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In einer kleineren schlesischen Stadt, nahe der russischen Grenze, stand in einer Seitenstraße ein älteres gelbliches Haus. Über dem Geschäftsladen, der sich im Erdgeschoß befand, las man in frischgemalten Buchstaben: »Nikolaus Kurstosch, Messerschmied«. Im Schaufenster lagen Scheren und Messer aller Art mit schön geschliffenen, blanken, haarscharfen Klingen, in denen sich die Strahlen der hellen Herbstsonne lustig spiegelten.
Die beiden Stufen hinauf zur Ladentüre stieg jetzt ein wohlbeleibter uniformierter Mann mit klirrendem Schleppsäbel und betrat den Geschäftsraum, der leer war.
Der schellende Ton der Ladenklingel war in den Hinterräumen vernehmbar, aus denen nach einigen Augenblicken ein kleiner Fünfziger mit ergrauendem Haar hervorkam, der, sich die Hände reibend, angesichts des Besuchers etwas stutzte. Dann zog er den Kopf etwas ein und fragte: »Herr Wachtmeister Krusebaum – womit kann ich dienen?«
»Hören Sie mal, Meister Kurstosch«, begann der Beamte, sich räuspernd, »ich habe eine Sache mit Ihnen zu besprechen.«
»Ist etwas passiert?« fragte der Kleine, indem er seine Augen auf den Polizisten richtete. »Soll ich ein Gutachten –?«
»Nein, Meister, es handelt sich um etwas anderes« lenkte Krusebaum ab und fuhr dann fort: »Sagen Sie mal, Sie sind doch früher am Rhein gewesen – in der Nähe von – von –«
Dabei nannte der Beamte den Namen einer Stadt in der Rheingegend.
Kurstosch schüttelte den Kopf. »Da bin ich niemals gewesen« und rieb wieder seine Hände.
»Denken Sie mal nach, Meister. Man irrt sich zu leicht. Es sind seitdem auch Jahre vergangen.«
»Ich habe Gott sei Dank, denke ich, ein sehr gutes Gedächtnis. Weshalb sollte ich so etwas vergessen? Mit keinem Schritte habe ich die Stadt betreten.«
»Das sollten Sie nicht verreden! Auf Ihrer Wanderschaft sind Sie als junger Geselle durchgekommen.«
Kurstosch sah ihn an. »Wenn Sie's so meinen, Herr Wachtmeister – als Fechtbruder hat man allerdings manche Stadt gesehen, deren Namen man begreiflicherweise vergessen hat.«
Der Mann war hinter den Ladentisch getreten, der Beamte lehnte sich darüber, machte ein merkwürdiges Gesicht und sagte vorläufig gar nichts.
Da kam auch schon ein Störenfried. Die Ladentür öffnete sich, und ein Mann aus den arbeitenden Kreisen trat herein.
Der Polizeimann kehrte der Ladentafel den Rücken und sah sich die Auslagen im Glasschranke an.
»Was steht Ihnen zu Diensten – Herr?« hatte sich der Messerschmied an den Kunden gewendet.
»Ich möchte – ich hätte gern –« stotterte mit halb nach hinten gewendeten Blicken der Arbeiter. »Ich könnte auch wiederkommen, ich habe noch einen kleinen Weg zu machen.«
Krusebaum warf von der Seite einen Blick auf den zaghaften Käufer.
»Ob Sie Rasierseife haben, wollte ich fragen« brachte der Stotterer endlich sehr schnell heraus.
»Bedaure, die führe ich nicht.«
»Dann entschuldigen Sie«. Wie der Teufel war der Kunde zum Laden hinaus.
»Wer weiß, was der kaufen wollte« sagte der Beamte mit einem Blick nach der Türe.
»Herr Wachtmeister!«
»So muß unsereiner immer denken – – war das nicht Maximilian Paulikat?«
»Ich kenne den Mann nicht.«
»Also bleiben wir bei unserer eigenen Angelegenheit« lenkte der Beamte ein. »Meister Kurstosch, ich sag's Ihnen auf den Kopf zu – Sie waren tatsächlich wochenlang in der Stadt.«
»Das ist dummes Zeug« lautete die verdrießliche Antwort.
»Sie lobten vorhin Ihr gutes Gedächtnis! Da denken Sie mal nach. Gewisse Dinge vergißt der Mensch nie. Was zum Beispiel? Fällt Ihnen nichts ein? Sie saßen ja dort im Gefängnisse.« Der Beamte erklärte das etwas gereizt.
»Ich? Im Gefängnisse?« sprühte der Kleine fast Feuer. »Das wagen Sie mir zu sagen? Hier in meinem eigenen Laden?« Der Mann wurde glutrot und fuchtelte mit den Händen.
»Das haben Sie wirklich vergessen? Davon wollen Sie gar nichts mehr wissen? Und waren wegen Mordes angeklagt?« zischelte Krusebaum.
Der Kleine schlug mit der geballten Faust auf den Ladentisch. »Ich angeklagt? Ich ein Mörder? Ist das schon dagewesen?«
Aus dem Hinterraum trat, durch das lebhafte Gespräch aufmerksam gemacht, eine kräftige Frau mit energischen Gesichtszügen und stemmte die fleischigen Arme ein. »Wer ist ein Mörder?« fragte sie mit funkelnden Augen in ihrer tiefen Stimme.
»Hältst du's für möglich, Jule?« schrie der Meister und wollte sich ausschütten vor spöttischem Lachen. »Ich bin angeklagt gewesen – ich bin ein Mörder – ich, der ich in Mordsachen als Sachverständiger gehört werde – und laufe seit Jahrzehnten frei herum – wir haben uns geheiratet – wir haben vier Jungen und drei Mädel gehabt – und habe den Kopf noch auf meinem Genick.«
»Mörder, Herr Wachtmeister?« schnarrte die Frau in dem schlumpigen Kleide mit dem starken Busen.
»Wollen Sie mich auch mal reden lassen?« fuhr jetzt Krusebaum barsch dazwischen. »Wer hat gesagt Mörder? Freigesprochen worden sind Sie – damit Sie's wissen«.
»Freigesprochen? Ich danke für das Glück und die Ehre – Jule, ich freigesprochen – seh' ich so aus?«
»Aber angeklagt waren Sie – wegen Mordes – wegen Raubmordes.«
»Raubmord? Immer besser.« Der Kleine fing vor Erregung hinter der Ladentafel zu tänzeln an.
»In Untersuchungshaft haben Sie gesessen – jawohl, wir wissen das – vor dem Schwurgerichte haben Sie gestanden – freigesprochen wurden Sie – wir wissen alles – wegen mangelnden Beweises.«
»Was heißt das: wegen mangelnden Beweises?« fragte die Frau mit durchdringendem Blick und Grabesstimme.
»Meisterin Kurstosch, das heißt – zur Verurteilung hat's nicht ganz gelangt. Lassen Sie mich endlich zu Worte kommen! Jawohl, ich frage im dienstlichen Auftrage der Staatsanwaltschaft.«
Die Meisterin schrie auf: »Nikolaus, sie wollen dich holen.« Dabei trat sie wie zum Schutze vor ihren Mann, von dem kaum etwas zu sehen blieb.
Ein junger, langaufgeschossener Mensch mit blassem Gesicht stürzte herein.
Der Beamte stellte sich breitbeinig hin. »Jetzt reißt mir die Geduld! Die ganze Familie stürzt herbei. Und ich habe nur eine einfache Befragung! Jetzt mache ich Ernst, Leute!«
Er besann sich aber, wurde, während er im Laden auf und ab ging, ruhiger und sagte dann: »Ich will Ihnen noch etwas ins Gedächtnis zurückrufen, Meister – Sie waren angeklagt, einen Handwerksburschen, mit dem Sie auf der Walze waren und der unvorsichtigerweise einen Hundertmarkschein hatte sehen lassen, erstochen – richtig erstochen – totgestochen zu haben.«
»Hast du schon mal gehört, Jule, daß ein armer Handwerksbursche auf der Walze einen Hundertmarkschein bei sich hatte?« wieherte der Meister.
»Das muß ein Prinz gewesen sein – ein richtiger Märchenprinz« höhnte sie in des Basses Grundgewalt zurück.
»Sieben Stiche – tief – zweie ins Herz«, berichtete Krusebaum weiter, ohne sich irremachen zu lassen, »mit einem scharfen Messer – wie – wie sie hier zu Dutzenden liegen – hier in Ihrem Laden – so hab' ich's schriftlich – verstanden?«
Dabei zog er ein großes Schriftstück aus seiner Tasche und entfaltete es.
»Wie können Sie mich vor Weib und Kind, die nichts davon wissen, zum Mörder machen?« fragte Kurstosch, sich die Hände, als wüsche er sie, fortgesetzt nervös reibend. »Meinen Sie vielleicht, weil ich Messerschmied bin, weil in meinem Laden alles sticht und funkelt, weil ich mit den scharfen Dingen täglich hantiere und an ihnen meine Freude habe? Soll das etwa im Berufe stecken? Wozu machen Sie dann den Fleischer Gabrovski? und den Doktor Ludgen, der den Leuten die Beine absägt?«
Der Polizist wußte nicht, was er zu diesem närrischen Zeug sagen sollte.
»Ich wiederhole Ihnen, Ihr Schriftstück lügt – ich bin kein Mörder – ich bin niemals angeklagt gewesen – und erst recht nicht freigesprochen worden.«
Hinter der Türe, die aus dem Laden nach dem Hausflur führte, war ein Geräusch vernehmlich. »Da können Sie Gift darauf nehmen, Herr Wachtmeister«, sagte eine heisere Stimme, »Meister Kurstosch ist kein Raubmörder.«
Die Familie Kurstosch erbleichte, während sich schwere Tritte schleppend entfernten.
»Das war Wendelin Söll!« flüsterte die Frau. »Nun weiß es das Haus, nun weiß es die ganze Straße.«
Der Wachtmeister zuckte die Achseln. »Meine Schuld ist das nicht.«
»Um guten Ruf, um Kundschaft, um alles gebracht – in einer Viertelstunde – im eigenen Laden«, keuchte der Kleine, »durch eine Lüge – das sollen Sie mir büßen – ich verlange Genugtuung.«
»Drohung! Wißt ihr, was das heißt, Leute? Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt!« donnerte Krusebaum, so daß alle erschraken und zurücktaumelten. »Ich bereue, daß ich hierhergekommen bin, um die Sache zu erleichtern, um kein Aufsehen zu machen. Das ist nun vorbei. Jetzt folgen Sie mir zur Polizeiwache.«
»Mit keinem Schritt!« schrie der Messerschmied, sich hinter seine Ladentafel zurückziehend.
»Seid ihr alle des Teufels? Habt ihr den Kopf verloren? Begreift ihr, was daraus wird, wenn mir die Geduld reißt?« Dann lenkte er zum letzten Male ein. »Seien Sie vernünftig, Meister, das ist mein letztes Wort. Schicken Sie Ihre Leute hinaus. Die haben damit nichts zu schaffen. Dann wollen wir uns als Männer ruhig unterhalten. Um weiter handelt es sich nicht. Das konnte längst geschehen sein. Verstanden? Wer will Ihnen ein Haar krümmen? Kein Mensch! Habe ich so was gesagt?«
»Also gut – wir wollen zusammen reden – wir Männer unter uns – ruhig – vernünftig – ihr anderen geht hinaus – vorwärts – macht keine Umstände.« Der Meister war sichtlich verändert.
Mutter und Sohn machten trotzige Mienen und wollten nicht weichen.
»Wer hat euch überhaupt gerufen? Kein Mensch! Mischt euch nicht in meine Angelegenheiten – was kümmert's euch, ob ich freigesprochen worden bin? Damals war ich noch ledig – verstanden?«
Der blonde Kasimir sah seine Mutter fragend an; diese runzelte zwar die Stirn, zog sich aber doch schließlich unter einigen kaum mißzuverstehenden Verwünschungen zurück. Der Meister schloß hinter ihnen energisch die Tür.
Der Wachtmeister nahm einen anderen, gutmütigen Ton an und fragte: »Nun hören Sie mal in Ruhe zu, Meister! Wir haben da recht dummes Zeug gemacht. Beantworten Sie mir ein paar Fragen. Damit ist alles erledigt. Heißen Sie nicht Johannes Eugen Nikolaus Kurstosch?«
Der Meister rieb sich schon wieder die Hände und sagte: »Die Reihenfolge stimmt nicht: Eugen Nikolaus Johannes muß es heißen.«
Der Beamte sah ihn an. »Der Rufname wäre Johannes? Da stände doch in Ihrem Firmenschilde ein falscher Name?«
Der Meister kniff die Augen zusammen.
»Geboren sind Sie am sechzehnten April 1857 in Magdeburg?«
»Bitte siebzehnten April 1856, Herr Wachtmeister.«
Krusebaum stutzte und zog sein Taschenbuch. »Sechzehnten April 1857 – Donnerwetter – ich habe selber nachgesehen – so stehen Sie in unserem Register.«
Der andere lachte fast listig.
»Der am sechzehnten April 1857 in Magdeburg geborene Johannes Eugen Nikolaus Kurstosch wird im Polizeiblatt als Zeuge gesucht.«
»Als Zeuge?« fragte der Messerschmied überrascht. »Wirklich als Zeuge? Nur als Zeuge? Sie sagten doch als Mörder – als Raubmörder?«
»Ist mir nicht eingefallen.« Er hielt ihm ein gedrucktes Blatt in kleinem Format hin. Er las es ihm vor. Er las es dann selber, sogar zweimal.
Kurstosch kratzte sich hinter den Ohren.
»Vielleicht ist Ihr Firmenschild doch nicht unrichtig, Meister« meinte Krusebaum gemütlich.
»Es könnte am Ende sein« sagte er verlegen.
»Und sechzehnter April?«
»1857 – fragten Sie so?«
Einen Augenblick dachte er nach. »Ich besinne mich eben. Wenn Sie wüßten, wie das zugeht. Manchmal kann ich den merkwürdigen Gedanken nicht loswerden, daß ich nicht am sechzehnten April 1857, sondern am siebzehnten April 1856 geboren bin. Ist manchmal sozusagen eine fixe Idee von mir – ich muß es mir immer vorsprechen – das heißt falsch – verstehen Sie? – so lange sage ich es mir her, bis ich das Richtige vergessen habe – ganz vergessen – und das Falsche glaube. Der Teufel plagt mich förmlich dabei. Dann bilde ich mir fest und steif ein – können Sie begreifen, Herr Krusebaum?«
Diese Auseinandersetzung begleitete Kurstosch mit Mienen und Gebärden, so daß dem Beamten etwas unheimlich zumute wurde.
»Ach ja, es kommen merkwürdige Verwechslungen vor. – Also dann sind Sie aber auch der Gesuchte, Meister!«
»Der Zeuge? Der Zeuge!«
»Jetzt der Zeuge – der Freigesprochene.«
»Und wer sucht mich als Zeugen, gegen wen?« wich Kurstosch schon wieder aus.
»Der Staatsanwalt – gegen den wirklichen Mörder und Räuber.«
»Gegen den wirklichen?« fragte Kurstosch mißtrauisch, am Fingernagel kauend. »Wer ist das? Wie heißt er?«
»Das weiß man noch nicht.«
»Aha!« rief Kurstosch, einen Schritt zurücktretend.
»Es sind ja Ihre eigenen Angaben. Als wirklichen Raubmörder haben Sie damals den Handwerksburschen aus Goslar bezeichnet, der mit Ihnen und dem Ermordeten einige Tage auf der Walze gewesen war.«
»Ich? Als wirklichen Raubmörder – aus Goslar?« fragte Kurstosch mit starren Augen.
»Es wird Ihnen vorgelesen werden – aus den Akten.«
»Vorgelesen? Mir? Aus den Akten? Die Akten sind noch vorhanden? Wer hebt die so lange auf?«
»Der Staatsanwalt.«
Der Kleine atmete schwer. »Und wer gräbt diese Sachen wieder aus?«
»Der Staatsanwalt.«
»Immer der Staatsanwalt?«
»Man hat eine Spur vom wirklichen Täter.«
»So? Hat man? Nach fünfundzwanzig Jahren? Das ist ja eine schnelle Justiz, die uns Gott der Herr erhalten möge – in Ewigkeit – Amen.«
Nikolaus Kurstosch war ganz fahl geworden. Seine Hände zitterten, als er sie rieb und fortfuhr: »Und wenn man den wirklichen Mörder wieder nicht findet, habe ich dann nicht zu gewärtigen, daß man auf mich erneut zurückkommt?«
»Das glaube ich nicht« erklärte Krusebaum etwas unvorsichtig.
»Glauben Sie nicht? Weitere Sicherheit können Sie mir nicht geben? Herr Krusebaum – ich bin ein ehrlicher Mann – was ich Ihnen vorhin sagte wegen der Vornamen und des Geburtstages – so wird man, Herr Wachtmeister – ich sage Ihnen, so wird man – wider seinen eigenen Willen – die Gedanken sichern sich einen Versteck – sage ich Ihnen –«
Der Wachtmeister war über den Eindruck, den der Mann machte, überrascht. »Weshalb haben Sie das nicht gleich gesagt – alles wäre erspart geblieben!«
Kurstosch wackelte mit dem Kopf. »Das kann ich nicht, Herr Wachtmeister – ich kann mich vor Frau und Sohn nicht zum Raubmörder machen lassen – nun ist's doch geschehen. Was ich fünfundzwanzig Jahre lang mit mir herumgeschleppt, worüber ich nie mit einem Menschen ein Sterbenswörtlein gesprochen habe, was ich in meinem Gehirn gewaltsam auszutilgen versuchte, was ich künstlich in meiner Erinnerung – Sie hörten ja – zu verfälschen unternahm –«
Der Wachtmeister faßte ihn beruhigend am Arm.
»Nein – das wissen Sie nicht – das muß ich Ihnen auseinandersetzen – was wißt ihr Polizeimenschen von der Menschenseele? Fünfundzwanzig Jahre – es war im Juli – habe ich nun in der Furcht gelebt, daß ein Tag kommen könnte wie heute. Und nun gerade ganz schlimm, sehr schlimm – Weib und Kind haben's gehört.«
»Die glauben doch nicht daran, Meister – die sind von Ihrer Unschuld felsenfest überzeugt.«
Der Kleine legte den Finger auf den Mund und fuhr leise fort: »Pst! Nicht so laut! Die glauben nicht daran, sagen Sie? Wer kann das wissen? Kennen sich Eheleute so genau? Meine Frau hat mich im Traum oft ächzen und schreien hören – wenn ich im Schlafe wieder vor den Geschworenen stand – wenn sie sich von meiner Unschuld nicht überzeugen lassen wollten – und dem Sohne sagt die Mutter im übereilten Zorn manches, worüber er später sich den Kopf zerbricht – das sind so tiefe Bedenklichkeiten.«
Er hatte starre Augen, als er das in flüsterndem Tone gesagt hatte, und fuhr fort: »Wie will ich armer Mensch sie von meiner Unschuld überzeugen? Ich vermöcht's nicht – wenn sie mir ins Gesicht sähen – verdächtige Glutröte übergießt mich – jawohl! – obwohl ich unschuldig bin, schon im bloßen Gedanken – verstehen Sie? –, daß sie's nicht glauben – kennen Sie das?«
»Also preisen Sie sich doch glücklich, daß Gelegenheit gegeben werden soll, Ihre Unschuld zu erweisen, wenn der wirkliche Täter ermittelt wird – jetzt soll Licht in das Dunkel kommen.«
»Licht in das Dunkel? Wer bringt das? Die Justiz? Das glaube ich nicht. Das kann nie geschehen – ich kann mich dessen nicht freuen – da müßte ich erst die näheren Umstände wissen – die jetzt den Stein wieder ins Rollen bringen sollen. Das gefällt mir nicht. Ich habe eine geheime Furcht. Ich habe kein Glück, Herr Wachtmeister. Ich habe kein Glück und bin doch unschuldig.«
Er richtete sich wild auf. »Wachtmeister Krusebaum, ich bin unschuldig!« rief er laut. »Ich bitte mir aus, daß Sie mir's glauben. Sie müssen mir's glauben! Verstehen Sie mich?«
»Ich glaub's schon!« begütigte der Polizist.
Bimbim! schellte die Ladenklingel. Auf den Stufen kamen schwere Schritte herauf. Der Polier Maximilian Paulikat stand wieder im Laden, er schwitzte, sein Gesicht war über und über rot, seine Augen hatten einen unheimlichen Glanz.
Er ging, ohne den ganz hinten stehenden Wachtmeister zu bemerken, mit zutraulichem Grinsen auf Kurstosch zu, der einen Schritt zurücktrat und ihn anschrie: »Was willst du von mir? Weshalb kommst du zum zweiten Male? Was grinst du mich an? Ich habe keine Mordinstrumente zu verkaufen, keine – hörst du? – keine, wenn's in meinem Schaufenster auch blitzt und glänzt! Verstanden?«
Der Angesprochene taumelte einige Schritte zurück und wurde nun auch den Polizisten gewahr, der sich aber stellte, als gehe ihn die ganze Sache nichts an.
Paulikat stieß einige Flüche aus, riß die Tür wieder auf und torkelte hinab.
Kurstosch warf die Tür hinter ihm zu und fuhr, an den Wachtmeister gewendet, fort: »Weshalb sehen Sie mich so an? Habe ich nicht recht? Habe ich's nicht richtig gemacht? Habe ich den Mann angelockt, sich bei mir einen Dolch zu kaufen? Habe ich's ihm nicht gehörig gesteckt? Das wendet aber nicht meine Sache zum Bessern. Wo war ich? Was sagte ich Ihnen? Sie wundern sich, Herr Krusebaum, daß ich mich Ihnen so zeige? Gekannt haben Sie mich jedenfalls von dieser Seite noch nicht. Wenn Sie wüßten, wie das gekommen ist! Sie hätten mich früher kennen sollen! Ich war ein frischer, lebenslustiger Bursche; ich hatte Mut und hoffte es zu etwas zu bringen. Da kam mir gleich zu Anfang diese Geschichte in die Quere. So in der schönsten Jugend, da man die erste Ausschau hält. Nun kaue ich fünfundzwanzig Jahre daran, immer wieder –«
»Sie sehen zu schwarz, Meister.«
»Ich bin mißtrauisch geworden, kleinlich, klein, ich muß gebückt gehen, wo ich aufrecht stehen sollte, ich habe schmeicheln und heucheln, lügen und leugnen gelernt – gelernt! Früher konnte ich das nicht.«
»Brauchten Sie auch nicht.«
»Wer in der steten Furcht, von neuem gezeichnet zu werden, geduckt gehen muß, der wird giftig und bösartig! Alles, was in der Natur und im Leben geduckt geht und schleicht, ist bösartig, Herr Wachtmeister! Merken Sie sich das. Ich hätte in der Gemeinde an die Öffentlichkeit treten können – ich hatte das Zeug dazu. Eine innere Scheu hielt mich ab. Ich dachte, es könne sich rächen und die Vergangenheit wachrufen. Ich wollte sie so gern schlafen lassen. Und nun bin ich klein, kleinlich, geduckt bin ich geblieben, und ein dunkles Schicksal zerrt die Vergangenheit doch wieder ins Licht.«
»Aber vielleicht zu Ihrem Besten, Meister.«
Der Kleine hörte gar nicht mehr auf diese Einwürfe. »Ich will mich nicht rühmen, will mich nicht besser machen, als ich bin – wer kann für seine Gedanken? Dafür hab' ich's hingenommen – als Strafe für etwas anderes, Ungesühntes – Unsühnbares – nur im Glauben an solche Stellvertretung könnt' ich's überhaupt tragen – sonst wäre ich längst zusammengebrochen – der Gedanke an diese Stellvertretung kann vor Wahnsinn schützen – glauben Sie mir's – so, nun bin ich zu Ende – nun kennen Sie mich ganz – jetzt will ich von mir selber still sein – was haben Sie mir noch zu sagen?«
Der Wachtmeister stand vor ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich habe alles mit angehört, was Sie gesagt haben, Meister Kurstosch, und hab's in meinem dummen Schädel, glaub' ich, auch einigermaßen begriffen. Sie unterschätzen uns Polizeileute, wenn Sie uns so etwas nicht zutrauen. Es steht nicht im Gesetz und in unserer Instruktion, daß wir uns auf solche Sachen einlassen, aber wir sind auch Menschen und wissen was davon. Reden wir also noch zwei vernünftige Worte zusammen – beantworten Sie mir einige Fragen – kennen Sie den Mann hier auf dem Bilde? Ich hätte es Ihnen gleich zeigen sollen.«
Dabei langte Krusebaum eine verblichene altmodische Photographie aus seinem Taschenbuche vor.
Kurstosch starrte sie an, fuhr ein Stück zurück und sagte: »Nein, den Mann kenne ich nicht, ich habe diesen Mann nie gesehen. – Wie kommen Sie zu der Photographie?«
»Der Staatsanwalt schickt sie uns.«
»Schon wieder der Staatsanwalt? Wer ist dieser Mann, der alles tut und kann?«
»Ich soll sie Ihnen vorlegen – ob Sie darin etwa Ihren Walzbruder vor fünfundzwanzig Jahren wiedererkennen.«
»Wiedererkennen? Wer hat das Bild dem Staatsanwalt gegeben?«
»Das weiß ich nicht. Aber sehen Sie, es ist in Goslar gemacht – Sie haben doch damals selbst angegeben, daß Ihr Reisegefährte aus Goslar stammt.«
Der Wachtmeister verglich, vielleicht unwillkürlich, die Photographie mit Kurstoschs eigenen Zügen.
Der Messerschmied sah das und sagte schnell: »Sehe ich dem Manne etwa ähnlich? Finden Sie das? Wollen Sie das etwa berichten? Ich war nie in Goslar, glauben Sie mir's, ich habe mich nie in Goslar photographieren lassen.«
»Das behauptet ja kein Mensch.«
»Wenn ich diesen Mann nicht wiedererkenne – und ich vermag's nicht –, dann wird man argwöhnen –, ja gewiß, ich sehe es kommen –, daß mich selber das Bild darstellt – mich selber! So wird's heißen – in der Jugend sehen sich viele ähnlich. Was wird nun geschehen? Was wird dieser allmächtige Staatsanwalt tun?«
»Ja – er will sich an Sie halten.«
»An mich?«
»Auf Grund neuer Beweismittel.«
»Neue Beweismittel? Wo kommen die plötzlich her?«
»Ich weiß nicht. Aber eins fällt mir eben ein. Ein besonders auffälliges Erkennungszeichen haben Sie damals selber ausdrücklich angegeben.«
»Welches Erkennungszeichen? Wer soll es gehabt haben?«
»Der Walzbruder aus Goslar. Auf seiner Brust soll er eine Tätowierung getragen haben – eine sehr merkwürdige – eine Flamme – entsinnen Sie sich nicht?«
»Eine Flamme? Ich weiß von keiner Flamme – ich weiß nichts – gar nichts.« Der Meister blickte ins Leere.
»Das wird dem Staatsanwalt sehr unangenehm sein. Das kann ich Ihnen sagen. Sie müssen in Ruhe darüber nachdenken, Meister. Heute sind Sie zu aufgeregt. Ich merke, ich habe Sie erschreckt. Der Mensch macht eben seine Fehler. Das nächste Mal geht die Sache gewiß besser. Da vergehen noch Tage. Sie werden ganz eingehend als Zeuge verhört werden – machen Sie sich darauf gefaßt.«
»Als Zeuge? Ich weigere mich.«
»Sie können gezwungen werden.«
»Ich weigere mich!« Mit einem katzenartigen Satz war Kurstosch an dem Polizeibeamten vorüber, hatte im Sprunge seine an einem Haken hängende Mütze erfaßt und stürzte wie ein Flüchtiger, wie ein Verfolgter durch die nach dem Hausflur führende Tür hinaus und auf die Straße.
Kopfschüttelnd folgte ihm der Wachtmeister und dachte über diese so gänzlich verfehlte und ergebnislose Amtshandlung nach.
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