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Siebzehntes Kapitel

Die Uhr rückte vorwärts; Stunde um Stunde verrann. Erkelenz merkte es nicht, er las Brief auf Brief, mit ernsten, finsteren Blicken.

Nun hatte er den Einblick in ihr Liebesleben und war doch nicht befriedigt. Von ihm selber – ja gewiß, von ihm! – war in den Briefen, soweit er sie überflogen hatte, mit keinem Worte die Rede. Als wenn er gar nicht in ihr Leben getreten wäre!

Und auch nach etwas anderem hatte er in den Briefen geschnüffelt. Nichts, kein Wort von alledem, stumm, verschwiegen, eine neue geheimnisvolle Welt.

Mechanisch ordnete er die Briefschaften wieder und legte sie, von den Seidenbändern umschlungen, in die Geheimfächer zurück, die er dann sorgfältig verwahrte. Es dämmerte in den Zimmern schon, da die Sonne auf der anderen Seite stand.

Er durchstöberte nochmals den unteren großen flachen Kasten des Mittelpultes. Eine kleine schwarze Brieftasche fiel ihm in die Hand. Ein Notizblock steckte in der einen Tasche mit Aufzeichnungen von Ausgaben auf einer Reise. Auf der anderen Seite, die leer erschien, fand er zusammengefaltet in einem alten gelben Kuvert eine Banknote.

Einen Augenblick hielt er den Schein in seiner Hand. Er entfaltete ihn aber gar nicht. Hastig steckte er ihn in Umschlag und Tasche zurück, die er an ihren Platz legte. Diesen Mann wollte er nicht um einige lumpige Mark bestehlen! Er wollte hier überhaupt nicht stehlen!

Er räumte den Schieber, ebenso die anderen Kästen sorgsam wieder ein. Er schien Wert darauf zu legen, daß niemand seine Neugierde entdeckte. Er beeilte sich und sah öfter nach der Uhr, er schien an seinen Aufbruch zu denken.

Die Jalousie hatte er wieder völlig geschlossen, es war dunkel in dem Raume. So verhielt er sich eine halbe Stunde ruhig.

Ein neuer Gedanke schien ihn dann plötzlich erfaßt zu haben. Schnell stand er auf und begab sich in das Damenzimmer. Hier setzte er sich an den zierlichen Schreibtisch und schaltete das Licht ein.

Er musterte die kleinen Kästchen. Welches barg wohl die Geheimnisse von Frau Hilde? Hatte sie überhaupt Geheimnisse? Vielleicht! Wer wollte das sagen? Die Frauenseele ist unergründlich, hatte er irgendwo gelesen.

Den verschmähten Liebhaber gelüstete es, auch dieser Frau in das Herz zu sehen. Er erinnerte sich, ihr zärtliche Briefe geschrieben und Kleinigkeiten verehrt zu haben.

Der Drahtschlüssel, den er wie ein Virtuos handhabte, schob, wie immer, gehorsam den kleinen Riegel zurück. Dem Kästchen entströmte ein Wohlgeruch.

Briefe – er hatte glücklich vermutet – viele Briefe, ältere, aller Art, keine von Michael Argobast, Briefe von ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, Sängern und Schauspielern. Diese Handschrift kam ihm bekannt vor! Etwas eckig, wenig fließend, groß. Wer hatte so geschrieben?

Er las. Er las von vorn noch einmal. Es klang ihm fremd. Aber die Unterschrift war echt. Das hatte er selber geschrieben, am 22. Januar. Da stand es. Die Jahre hatten nichts getilgt. So hatte er sich damals auszudrücken vermocht? Wo hatte er diese Worte, diese Wendungen hergenommen? Heute kannte er sie kaum noch. Wo die Gefühle, um so von Liebe reden zu können? Wie war er in diesen achtzehn Jahren in seinem Ausdrucksvermögen verarmt! Was konnte das Leben, das Schicksal, was konnten die Umstände aus dem Menschen machen!

Er erinnerte sich wohl dunkel, daß er es selber gewesen war, der so gesprochen und geschrieben hatte. Und doch schien es ihm wieder, als sei aus ihm ein ganz anderes Wesen seitdem geworden. Nur dieselbe unruhige, flatternde Seele, das fühlte er, lebte noch wie damals in ihm. Eine hoffnungsvolle Welt des Werdens war in zwei Jahrzehnten in ihm versunken, unwiederbringlich, das wußte er nun. Kaum hatte er in den letzten bitteren Jahren einen Gruß von ihr verspürt. Aber heute kam ihm aus jener Welt ein Läuten, wie es der Sage nach der Fischer am Ostseestrande an glücklichen Tagen von den Kirchtürmen der versunkenen Stadt vernimmt – ein Läuten – die Sage war ihm in seiner Musikerzeit durch ein Lied bekannt geworden – ein Läuten – er hörte es und die dicken Tränen stürzten ihm aus den Augen.

In dem Briefe lag ein Faden, mit Mühe zog er ihn aus dem Umschlag, in dem er sich verloren hatte. Was war das? Eine Saite, eine Violinsaite. Von wem rührte sie her? Wie war er dazu gekommen? Atemlos las er die Nachschrift seines Briefes. Da kam die Erklärung.

»Ich sende Dir, Liebste, diese Saite, die mir heute gesprungen ist, als ich bei einer schönen Passage an Dich dachte!«

Er zitterte etwas, als er diese Zeilen zum zweiten Male überlas; nur etwas zitterte er. Er hielt sich die volle Hand vor den Mund, als wollte er etwas verbergen.

Er sprang auf und schlug sich vor die Stirn. Wie hatte er das Schicksal so versuchen können? Kannte er nicht von Jugend an, von dem düsteren Vater her die geheimnisvollen Anzeigen und Warnungen in der Umgebung des Menschen?

Der Geliebten eine gesprungene Saite zu senden, welche Torheit, welche Verwegenheit, die nur ihm hatte widerfahren können! Nun wußte er ja, weshalb sein Glück gesprungen war.

Er legte auch diese Briefe wieder sorgfältig zusammen, schob das duftende Kästchen hinein und verschloß es mit dem Drahtschlüssel.

Er verspürte nun keine Lust weiter, Geheimnisse zu enthüllen. Er wurde ruhiger.

Obwohl er sich damit beschäftigte, die gestörte Wohnung in Ordnung zu bringen, um die Spuren seiner Anwesenheit zu verbergen, hatte er das Hastige in seinen Bewegungen verloren.

Was er tat, ging ganz mechanisch vor sich. Es war aber alles sehr zweckmäßig. Er vergaß bei seinen Aufräumungsarbeiten selbst Kleinigkeiten nicht. Aber in Gedanken war er ganz wo anders. Er schien ein doppeltes Bewußtsein zu haben.

Unter den Noten im Salon lag ein Geigenkasten. Er hatte ihn schon heute morgen flüchtig gesehen. Er versuchte ihn, er war nicht verschlossen. Er nahm Geige und Bogen heraus.

Sie war eine Stradivari, gezeichnet von Francesko Stradivari mit der Jahreszahl 1743. Er versuchte am Flügel, ob sie gestimmt war. Sie klang ziemlich rein, er stimmte sie.

Dann verlöschte er das Licht, klappte die Jalousie auf, um den hellen Schein vom Abendhimmel hereinleuchten zu lassen, und spielte.

Er spielte ohne Noten, spielte, was er gerade auswendig konnte, was er sonst im Kopfe, noch mehr im Herzen hatte.

Es war ein wunderliches Konzert dieses Solisten in der einsamen Wohnung.

Er hatte das deutliche Bewußtsein, daß es sehr unvorsichtig war, unter den Umständen, die ihn hierhergeführt hatten, in diesen Räumen, diesem Hause zu spielen, so laut, so klagend, so durchdringend zu spielen, so ohne jede Unterbrechung, ohne zu enden.

Wenn jemand vorüberging, der die Familie Argobast abwesend wußte, und nicht gerade an einen Geisterbesuch glaubte, der in dem verlassenen musikalischen Hause verwehte Klänge wachrief, so konnte ihm die Musik, seine eigene Musik zur Verräterin werden!

Ihm war es gleichviel! Es sollte nur jemand hören und Lärm schlagen! Man sollte Polizei holen und eindringen! Er würde nicht aufhören, sondern lauter und voller spielen. Es sollte ein Ereignis werden. Mit Violine und Bogen wollte er sie empfangen und ihnen sagen: »Wißt ihr, was eine zersprungene Saite zu bedeuten hat?« Hier wollte er gefunden werden, zum Diebe, zum Einbrecher sollte ihn keiner machen!

Einen Augenblick hatte er bei diesen lebhaften Gedanken, um sie ganz zu Ende zu denken, den Bogen abgesetzt. Unter den Fenstern knarrte in der Abendstille eine Tür. Er schaute hinab. Es war der Wächter der Schließgesellschaft, wie gestern abend um dieselbe Zeit, da er selber übergestiegen war.

Der Wächter blieb gleich am Eingange stehen und sah zu dem Fenster herauf. Er lauschte. Er legte die hohle Hand an das Ohr. Dann schüttelte er den Kopf und begann seinen Rundgang.

Robert Erkelenz, weshalb spielst du nicht? Das große Ereignis ist da! Weshalb entsinkt dir die Stradivari, hängt dir der Bogen schlaff herab? So klein, so willenlos ist der Mensch? So leicht verscheuchen nüchterne Tatsachen die kühnsten Gedanken?

Der Wächter ging leise auf den Kieswegen dahin. Er klinkte die Haupttüre. Erkelenz erschrak. Dann ging er um das Haus und versuchte die Hintertüre.

Erkelenz trat in das Schlafzimmer und verfolgte seine Schritte. Er lief im Garten ein ganzes Stück ab. Dabei sah er häufig herauf. Eine Weile setzte er sich auf eine Bank und horchte.

Plötzlich stieg er von der Bank in die Äste des Baumes hinauf; behend, lautlos. Er stand fast in der Höhe des ersten Stockes. Erkelenz konnte ihm ins Gesicht sehen. Der Mann hatte Augen wie ein Luchs.

Wenige Meter von ihm, aber im Schutze des Hauses, stand der Eindringling. Er hielt noch die Geige am Kinne, den Bogen in der Hand, er setzte ihn auf. Es gelüstete ihn, den Wächter zu narren. Einige Streiche nur – die Nacht war ganz still.

Der Schließer war wieder herabgekrochen. Wie er gekommen war, verließ er das Grundstück.

Erkelenz hatte die Stradivari in den Kasten zurückgelegt. Er schämte sich, noch auf ihr weiter zu spielen.

Seine Stunde war gekommen, das Haus zu verlassen. Morgen frühzeitig mußte er wieder bei der Arbeit sein, der Schubnell hatte er vorgegeben, eine Wanderung in das Rheingebirge zu machen.

Und doch konnte er sich noch nicht trennen. Er sah nach der Uhr. Einige Stunden konnte er noch zugeben. Da es Sonntag war, blieben die Wege belebter. Wenn er gegen drei Uhr entschlüpfte, waren die Umstände günstiger.

Er hatte jegliche Unordnung beseitigt. Im übrigen nahm er sich gleich heute vor, über acht oder vierzehn Tagen noch einmal wiederzukommen.

Von den wunderlichsten Gefühlen und Gedanken erfüllt, legte er sich bis zu seinem verstohlenen Aufbruche auf einen Diwan.

Die Augen fielen ihm wiederholt zu, aber er schlief nicht dauernd ein. Sein Gehirn war wie von Fieberträumen erhitzt, darin allerlei spukhafte Gestalten, Ungeheuer und schöne Frauen, durcheinanderwirbelten.

*


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