prüfte, verspürte er in sich noch etwas mehr; ein nicht mehr bloß sachliches, ein jetzt auch persönliches Gelüste, über die Anonyma zu triumphieren!
Als er, um sich zu zerstreuen, durch die Frankfurter Straße ging, blieb er vor dem elegantesten Parfümgeschäft der Stadt stehen. Mit einem plötzlichen Entschlusse trat er hinein und sprach – es war um die Mittagszeit – mit dem Geschäftsinhaber Kant unter vier Augen.
Custodies hatte sich eines Falles aus der Praxis erinnert. Eine junge Dame, die sich verheiraten wollte, bat ihre Freundinnen zur Besichtigung der Hochzeitsgeschenke zu sich. Als sie sich wieder entfernt hatten, entdeckte sie, daß ein wertvolles goldenes Armband, das Geschenk eines Onkels, fehlte. Während sie das leere Kästchen emporhält, spürt sie demselben auf einmal einen starken eigenartigen Geruch entströmen; sie weiß, es ist das Lieblingsparfüm einer ihrer Freundinnen und begreift nun, wie die stark duftende Hand, als sie den diebischen Griff ausführte, diese unsichtbare und doch deutliche Spur hinterlassen hat.
Der Staatsanwalt erzählt mit der Bitte um Verschwiegenheit dem Friseur geheimnisvoll lächelnd den Empfang eines Briefes von schöner Hand, der die glühendsten Liebesbeteuerungen enthält. Er ist trotz eifrigen Nachdenkens und innigen Wunsches nicht imstande, die unbekannte Absenderin zu ermitteln. Nur eine einzige Spur verrät sie: ein ganz eigenartiges, ihm unbekanntes Parfüm, mit dem der zarte Brief behaftet ist, und welches die Eigenart zu besitzen scheint, statt sich zu verlieren, sich mit der Zeit sogar mehr und mehr auszubreiten.
Der junge Herr wünscht begreiflicherweise sehnlichst den Namen des Parfüms zu wissen und wagt weiter die naheliegende Frage, ob der Friseur es etwa zufällig selbst führt und etwa gar an eine Dame – an wen? – verkauft hat.
Herr Kant, der mit seinem Königsberger Namensgenossen gar keinen Zusammenhang hat, begreift wohl aus dem Erotischen seines Berufes heraus das Reizvolle des Geheimnisses sofort, macht einen süßlichen Mund und streicht sich die gebrannten Locken aus der Stirn.
Er führt den Brief mit den glühenden Liebesbeteuerungen diskret an seine etwas spitze Nase, die er zuvor respektvoll mit einem Taschentuche bestreicht, und von der er, als wollte er mit ihr die Aufschrift entziffern, das elegante Couvert gar nicht wieder wegbringt. Dabei gelingt es ihm tatsächlich, da er den Brief selbstverständlich von allen Seiten beriechen muß, die zunächst verdeckte Adresse zu entziffern. Er ist auch so kühn, den Brief aus dem Umschlag zu ziehen und, weil er das für nötig hält, besonders zu beriechen. Dabei kichert er im Innern, daß ein so hoher Herr, ein gefürchteter Staatsanwalt, sich von ihm seine Liebesbriefe beschnuppern lassen muß.
Plötzlich aber fällt Herrn Kant ein, daß die Staatsanwälte sich in ganz ähnlicher Weise zur Witterung von verbrecherischen Spuren der Polizeihunde bedienen. Wie von einer Tarantel gestochen, reißt er den Brief von seiner Nase, verfehlt aber nicht, den letzten Geruch vollständig einzuschnüffeln.
Mit wichtiger Miene erklärt er dann: »Ich habe keinen Zweifel, es ist ein Pariser Parfüm …« Er nennt eine berühmte französische Firma.
»Und der Name?« fragte der Staatsanwalt.
» Essence des Fleurs bleues.«
»Parfüm von blauen Blüten – von welchen blauen Blüten?«
»Das ist Geheimnis des Herrn Houbigaut – so geheimnisvoll fast wie dieser Brief« erklärte der lächelnde Lockenbündiger.
»Und nun die andere Frage? Da Sie das Parfüm kennen, führen Sie es selbst?«
Der Friseur öffnete seinen wundervollen großen Glasschrank und zeigte ein fein etikettiertes Fläschchen. Da stand es in zierlichen blauen Buchstaben: » Essence des Fleurs bleues.«
»Kostenpunkt?«
»Fünfundvierzig Mark« flötete Herr Kant.
Custodies erschrak beinahe. »Ist das möglich? Solche Preise werden bezahlt? Haben Sie es schon verkauft?«
Renatus Kant nickte fast mitleidig, weil ein Staatsanwalt das bezweifeln konnte.
»An wen? Wissen Sie das? An eine Dame?«
»Zuverlässig, Herr Doktor – an eine Dame – an Fräulein – ich kenne den Namen nicht – vor einem Jahre« versicherte der Haarkünstler mit der Unfehlbarkeit des kategorischen Imperativs.
»Können Sie sie nicht beschreiben – wo wohnt sie?« fragte der Jurist schnell.
»Vielleicht fällt mir der Name noch ein – wenn ich sie sehe, würde ich sie wiedererkennen« hüllte sich Kant recht geschickt in ein großes philosophisches Geheimnis.
Dabei ließ er den Staatsanwalt wohlwollend an dem kostbaren Fläschchen riechen.
»Darf ich es Ihnen einschlagen?« fragte er ganz harmlos.
Custodies erschrak. »Mir? Um Gottes willen« verriet er sich.
Der Haarkünstler machte ein merkwürdiges Gesicht.
Ottokar stellte fest, daß der Geruch tatsächlich derselbe war. Das heißt, er bildete sich das ein. Eigentlich mußte er sich gestehen, daß er einen besonderen Geruch gar nicht wahrnehmen konnte. Es kam ihm auch zum Bewußtsein, daß er in diesem von Seifen-, Öl- und Parfümdüften geschwängerten Raume schließlich überhaupt keinen besonderen Geruch mehr unterscheiden konnte.
Da sich der stechende Kopfschmerz wieder meldete, bedankte er sich sehr höflich und kaufte zur nicht geringen Enttäuschung Kants eine Flasche Kölnisches Wasser Johann Maria Farina gegenüber dem Jülichsplatz, mit dem er eiligst das Reich der Düfte verließ.
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