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Während er drüben im alten, dem Abbruche entgegensehenden Amtsgericht einen so warmen Fürsprecher seiner sozialen Lebensarbeit fand, hatte Michael Argobast selbst das etwas entfernt gelegene Landgericht, einen schönen deutschen Renaissancebau, betreten.
Einen flüchtigen Blick hatte er hinaufgeworfen, wo die zum Himmel gerichtete Schwurhand den Turm krönte, und in höchster Höhe über dem Hause die Gestalt der Wahrheit schwebte.
Wie immer, so oft er hereintrat, weitete ihm die hohe und breite Eintrittshalle, von einem hellen Oberlichte durchflutet, Herz und Sinn. Jeder mußte es günstig deuten, daß die Gerechtigkeit in diesem neuen Hause gleich dem Eintretenden eine solche innere Befreiung gewährte.
Ein Staatsbaumeister, der künstlerische Kraft mit tiefem Gefühle für deutsche Rechtsbildung vereinigte, hatte einem bureaukratischen Widerstand zum Trotze der heimischen Justiz diese weit über die Landesgrenzen berühmte Stätte bereitet.
Nur ungern unterließ Argobast, wenn er Zeit hatte, einen kurzen Rundgang durch die Halle zu machen, deren künstlerische Ausschmückung einen ganz neuen Geist atmete.
Skulptur und Plastik, die bisher nur an der Außenarchitektur der Gerichtsgebäude in den bekannten steinernen Löwen oder im Standbilde der Themis mit verbundenen Augen und mit der Wage zur Geltung kamen, waren in künstlerischer Folgerichtigkeit nun auch in das Innere des Gerichtshauses hineingetragen worden.
Da stand an der Ostseite eine schöne Skulpturarbeit, Adam und Eva, und rief die Erinnerung an den ersten Sündenfall, der sich in jedem Menschen erneuert, wach.
Ein Moses mit den Gesetzestafeln, dieser Grundlage allen Strafrechtes, trat machtvoll hervor.
Zwischen beiden Gruppen glänzte die lichte Gestalt eines lehrenden Christus, zu seinen Füßen in Stein die Worte: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.«
Konnte die Verinnerlichung des Strafgesetzes sinnvoller zum Ausdrucke gebracht werden?
Gegenüber auf der Westseite zeigte, in Anerkennung der Dichter als der wahren Erzieher des Volkes, die den Kampf zwischen Gut und Böse besonders tief empfunden haben, ein Relief den Kopf Friedrich Schillers; darunter las man seine geflügelten Worte:
»Wehe, wehe, dem Mörder, wehe,
Der sich gesät die tödliche Saat!
Ein andres Antlitz, ehe sie geschehen,
Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat.«
Michael Argobast ging langsam, als genieße er im Aufwärtssteigen, die helle und breite Treppe zur Halle des oberen Stockwerkes empor und freute sich der symbolisch lichtvollen Klarheit, Übersichtlichkeit und Einfachheit, die dieses neue Gerichtsgebäude, der kommenden Rechtsschöpfung gleichsam ein Vorbild, überall zeigte.
Oben trat er in den Vorraum der Staatsanwaltschaft, der ein abwechslungsreiches Bild darbot.
Im Anmelderaum fertigte ein Gerichtsdiener Ladungen aus; ein anderer verschnürte Akten und siegelte sie ein. Der scharfe Geruch von brennendem Siegellack machte sich bemerkbar. An allen diesen Blättern und Schriftstücken hing eine Schuld, hing ungesühnte Menschenschuld.
In einer anderen Abteilung harrten die geladenen Zeugen und Zeuginnen ihres Aufrufes. Hier sah man an Tischen, auf Bänken geheimnisvoll flüsternde Gesichter, Personen verschiedenen Standes – Verkäuferinnen in auffallenden Sommerkleidern, Frauen aus dem Volke, zwölfjährige, frühentwickelte Mädchen, mit sinnlichen Gesichtern –
Im letzten, am meisten zurückliegenden Raume, den man nicht ohne weiteres übersehen konnte, saßen die vorgeladenen Beschuldigten mit nachdenklichen, sorgenvollen oder dreisten Gesichtern, beiderlei Geschlechts, fast alle den unteren Volksklassen angehörend, nur ein besser gekleideter Mann, ein Volksschullehrer, fiel auf, jeder gesondert für sich, mit eigener Schuld und eigenem Schicksale beschäftigt.
Der Aufsichtsbeamte der Gerichtsdiener, ein großer und breiter Mann mit militärischer Haltung, dessen volles gesundes Gesicht ein sorgfältig gepflegter brauner Vollbart umrahmte, hatte, von seinem Pulte aufsehend, kaum den neuen Ankömmling bemerkt, als er aufstand und ihm mit der Frage: »Womit kann ich dienen, Herr Argobast?« höflich entgegentrat.
»Ich möchte den Herrn Ersten Staatsanwalt sprechen.«
Der Beamte nickte. »Ich führe Sie gleich zu ihm, er ist augenblicklich frei.«
Die beiden verschwanden in einem langen, in leuchtendem Gelb gemalten Gange.
»Sehr erfreut, Herr Argobast! Was führt Sie zu mir?« rief der Erste Staatsanwalt Treuß, ein stattlicher Fünfziger mit gewandten Umgangsformen, sich vom Schreibtische erhebend, dem Besucher, vielleicht in etwas geschäftsmäßigem Tone, entgegen.
Der Empfangsraum des Staatsanwalts war ein schönes Eckzimmer mit einer geschmackvollen Verkleidung der zahlreichen Fenster, die das helle Tageslicht bis in die äußersten Ecken einströmen ließen.
An den Wänden in mattem Blau zeugten einige feingestimmte Aquarelle – Landschaften und Studienköpfe – sowie wertvolle Radierungen von dem Kunstsinne ihres Besitzers. Man hätte vielleicht glauben können, im Nebenraum einer Gemäldeausstellung zu weilen.
Vor dem Fenster erhob sich ein stufenartiger Aufbau von ausgewählten Blattpflanzen und Blumen. Helles und dunkles Grün, Weiß und Dunkelrot leuchteten in der Sonne, eine zierliche Gießkanne und blinkende Blumenspritze vervollständigten das freundliche Stilleben.
»In der Hoffnung, Sie nicht von Wichtigerem abzuhalten«, begann Argobast in seiner etwas langsamen, schweren Sprechweise, »bin ich gekommen, Sie um einen guten Rat zu bitten.«
Treuß lud höflich zum Sitzen ein.
»Sie hatten wiederholt die Güte, mit mir über meine sozialen Bestrebungen Rücksprache zu nehmen. Ich habe also nicht nötig, Ihnen die Gründe für mein neueres Vorhaben, von dem ich sprechen möchte, auseinanderzusetzen.«
Der Staatsanwalt bejahte. »Ich bin vollständig im Bilde.«
»Ich brauche auch nicht zu begründen«, fügte der Hüttenbesitzer nachdenklich hinzu, »daß der zielbewusste Mensch auch bei vereinzelten Mißerfolgen in seinen Ansichten verharrt, ja in ihnen gewissermaßen mit seinem höheren Zwecke wächst.«
Treuß machte eine verbindliche Handbewegung.
»Mir ist der Gedanke gekommen«, setzte Argobast etwas zögernd auseinander, »mein Rettungswerk, wie ich es, ohne unbescheiden sein zu wollen, vielleicht nennen darf, an einem besonders schwierigen Objekt zu versuchen.«
Der Staatsanwalt sah ihm mit Spannung ins Gesicht.
»Ich weiß selbst nicht, wie mich der Einfall packen konnte – kurzum, er läßt mich nicht los. Bisher habe ich die Personen, denen ich meine Fürsorge zuwendete, fast wahllos aus der Hand der Behörden entgegengenommen. Jetzt möchte ich selbst einmal die Versuchsperson bezeichnen.«
»Ich bitte, mich nur zu unterrichten, wen Sie meinen, Herr Argobast. Es soll alles geschehen, was möglich ist.«
»Eine bestimmte Person habe ich nicht im Auge, aber einen bestimmten Charakter. Ich will mich deutlicher erklären. Als Kriminalist werden Sie begreifen, daß es mich reizen kann, mich an einer Natur zu versuchen, der gegenüber von vornherein ein Erfolg aussichtslos erscheint.«
Der Staatsanwalt machte ein Gesicht, als ob er an die Erfolglosigkeit früherer Fälle dachte.
»Also an einem Verbrecher«, fuhr der Hüttenbesitzer unbeirrt fort, »der für durchaus besserungsunfähig gehalten wird, an einem, wenn wir so sagen wollen, verworfenen und aufgegebenen Charakter, an einer von Grund aus, wie die Ausdrucksweise lautet, wirklich bösartigen Menschennatur.«
»Dazu gehört Mut, das muß ich gestehen!« äußerte Treuß.
»Ich weiß das nicht einmal, Herr Erster Staatsanwalt! Leider bin ich kein Psychologe von Beruf und kein Schriftsteller. Sonst würde ich versuchen, Ihnen meine Gedanken von der Bösartigkeit der Menschen zu entwickeln. Ich zweifle nämlich an einer absoluten Bosheit des Menschen. Ich glaube, selbst in pathologischen Fällen wird höchstens die Grenze annähernd erreicht.«
»Ja, außerhalb dieser Mauern mögen Sie zu einer solchen Auffassung kommen.«
»Erwägen Sie, bitte, einmal die ungezählten Gelegenheiten und Möglichkeiten, die sich im täglichen Verkehr der Menschen zur Verübung von Schädigungen an Eigentum, Ehre und Leben bieten, und wie verhältnismäßig selten geschieht es.«
»Mir genügen die Ziffern der Statistiken, Herr Argobast!«
»Sie wissen besser als ich, Herr Erster Staatsanwalt, daß sie im Bereiche der unbegrenzten Möglichkeiten verschwinden! Wären die Menschen wirklich so schlecht, sie hätten die Gelegenheiten längst erschöpft und sich gegenseitig mit Stumpf und Stiel vernichtet. Daß wir eine Kultur haben, beweist, daß im Menschen ein absolut Gutes, kein radikal Böses lebt – straucheln sie, so liegen die Umstände besonders ungünstig.«
Der Staatsanwalt sah etwas merkwürdig drein, als er zum erstenmal in seinem Dienstzimmer dieses eigenartige Problem berühren hörte.
»Ich möchte also auf meine Weise praktisch gewissermaßen die Probe auf das Exempel machen!« wiederholte der andere. »Ich denke, es ist ein Unternehmen, das sich auf jeden Fall lohnt, selbst wenn das Ergebnis mich nicht bestätigen sollte.«
Der Staatsanwalt konnte im Innersten dem sonderbaren Schwärmer, wie er ihn im stillen nannte, seine Hochachtung nicht versagen. Dabei war der Gedanke eigentlich neu und sogar eines Philosophen würdig.
»Und nun komme ich zu Ihnen, Herr Erster Staatsanwalt, weil ja bei der langen Untersuchung, die schwere Fälle erheischen, die Staatsanwaltschaft schließlich am besten Gelegenheit hat, die Gemütsart eines Verbrechers kennenzulernen, und weil bei Ihnen alle Fäden zusammenlaufen.«
»Mit anderen Worten, ich soll Ihnen ein Ungeheuer, wie Sie es suchen und wünschen, empfehlen?« fragte Treuß lächelnd. »Das ist eine kitzliche Geschichte. In dieser Lage bin ich wirklich noch nicht gewesen. Natürlich soll es ein männliches Individuum sein? Annehmbar möchten Sie mit Ihrem Experimente auch möglichst bald beginnen?«
»Daran habe ich allerdings gedacht.«
»Wer hat die Namen und Charaktere alle im Kopfe?« Der Staatsanwalt sann nach und schlug eine Liste auf, die er seinem Schreibtisch entnahm. »Ich muß mich um Jahre rückwärts versehen. Wieviel Hunderte von Kreaturen, glauben Sie, sind schon an mir vorübergegangen? Einen Mörder haben wir ja natürlich gar nicht zu vergeben – sehen Sie, da machen Sie schon selbst Vorbehalte!« lachte Treuß freundlich. »Da hätte ich einen, wie Sie ihn vielleicht im Auge haben. Bruno Holste, der mit einem Genossen den Beamten einer Lebensversicherung vergiftete, dann die Leiche im Koffer verpackte und in einem gemieteten Schuppen begrub! Das war ein Kakodämon, wie er im Buche steht.«
»Es scheint so.«
»Wenn er am Grundstück mit dem Schuppen vorüberging, pflegte er zu sagen: ›Da drüben ist unser Kirchhof!‹ Sie wollten nämlich das einträgliche Geschäft fortsetzen und noch mehrere Versicherungsbeamte beiseite bringen. Ein auf dem Hofe vor dem Schuppen brennendes Licht nannte er die ›ewige Lampe‹.«
Der Hüttenbesitzer nickte nachdenklich. »Eine ähnliche Gemütsart möchte es vielleicht sein.«
»Holste wurde wegen seiner Jugend zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. An Entlassung ist gar nicht zu denken. Wählen wir also einen anderen! Bitte, einen Augenblick.«
Treuß überlegte.
»Wie wäre es mit Erkelenz?« fragte er in einer plötzlichen Eingebung. »Wenn ich die Zeit einigermaßen im Kopf habe, kommt er bald zur Entlassung – Robert Erkelenz – kennen Sie seinen Fall?«
Treuß hatte sofort auf den Knopf der elektrischen Klingel gedrückt und erklärte dem hereintretenden Gerichtsdiener: »Die Akten gegen Erkelenz aus meiner Registrande! Sind erst neulich vom Justizministerium zurückgekommen.«
»Ich mache Ihnen leider Umstände – ich kenne den Fall nicht.«
»Das wundert mich eigentlich. Sie werden sich schon erinnern. Erscheint also bei unserem Kommerzienrat Bernheim ein junger Mann mit verkniffenem, diabolischem Antlitz, eine Aktenmappe unterm Arm. Ich sage Ihnen, ein Kerl, kohlrabenschwarz mit dunkelbrauner Haut, der reine Mohr – das Signalement ist vielversprechend – nicht?«
»Ich bin schon im Bilde, Herr Erster Staatsanwalt.«
»Schickt seine Visitenkarte herein. Dr. jur. Schwarz – selbstredend Schwarz – geheimer Kriminalkommissar des Königlichen Polizeipräsidiums Berlin. Ausgesucht Berlin! Er eröffnet dem Kommerzienrat in Gemütsruhe, an der russischen Grenze sei ein umfangreicher Getreideschmuggel entdeckt worden, einer der Hauptschmuggler habe Bernheim als Anstifter schwer belastet.«
»Jetzt entsinne ich mich dunkel.«
»Sehen Sie! Nun geben Sie acht! Als Bernheim versichert, nach der Ostgrenze Getreide überhaupt nicht geliefert zu haben, verzieht der Schurke keine Miene, nimmt aus seiner Mappe einen mit plumper Hand selbst geschriebenen Haftbefehl auf rotem Formular und erklärt, er sei von Berlin entsandt worden, den Kommerzienrat zu verhaften. Halten Sie das für möglich? Nun kommt der Humor –«
Argobast lächelte.
»Bernheims Bureau wird angerufen, ein Kontorist meldet, Kriminalkommissar Schwarz werde nach Erledigung seines Auftrages vom Justizminister erwartet. Angesichts dieser ernsten Lage erbietet sich der Kommerzienrat eindringlich zur Sicherheitsleistung, die in Höhe von zwanzigtausend Mark – selbstverständlich zögernd – angenommen wird. Bernheim öffnet seinen Kassenschrank und weist nach, daß kaum tausend Mark bares Geld vorhanden sind. Man besteigt gemeinsam –«
Der Gerichtsdiener trat herein und legte das dicke Aktenstück auf den Schreibtisch. »Bei Herrn Staatsanwalt Custodies lagen die Akten.«
Treuß ließ den Diener abtreten.
»Man bestieg also gemeinsam – zwei seltsame Fahrgäste – eine Droschke zur Fahrt nach dem Bankhause, wo Bernheim die Zwanzigtausend glücklich erhebt und dann während der Fahrt zum Justizminister, bei dem seltsamerweise die Haftentlassung stattfinden soll, dem Kommissar glatt aushändigen muß, der plötzlich in vollem Trabe mit kühnem Satze aus dem Wagen springt –«
»Um aber – ich entsinne mich – nach einigen Tagen mit einem Teile des Geldes wieder ergriffen zu werden«, fiel der Hüttenbesitzer lebhaft ein.
»Unter uns gesagt«, plauderte Treuß etwas offenherzig, »psychologisch wird mir der Fall nur verständlich, wenn ich, vermutungsweise, also ohne Unterlagen, verstehen Sie? – annehmen dürfte, daß Bernheim ein schlechtes Gewissen hatte.«
»Das kann ich mir eigentlich nicht denken –«
»Aber die Hauptsache bleibt doch die Persönlichkeit von Erkelenz! Damit komme ich zur Sache. Er hatte etwas Faszinierendes, Dämonisches in seinem Gesicht und in seinem ganzen Wesen. Oh, ich entsinne mich seiner deutlich! Wäre der Mann nach Ihrem Geschmack?«
Es war interessant zu hören, wie der Staatsanwalt auf die bloße Anregung des Hüttenbesitzers sich in den zurückliegenden Fall vertiefte und ihn in seiner lebhaften Weise veranschaulichte.
»Wenn ich noch etwas über seine Gemütsart wissen könnte?«
»Seien Sie unbesorgt! Es liegt etwas Lauerndes, Unheimliches, Brütendes in ihm. Es kommt ihm zwar in erster Linie auf das Geld an, er hat aber auch seine geheime Lust an der Art, wie er sich's verschafft. Er handelt mit Bosheit, er legt es darauf an, seine Opfer zu quälen, er ist kalt – er kennt, möchte ich behaupten, keine besseren Gefühlsregungen – was wünschen Sie mehr?«
»Könnten Sie aus den Akten feststellen, wann er zur Entlassung kommt?« fragte der Hüttenbesitzer nach kurzem Nachdenken.
Treuß hatte das Aktenstück aufgeschlagen und blätterte. »Ich müßte mich sehr irren«, erklärte er, von seiner eigenen Schilderung angeregt, »wenn die fünf Jahre Zuchthaus nicht bald abgelaufen wären – fünf Jahre! – So lebhaft steht mir der Mensch noch vor den Augen. Sie können sich einen Begriff machen.«
Er berechnete die Strafzeit unter Anrechnung der Untersuchungshaft und stellte den Strafantritt fest. »Was habe ich Ihnen gesagt? In zwei Wochen, genau am dritten Juni, öffnen sich ihm die Tore des Zuchthauses – Sie haben also gerade noch Zeit, alle Vorbereitungen zu seinem würdigen Empfange zu treffen.«
»Dann sage ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank, Herr Erster Staatsanwalt, ich werde mit Direktor Muskalla und mit Erkelenz selbst das weitere besprechen«, erklärte Argobast aufbrechend.
»Vielleicht erfahre ich gelegentlich, wie er Ihren Antrag aufgenommen hat« fuhr Treuß fort, den Besucher noch einen Augenblick festhaltend. »Stellen Sie sich die Sache mit ihm nicht so einfach vor, Herr Argobast. Er ist das, was man eine komplizierte Natur nennt. Er ist stolz, ja trotzig. Almosen nimmt er schwerlich an. Vielleicht stören Sie ihn durch Ihre Einladung auch in wohlerwogenen Plänen.«
Argobast sah den Staatsanwalt fragend an.
»Glauben Sie, daß sein unruhiger Geist in den Gefängnismauern müßig geblieben ist? Ich stelle mir vor, daß ein Mensch wie er in den fünf Jahren eine Menge grandiose und sensationelle Dinge ausgeheckt und – im Geiste – schon ausgeführt hat, die er nun teilweise in die Wirklichkeit zu übertragen einen Kitzel spüren wird.«
»Daran habe ich allerdings nicht gedacht.«
»Um so besser, Herr Argobast, wenn Sie ihn davon abhalten und seine Mitmenschen vor ihm schützen können – nur in diesem Sinne kann ich meine Empfehlung eigentlich verantworten – leider sehe ich aber das Erfolglose Ihres Unternehmens – Sie verzeihen – schon im voraus – es ist ja undenkbar –«
»Bei Gott ist kein Ding unmöglich, Herr Erster Staatsanwalt!« sagte Argobast einfach und ruhig.
»Glauben Sie wirklich, daß der liebe Gott sich an dieser Sache beteiligt?« ließ sich Treuß unvorsichtig entschlüpfen und fuhr schnell auf den seltsamen Blick Argobasts gutmütig fort: »Seien Sie mir nicht böse – wir sind hier nur Juristen, – äußerst nüchtern – ich gebe zu – entsetzlich nüchtern – ich will Ihrer Arbeit keinesfalls zu nahe treten – nein, ganz gewiß nicht – obwohl ich Grund hätte, mit Ihnen zu hadern.«
»Mit mir?« fragte Argobast verwundert.
»Seien wir doch ganz offen – wir Männer unter uns – Ihre Rettungsarbeit, wie Sie sie selbst nennen, ist für unsere Justiz eigentlich ein stiller Vorwurf.«
»Aber ich bitte!« verwahrte sich der andere.
»Ganz ohne, ja gegen Ihren Willen – selbstverständlich – aber denken Sie mal an den Fall Döll. Sie haben den Mann, den wir in diesem einen Ausnahmefalle vielleicht zu hart angefaßt haben, gestreichelt!«
Ein leichter Schatten flog über Argobasts Gesicht.
»Ich nehme aber gleichwohl ein menschliches Interesse an Ihnen und fühle mich auch verpflichtet, Sie zu warnen«, versicherte Treuß ernsthaft. »Sprechen Sie doch, bitte, mit Herrn Staatsanwalt Custodies, der seinerzeit als Assessor unter meiner Leitung den Fall Erkelenz bearbeitet hat. Er wird Ihnen bestätigen, daß auf Erkelenz mancher schwere Verdacht ruhte und eigentlich noch ruht.«
»Das ist mir natürlich von Interesse.«
»Ich will Sie mit Einzelheiten nicht ermüden. Aber verhehlen darf ich Ihnen nicht, daß ich Erkelenz noch ganz anderer Dinge für fähig halte. Seien Sie überzeugt, der Mann, in dem ein böser Dämon schlummert, schreckt vor dem Schlimmsten nicht zurück. Er hat auf mich immer den Eindruck eines heimlichen und unheimlichen Mörders gemacht.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Ja – ja – wenn Sie Ihr Leben liebhaben, seien Sie vorsichtig! Ich glaube nicht, daß Sie mit einem solchen Gesellen zu tun haben wollen. Möchten Sie nicht ein paar Worte mit dem Kollegen Custodies sprechen? Ich lasse Sie zu ihm führen.«
»Aber ich glaube wirklich, von Ihnen bestens unterrichtet zu sein, Herr Erster Staatsanwalt« sagte Argobast ablehnend und im Begriffe, sich endgültig zu verabschieden.
»Also dann reden Sie mit Direktor Muskalla. Vielleicht ist er hoffnungsvoller. Aber neugierig bin ich wirklich und möchte es mit ansehen, wie Sie sich mit dieser Verbrecherseele abfinden werden – immer gern zu Ihren Diensten, Herr Argobast – meine besten Wünsche für Ihr Vorhaben – das versteht sich – auf Wiedersehen – meine Empfehlung an Frau Gemahlin!«
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