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Der Amtsrichter Schierenberg saß in seinem Dienstzimmer im alten Amtsgerichtsgebäude und bereitete sich auf die Schöffengerichtsverhandlung des nächsten Tages vor.
Rechts von seinem wurmstichigen Schreibtische hatte Referendar Barbian Platz genommen, der dem Richter zur Ausbildung überwiesen war. Er hatte einzelne Aktenstücke studieren müssen und entwickelte nun nach bestem Wissen seine Meinung.
Der Gerichtsdiener, ein alter Mann mit weißem Schnurrbarte in dem mürrischen Gesicht, trat, ohne anzuklopfen, herein und überreichte einen Brief. »Von Herrn Argobast soeben für Herrn Amtsrichter abgegeben.«
»Argobast? Kenne ich nicht!« sagte der blonde Amtsrichter mit dem nach hinten gekämmten Haar, der äußerlich eher den Eindruck eines Philologen als eines Juristen machte. Dabei überlas er flüchtig die Aufschrift des Schreibens.
Während der Diener sich mit schleppendem Gange wieder entfernte und die Zimmertüre hinter sich ins klirrende Schloß warf, öffnete Schierenberg mit etwas empfindlicher Miene den Umschlag und nahm vom Inhalte des Briefes Kenntnis. Je weiter er las, desto unruhiger hielt er das Papier.
»Bitte, suchen Sie die Akten Blessinger heraus, die wir vorhin besprochen haben!« rief er dem Jüngeren nicht ohne Schärfe zu.
Referendar Barbian, ein eleganter junger Mann, stürzte den Aktenstoß ein, der auf einem schmalen Tische zwischen ihm und dem Amtsrichter aufgetürmt war, und überreichte das gewünschte Aktenheft.
»Und nun lesen Sie dieses Schreiben«, sagte der Richter nervös, »lesen Sie es laut vor! Es gehört zur Instruktion.«
Referendar Barbian las.
»Sehr geehrter Herr Amtsrichter! Sie wollen entschuldigen, wenn ich mich auf ausdrücklichen Wunsch eines Dritten in dessen zu Ihrer Zuständigkeit gehörigen Angelegenheit bittend an Sie wende –«
»Eine ganz neue Art – das muß ich sagen –« bemerkte der Amtsrichter.
»Der Buchhalter Blessinger bei der hiesigen angesehenen Firma Jenel und Düß hat sich morgen vor dem Schöffengerichte unter Ihrem Vorsitze wegen Vergehens gegen § 327 des Strafgesetzbuchs zu verantworten. Er hat –«
Das Amtszimmer lag im Erdgeschoß nach dem Garten des Gerichtsvorstandes hinaus. Durch das offene Fenster duftete der Flieder, von einem säuselnden Lüftchen getragen, herein, ein Fink schlug lustig in den Zweigen – unwillkürlich sah der jüngere Rechtsbeflissene auf.
»Er hat«, wiederholte er fortfahrend, »während der herrschenden Hundesperre seinen kleinen Hund auf einer unbelebten Promenade ein Stück ohne Maulkorb und Leine laufen lassen.«
»Darüber werden wir gleich sprechen.«
»Herr Blessinger hat nun das Unglück gehabt –«
Weiter kam der Referendar nicht, weil seine Stimme von den Fanfaren der Militärkapelle, die um die Ecke schwenkte und mit ihren hellen Trompeten schmetternd einsetzte, übertönt wurde.
Wie auf Verabredung, wiewohl Schierenberg etwas zögernd, erhoben sich die Juristen von ihren gelben Kirschbaumstühlen und traten an das Fenster. Über den Garten hinweg konnte man die schmucken blauen Reiter mit ihren wehenden Fähnlein unter Führung eines schneidigen Offiziers vorüberziehen sehen.
»Von Raupach – der tolle Rittmeister –« erklärte Barbian, der den Husarenoffizier zu kennen schien. Schierenberg sagte nichts und lächelte nur.
Erst als der letzte Mann und das letzte Roß in der blühenden Kastanienallee ihren Blicken entschwanden, entsannen sich die Juristen auf ihren »Fall« und zogen sich vom Fenster zurück.
Der Paragraphenlehrling las weiter.
»Blessinger hat nun das Unglück gehabt, vor zehn Jahren einen Fehltritt zu begehen. Er ist wegen Unterschlagung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, die er bis auf einen in Gnaden erlassenen Rest verbüßt hat.«
»Das ist richtig.«
»Danach hat er sich durch Fleiß und Begabung von untergeordneten Posten zu seiner verantwortungsvollen und gutbezahlten Stelle emporgearbeitet. Weder seine Prinzipale noch seine Frau wissen von seiner Vorstrafe. Er hegt nun die Furcht, daß die übliche Verlesung des Auszugs aus seinem Strafregister –«
»Hier ist er!« Der Richter klopfte mit der Hand auf die Akten.
»Seine frühere Verurteilung in weiteren Kreisen der Stadt bekannt macht und nicht nur sein Familienleben trübt, sondern auch seine Stellung im Geschäfte, das auf einen tadellosen Ruf peinlich hält, gefährdet, ja erschüttert. Er bittet deshalb inständig –«
»Er bittet – lesen Sie langsam, Herr Kollege.«
Der Referendar hemmte seinen Redefluß. »Von solcher Verlesung seiner mit der neueren Anklage in gar keinem Zusammenhang stehenden Vorstrafe in öffentlicher Verhandlung abzusehen. Ich schließe mich –«
»Also Herr Argobast –«
»Seiner Bitte, die auch dem neueren Rechtsempfinden des Volkes Rechnung trägt, ergebenst an. Daß Blessinger sich nicht selber unmittelbar an den Herrn Amtsrichter wendet, sondern seinen Wunsch durch mich vorträgt, bitte ich mit seiner begreiflichen Befangenheit und meinen in hiesigen Kreisen bekannten –«
»Mir unbekannten –«
»Jahrelangen Bemühungen zu erklären, würdigen Vorbestraften ihr Fortkommen zu erleichtern. Mit dem Ausdrucke vorzüglicher Hochachtung ergebenst Michael Argobast.«
Der Referendar hatte ausdrucksvoll und mit steigender Wärme gelesen, er gab den Brief seinem Vorgesetzten zurück.
Schierenberg schwieg einen Augenblick und schien von dem Inhalte doch einen anderen Eindruck als beim ersten Überlesen empfangen zu haben.
»Wie würden Sie sich als Schöffenrichter zu diesem Ansinnen stellen?« fragte er dann.
Barbian zögerte etwas mit der Antwort. »Ich würde, glaube ich, die Vorstrafe nicht verlesen.«
Der Richter schien diese offene Antwort nicht erwartet zu haben; er runzelte, kaum merklich, die Stirn.
»Handelte ich da völlig unbeeinflußt als unparteiischer Richter?« fragte er den überraschten Referendar. »Wenn Herr Argobast, den ich nicht kenne, von dem ich gar nichts weiß –«
»Er nimmt in der Gesellschaft eine sehr angesehene Stellung ein –«
»Mag sein – ich bin erst seit einem Jahre hier – wenn Herr Argobast nicht geschrieben hätte, versetzen Sie sich ganz in diese Lage, würden Sie von selbst den Entschluß gefaßt haben, die Vorstrafe nicht zu verlesen?«
»Ich persönlich? Vielleicht –« Das klang freimütig und offen.
»Aber von mir selber, der ich seit Jahren in der Praxis stehe, könnte ich das kaum versichern« sagte Schierenberg etwas empfindlich. »Wie kämen Sie zum Beispiel zu Ihrem freiwilligen Entschlusse?«
Barbian errötete sichtlich, als er sagte: »Die öffentliche Meinung und die Presse kämpfen schon lange gegen die öffentliche Verlesung der Vorstrafen an.«
»Die Straftat, deren Blessinger jetzt angeklagt ist, Herr Kollege, hat der Gesetzgeber nur mit Gefängnisstrafe bedroht.«
»Auch hier fordert das Rechtsbewußtsein des Volkes bereits die wahlweise Geldstrafe.«
»Wollen Sie Verteidiger werden, weil Sie so stark in Reformen arbeiten?« fragte der Richter etwas kühl.
»Ich hätte dazu eine ausgesprochene Neigung.«
Dabei hafteten Barbians Augen an dem vergilbten Bilde eines längst verstorbenen Justizministers, das hier in dem veralteten Inventar aus Pietät oder Gewohnheit noch nicht von der geblümten Tapete über dem zerrissenen Ledersofa genommen worden war.
»Der Schutzmann versichert, daß Blessinger dem Hunde, der übrigens so klein nicht zu sein scheint – wir können ihn uns ja ansehen! – den Maulkorb gelöst und ihn die Leine hat nachschleifen lassen, obwohl er den Beamten hinter sich hergehen sah.«
Der Amtsrichter blätterte in den Akten und fuhr fort: »Kommt da nicht ein recht offensichtlicher Wille des Angeklagten zum Ausdrucke, sich nicht an das Gesetz zu binden? Geschah nicht bei seinen früheren Unterschlagungen dasselbe? Wird dadurch nicht ein gewisser Zusammenhang hergestellt?«
Er bestätigte sich durch wiederholtes Kopfnicken selbst.
»Kann man nicht die Frage aufwerfen«, endete er, indem er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch schlug, »wie ein durch seine Vorstrafe so ernstlich gewarnter Mann das Gesetz und seinen amtlichen Vertreter so über die Achseln anzusehen vermag?«
Der Referendar machte ein ernstes Gesicht. Auf ein so strenges Sittengericht schien er in dieser Angelegenheit nicht vorbereitet zu sein.
»Verstehen Sie mich nicht falsch!« lenkte Schierenberg, der Sohn eines Schnittwarenhändlers aus Völklingen, ein. »Ich bin ein nur dem Gesetze und meinem Gewissen unterworfener Richter. Das klingt sehr schön und ist, wie Sie am Beispiele sehen, manchmal recht schwer erfüllt. Wir üben solche Verlesung der Vorstrafen unbedenklich seit Jahr und Tag.«
»Aber eine neue Übung kann sich Bahn brechen!« sagte Barbian ungefragt mit hellen Augen.
»Gewiß kann sie das! Aber käme sie diesmal aus meiner völlig unbeeinflußten richterlichen Überzeugung? Verstehen Sie, was ich sagen will, Herr Kollege? Darf ich abweichen, weil Herr Argobast, gerade ein Herr Argobast, mir schreibt und mich bittet?«
Der Amtsrichter war lebhaft aufgestanden und schloß für heute die Instruktionsstunde.
Man sah ihm an, daß er sich durch den eigentümlichen Inhalt des Briefes tatsächlich im Innersten beunruhigt fühlte. In seinen Augen hatte er einen zerstreuten Blick und rückte seinen Stuhl unsanft beiseite.
Herbert Barbian, der Sohn eines Großindustriellen aus Düsseldorf, war still geworden. In der Beurteilung seines Amtsrichters, dem er in Gedanken wiederholt den Vorwurf der Kleinlichkeit gemacht hatte, trat eine leichte Verschiebung ein.
Zwar trugen nach seiner Meinung Schierenbergs heutige Bedenken eigentlich auch einen kleinlichen Charakter. Aber sie waren Kundgebungen eines sich peinlich – allzu peinlich! – richtenden Gewissens, eines unbestechlichen deutschen richterlichen Gewissens, das nur den Begriff solcher Unbestechlichkeit und richterlichen Unabhängigkeit ein wenig überspannte.
Aber für ein solches, heute erlebtes Ereignis hatte der junge, hochbegabte Jurist ebenfalls ein empfängliches Gemüt.
Er verstand seinen Amtsrichter dahin, daß ihm die Anregung, die ihm Argobast gab, neu war, gänzlich neu, und daß er erst einer Einfühlung in den fremden Gedankenkreis bedurfte, ehe aus ihr die gewandelte richterliche Überzeugung geboren werden konnte. Freilich war für den bedauernswerten Blessinger von Bedeutung, ob diese Wandlung binnen vierundzwanzig Stunden sich vollziehen würde!
Wärmer als sonst erwiderte Barbian in diesem Sinn bei der Verabschiedung den Druck der ihm gebotenen Hand des Richters und verließ, um wertvolle Anregungen bereichert, das Dienstzimmer, dessen Türe auch Schierenberg alsbald hinter sich schloß.
Die warme Morgensonne lachte tiefer in den gemütlichen, einem Familienwohnzimmer ähnlichen Raum herein und flimmerte, von der Fensterscheibe zurückgeworfen, um Mund und Nase des vergilbten toten Justizministers.
Einsam aber in der verlassenen Stube schwebte noch immer der köstliche Fliederduft lautlos über den Akten.
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