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13.

Maloja! In starrer Ruhe drohen die Felsen. Wie Ungewitter dräut es in der Luft, und dunkle Schatten kriechen über den steil zum Bergell abstürzenden Maloja.

Oben auf der Paßhöhe steht ein Weib in der Gewitterschwüle. So steht sie lange, und der Wind zaust an ihren Kleidern, und der schwarze, lang hinabhängende Schleier leuchtet weithin in die Luft.

Unter dem Schleier leuchtet das blonde Haar wie ein Gespinst aus Gold, und die grauen Augen mit den dunklen, tief über der feinen Nase zusammengewachsenen Braunen blickten seltsam forschend in das sonst so sonnige Bergell hinab, das heute so finster und unheilkündend droht. Dort unten, durch das grüne Stufental, führt der Weg in das Land der Sonne, Italien!

Wie ihr Herz klopft, wenn sie daran denkt. Und es ist doch so lange her, seitdem sie einst, wenn auch nur einen einzigen Tag oder nur wenige Stunden daran gedacht, dorthin fliehen zu können, um den vollen Glücksbecher an die Lippen zu setzen, der ihr dort winkte.

Aniane atmete tief und schwer. Wie die Vergangenheit lastete. Hier oben auf der Höhe, von wo sie oft hinunterblickte in das grüne Bergell, da atmete sie sonst freier, aber heute weitete der Malojawind ihr nicht die Brust, nur sengende Glut wehte er ihr ins Herz, daß es fieberte und in wilden Schlägen raste. Dumpf murrte der Donner aus der Ferne, von Bergeseinsamkeit widerhallend. Bald würde das Wetter über Maloja stehen mit flammenden Blitzen und krachenden Donnerschlägen. Unheimlich hoben sich die Berge fast schwarz empor, und darüber gleißte die prächtige, ganz weiße Cima di Rosso in veilchenblauem Lichte so geheimnisvoll, als wollte sie dem Aufschauenden tausend heilige Wunder erschließen.

Aniane liebte die drohenden Berge, die große, düstere Einsamkeit, in welche sie sich seit Wochen zurückgezogen hatte, an dem Tage, da die unerwartete Abreise der Fürstin sie zwang, ohne daß sie es wollte, St. Moritz zu verlassen.

Vielleicht war es unbesonnen gewesen? Es sah so feige aus. Fast wie Flucht. Aber der Gedanke, dem Fürsten wieder zu begegnen, war ihr plötzlich unerträglich geworden. Und da war sie denn mit Tante Malchen ganz heimlich nach Maloja entschlüpft. Aber nicht in dem stolzen Malojahotel, wo buntes internationales Treiben sich entfaltete, hatte sie Einkehr gehalten, inmitten der Häusergruppe Cresta, die da drüben so still und weltverloren über den Silser See herüberlugte.

Dis Einsamkeit hatte ihr geholfen, jetzt siegreich, wie sie meinte, auf der Höhe zu stehen, zu ihren Füßen das tiefe Tal der Leidenschaften, gegen welche ihre Seele jetzt gefeit war für alle Zeit.

Ein fahler Blitz lief im Zickzack über den Himmel, und grollend rollte der Donner über das dunkle Tal.

Aniane blickte prüfend abwärts über den See.

Ob sie wohl Cresta noch vor Ausbruch des Wetters erreichte?

Sie mußte es versuchen, vorher noch heimzukommen. In den wenigen Hütten von Maloja fand sie kaum Schutz, und das Hotel mochte sie nicht betreten.

Sie wußte, daß Schiemann seit einigen Tagen dort wohnte, wie ihr auch gestern die Kur-Zeitung verraten, daß der Fürst von Büsingen mit Gefolge St. Moritz verlassen hatte.

Wie sie das froh machte. Nun erst fühlte sie sich geborgen in Maloja. Es würde niemand kommen, wie sie erst gefürchtet hatte, und sie dort suchen. Wohlweislich hatte sie das kleine Haus in Cresta zum Aufenthalt gewählt. Da würden der Fürst und auch der andere, der Professor, sie weder suchen noch finden.

Aniane zog den Schleier über das Gesicht und beschleunigte ihre Schritte. Jetzt hatte sie das Hotel erreicht. Sie wandte sich und bog eiligst seitwärts in den schmalen Pfad ein, der zwischen Heidekraut und Alpenrosen hinüber nach dem kleinen, weltvergessenen Friedhof mit der niederen Steinmauer führte.

Nirgends ein Laut, nirgends ein Mensch. Nur das ferne Grollen des Donners und das Rauschen des Windes.

Zwischen Wacholder, Erika und Alpenrosen schritt sie dahin. Jetzt hatte sie die Stätte der Toten erreicht.

»Wer so schlafen könnte,« dachte Aniane, unwillkürlich stehen bleibend. »So still und behütet von den starren Riesenwächtern, die ihre Jahrtausende so stolz und ungebeugt tragen, während wir schon zusammenbrechen, sobald ein einziger Gewitterwind über uns hinbraust.«

Und plötzlich faßte auch Anianens Gestalt ein toller Wirbelwind und drückte sie fest gegen die niedere Steinmauer des Kirchhofs, der in dieser großartig bewegten Landschaft so heimlich und weltvergessen lag, wie eine Oase des Friedens.

Haltsuchend klammerte sich Aniane an einen Arvenbaum, den einzigen an der Mauer, und sah in die Ferne.

Es war, als öffne sich da drüben über dem Silser See der Himmel weit, und als gähne ihr aus den zerrissenen Wolken mit den feurigen Blitzen ein tiefer, glühender Schlund entgegen, der sie verschlingen wollte. Dunkelstes Violett umhüllte den Piz Mortél und den Pizzo Grande, indes der Piz della Margua und der mächtige Monte Muretto ihr weißes Schneekleid, von gelben Funken übersät, wie einen Sternenmantel um sich breiteten. Die angrenzenden Berge lagen in tiefster Dunkelheit wie ein unergründliches, warnendes Schicksal.

Fielen nicht schon die ersten Tropfen?

Aniane sah sich einen Augenblick ängstlich um.

Nun hatte sie wohl gar Furcht hier bei den stillen Schläfern?

Ein kaum unterdrückter Schrei entrang sich plötzlich ihrem Munde.

Von Segantinis Grab, zu dem sie so oft wallfahrtete, und auf welches sie vorhin erst einen Strauß Alpenblumen gelegt, löste sich eine hohe Gestalt und trat auf sie zu, als hätte sie hier auf Aniane gewartet.

»Erschrecken Sie nicht, Baronin,« sprach eine tiefe Stimme, »ich habe Ihrer geharrt, denn ich sah Sie vorhin schon vom Hotel aus hier in Andacht weilen, und ich sagte mir, daß Sie hierher zurückkommen würden, um Ihr Heim zu gewinnen.«

Aniane sah voll Unruhe und geheimer Angst in die Augen des Fürsten von Büsingen.

»Ich glaubte Durchlaucht abgereist,« entgegnete sie endlich, nur um etwas zu sagen.

»Das bin ich auch,« gab der Fürst zurück, »aber ich dachte nicht daran, das Engadin zu verlassen, bevor ich Sie nicht gesprochen hatte.«

»Meine Abreise von St. Moritz hätte Ihnen sagen müssen, Durchlaucht, daß ich keine Begegnung wünsche.«

»Ja, die Abreise hat mir genug gesagt, aber doch nicht alles. Ich bin auf dem Wege nach Büsingen, Schiemann begleitet mich. Er hat eingewilligt, einige Monate mit mir zu kommen und sich meinen Aufträgen zu widmen. Ich brauche den Freund.«

Ein fast verächtliches Lächeln kräuselte Anianens Lippen.

»Und seine Kunst?« fragte sie spöttisch. »Soll oder wird sie sich in Büsingen entfalten, wie es sein Bestes in ihm erheischt? Nein, er wird wieder rückwärts gehen. Alles wird wieder vernichtet werden, was in ihm keimt, was in ihm im Werden ist. Ich beklage tief, daß der Professor schwach genug war, Ihren Lockungen zu folgen. Freilich, Fürstengunst, wer könnte ihr widerstehen!« schloß sie bitter. »Aber Schiemann hatte ich doch höher eingeschätzt.«

Auf den Wangen des Fürsten brannte eine heiße Röte.

Unwillen zuckte in den grauen Augen auf.

»Sie wissen am besten, Baronin, daß Fürstengunst nicht allen die Sinne verwirrt, und daß Schiemann mein Freund ist, mein einziger, wahrer und aufopfernder Freund. Fürsten haben deren wenige, und darum nehme ich sein Opfer an. Ich weiß, daß er mir ein solches bringt, aber ich bin Egoist genug, es anzunehmen, weil ich einsam bin, Aniane, ganz einsam.«

Die schlanke Gestalt richtete sich höher empor. Eine hoheitsvolle Abwehr lag in ihrer Haltung, und die Art, wie sie ihren Schleier fester um ihren Hals zog, während sie sich dem schmalen Pfade zuwandte, der vom See entlang nach Cresta führte, zeigte, daß sie nun weiter keinen Aufenthalt mehr wünschte.

Der Fürst stieg, ohne ein Wort zu sagen, über die niedere Mauer des Friedhofs und trat an Anianens Seite.

»Sie gestatten, daß ich Sie geleite?«

»Nein, bitte, Durchlaucht. Das Wetter bricht los, und Sie dürften kaum noch vor dem Regen das Malojahotel erreichen.«

»Ist das der einzige Grund, Aniane?«

»Nein, ich wünsche auch sonst Ihre Begleitung nicht.«

»Sie sind wenigstens offen, sehr offen sogar,« lachte der Fürst rauh, den leichten Lodenhut tiefer in die Stirn drückend, »wenn ich aber nun nicht weiche?«

Aniane zuckte die Achseln.

»Der Weg ist frei, und wenn es Durchlaucht beliebt, sich aufzudrängen, so kann ich es nicht ändern.«

Die weißen Zähne des Fürsten blitzten einen Moment raubtierartig zwischen den schmalen Lippen auf.

»Sie sind kühn, Baronin, Sie wagen, mich zu reizen. Und wissen doch, daß ich es nicht dulde, und daß ich, wenn ich will. Sie vernichten kann.«

»Sie waren immer brüsk in Ihren Anschauungen, Fürst, und gewalttätig in Ihren Empfindungen.«

Ein krachender Donnerschlag machte Aniane verstummen. Es war, als stünde der ganze Himmel offen. Blitze zuckten wild um die beiden einsam Wandernden, die instinktiv näher zueinander hielten, wie in gemeinsamer Wehr gegen die entfesselten Naturmächte. Ein Feuermeer wallte und brandete um sie auf, um gleich darauf wieder in rabenschwarze Nacht zu versinken.

Und nun prasselte ein wilder, alles zerstörender Regen hernieder, der ihnen im Umsehen die Kleider durchnäßte und jedes Weiterschreiten fast unmöglich machte.

»Nehmen Sie meinen Arm,« gebot der Fürst. »Wir müssen dort hinüber nach der kleinen Kirche, sie ist der einzige Schutz hier weit und breit.«

Aniane hörte nicht. Wie gejagt eilte sie vorwärts.

Fliehen wollte sie, fliehen vor ihm, mehr als vor den Schrecknissen, die sie wild umtobten.

»Meinen Arm,« gebot der Fürst nochmals. Aber Aniane wollte nicht hören. Blindlings hastete sie vorwärts. Jetzt strauchelte ihr Fuß, sie schwankte, und ihre Arme suchten in der Luft nach einer Stütze.

Da fühlte sie auch schon ihre Gestalt umfaßt, sicher und fest und doch behutsam. Ihr Arm ruhte ohne Widerstreben in dem des Fürsten, und nun kämpften sie vereint gegen Sturm und Regen. Gesprochen wurde kein Wort, aber es war, als sie so gemeinsam dahinstrebten, als fühlte jeder den heißen, schnellen Herzschlag des andern.

Aniane wehrte sich nicht mehr. Allein hätte sie, das fühlte sie wohl, das schützende Dach der Kapelle doch nicht mehr erreicht. Eine tiefe Ermattung kam über sie, eine dumpfe Verzweiflung, daß alles Wehren und Kämpfen vergebens sei, daß es eine Macht gab, die stärker war, als ihr Wille.

Jetzt hatten sie die kleine Kirche erreicht. Der Fürst stieß die Tür auf und ließ Aniane in den halbdunklen Raum, den eine ewige Lampe, die über einem Marienbilde schwankte, gespenstisch mit unsicherm Flackerlicht spärlich erhellte.

»Hier sind wir einstweilen geborgen,« atmete er auf, näher zu Aniane in den Lichtkreis tretend. »Das Wetter wird bald ausgetobt haben. Sind Sie sehr durchnäßt?«

»Nein, es ist erträglich,« gab sie zurück, froh, daß er so gleichgültige Dinge fragte.

Der Fürst sah sie prüfend an. Wie geisterhaft blaß ihr Antlitz ihm erschien, und wie süß das wehe Lächeln um ihren Mund, das ihm schon einmal in die Seele geschnitten, damals, als er sie in der Tanzstunde so brüskierte und sie so furchtsam und so unglücklich zu ihm aufsah.

Hatte sie vielleicht wieder Furcht?

Eine jubelnde Seligkeit, eine wilde Freude flammte in der Brust des Fürsten auf. Was hinderte ihn denn, sie jetzt in seine Arme zu reißen, sie wieder, wie ehemals, unter seinen Willen zu zwingen? Hatte er nicht das Recht, nicht die Macht? War die Gelegenheit nicht günstig?

Aber die Arme des jungen Fürsten hoben sich nicht, das blonde Weib zu umfangen, nur tief senkte sich das Haupt, wie beschämt von den eigenen, wilden Gedanken.

Nein, das hieße Sünde auf Sünde häufen, das wollte er nicht.

Eine Weile standen sie schweigend im dämmerigen Lichte.

Grelle Blitze flammten von allen Seiten auf und erhellten für Augenblicke tageshell die Kapelle.

Aniane hatte sich unwillkürlich in die Stufen des kleinen Altars geflüchtet, als suche sie Schutz vor dem Bilde der gnadenreichen Mutter des Heilands, die da in so leidvoller Güte erbarmungsreich auf sie herniedersah.

Prasselnd schlug der Regen in wildem Klatschen gegen die Scheiben der Kirchenfenster, und der Wind heulte schauerlich um die Mauern.

»Alle bösen Geister sind heute hier in dem stillen Maloja los,« nahm der Fürst nach einer Weile dumpfen Schweigens das Wort, ohne sein Gegenüber anzusehen. »Jetzt, glaube ich, wandelt die Gletscherfee da draußen über die Berge und lacht über die gefangenen Seelen. Kennen Sie das Märchen?«

»Nein, ich liebe Märchen nicht.«

»Warum leugnen Sie, was Ihnen doch so naheliegt? Sie, selbst ein Märchenkind, geschaffen, die holdesten Gestalten der Poesie und Sage zu verkörpern, Ihnen sollten die holden Wundermären fremd sein, die mit ihrem Zauberschleier unserm grauen Alltagsleben erst Licht und Farbe geben? Nein, Aniane, das glaube ich Ihnen nicht.«

Die blonde Frau flüchtete noch näher dem stillen Altarbilde zu. Der ungewisse Schein der ewigen Lampe glühte wie rotes Gold auf ihrem Haar, in dem die Regentropfen glitzernd perlten.

Ihre Lippen blieben geschlossen.

»Sie sind empört,« begann der Fürst wieder, seine durchdringenden, stolzen Augen sinnend auf sie gerichtet, »daß ich diese Begegnung hier mir gewissermaßen ertrotzte. Leugnen Sie nicht, ich sehe es Ihnen an. Jeder Blick, jede Bewegung ist eine Abwehr. Daß ich diese Abwehr nicht ehre, weckt Ihren Trotz. Sie meinen, ich müßte gehen und niemals wieder den Versuch wagen, mich Ihnen zu nahen, seitdem ich weiß, daß Sie weder vergessen noch vergeben haben. Nicht wahr?«

»So ist es, Durchlaucht. Ich habe nicht geglaubt, daß wir einander wieder begegnen würden, da es aber dennoch geschehen, so lassen Sie mich Ihnen heute sagen, daß ich Ihnen weder zürne, noch Sie hasse.

Das Leben, in das ich an der Hand Ihres einstigen Erziehers, des Rittmeisters von Rammelsburg, trat, als mein Herz wund war und krank von dem Jammer, den ich erlebt und gesehen, war so licht und menschenwürdig, so rein in dem Bestreben, zu beglücken und für den Andern zu leben, daß alle unedlen Vergeltungsgelüste in mir zur Ruhe kamen und erstarben. Ich habe längst aufgehört, mit Ihnen zu rechten, nachdem mich mein Gatte, der Sie so gut kannte, gelehrt, daß ich Ihnen nicht zürnen durfte, sondern Sie beklagen mußte, tief beklagen.«

»Sparen Sie das Mitleid, Baronin, ich will es nicht! Ich bedarf dessen auch nicht.«

»Vielleicht haben Sie recht, Fürst. Es ist auch gar kein Mitleid, sondern nur eine Erkenntnis, zu der er mir verhalf, der wußte, daß nicht Böswilligkeit – Durchlaucht verzeihen – sondern nur der Mangel an Selbsterziehung Durchlaucht veranlaßte, so unverantwortlich herzlos zu handeln.«

»Knabenstreiche,« brauste der Fürst auf. »Lächerliche Dumme-Jungenstreiche, sonst nichts.«

»An dem ein Menschenleben zugrunde ging, Durchlaucht. Das ist zwar nicht viel, aber den ihrigen war das arme süße, junge Geschöpf alles, den ihrigen ging mit dem Schicksal der Aermsten alles Glück dahin, und ein paar gebrochene Leute sanken vor der Zeit, als sie ihr Kind verloren, in ein frühes Grab.«

»Aniane, Sie sind grausam. Sie beschwören Bilder herauf, die nicht Raum haben dürfen in meiner Seele. Warum? Wollen Sie sich weiden an meiner Qual? – Haben Sie denn keinen Funken von Verständnis für mein verfehltes Leben? Als ich gut machen wollte und konnte, damals, als ich so plötzlich und schnell, woran niemand gedacht, zur Regierung kam, da war es zu spät. Zilla, die Arme, war tot, und ihr Kind, das hatte man mir vorenthalten. Niemand wußte, wo es nach dem Tode der Großeltern, bei denen es erst gelebt, geblieben.«

»Durchlaucht vergessen den ausdrücklichen Wunsch der Sterbenden, daß ihr Kind niemals wieder dem Vater begegnen sollte, der einst die Mutter so grausam verstoßen.«

»Ich habe versucht, das Kind aufzufinden,« fuhr der Fürst mit abgewandtem Gesicht fort. »Sehen wollte ich es wenigstens einmal. Es hatte so goldene Locken und ein so süßes Gesicht. Aber ich verlor die Spur, die ins Ausland führte. Die rote Rahel, Zillas Schwester, die ja wohl Ihren Vetter, Rittmeister von Buttler, geheiratet hat, und die mich ja schon immer mit ihrem Haß verfolgte, hat mir rundweg jede Auskunft verweigert.«

Jetzt brannte ein heißes Flehen in des Fürsten Augen, und Aniane zitterte unter diesem Blick und wandte sich ab.

»Barmherzigkeit, Aniane. Wissen Sie etwas von dem Kinde? Lebt es, ist es gesund?«

Aniane preßte die Lippen fest aufeinander.

»Das Kind muß tot für Durchlaucht sein,« sagte sie dann leise. »So war es der Sterbenden Wunsch. Ein Vater, der sein eigenes Kind ehrlos machte, indem er die Mutter verstieß, die vor Gott und den Menschen keine rechtmäßige Gattin war, der hat keinen Teil mehr an dem Kinde, ob es lebt oder tot ist.«

»Wie hart Sie sind. Sie, Aniane, deren Herz einst so weich und gut war. Ach, könnte ich Ihnen doch ein einziges Mal alles sagen, wie es in mir wühlt und brennt. Wie ich bereue, wie ich büße, und wie ich tagtäglich in einer drückenden Ehe die schwere Strafe des Schicksals fühle für meine Jugendsünde, die durch mein ganzes Leben ihren düsteren Schatten wirft.«

Die hohe Gestalt des Fürsten schien zusammengesunken und das Antlitz alt und fahl.

In Anianens Augen glühte es seltsam auf. War es Haß, war es Lust an seiner Qual? War sie jetzt gerächt? Litt er endlich, der Stolze, Harte, der einst erbarmungslos mit Menschenherzen gespielt?

»Durchlaucht stehen auf der Höhe,« sagte Aniane leise, aber es zitterte von bitterm Hohn in ihrer Stimme. »Alles ist Euer Durchlaucht untertänig. Ein Wink befiehlt, und ein Blick entscheidet oft über Menschenschicksale, ohne Bedenken, wenn nur die eigene Selbstsucht nicht verletzt wird. Ich habe kein Mitleid mit Fürsten, die sich auf der höchsten Warte des Lebens fühlen, von allen umschmeichelt, von allen umjubelt, und die doch als Herrscher über Tausende es noch nicht gelernt haben, sich selbst zu beherrschen. Das ist die erste Fürstenpflicht, und doch, wie selten wird sie geübt. Was einst in dem fürstlichen Knaben, den ich in der Tanzstunde von Tannenrode kennen lernte, Willkür und Laune war, als er mich armes, kleines, dummes Ding mit den unmodernen Kleidern absichtlich kränkte, das wurde später bei dem Manne, der seine Leidenschaften nicht mehr zu meistern verstand, zum Verbrechen. Eitelkeit war die erste Triebfeder und Schwäche der Schlußstein zu allem Bösen.«

»Sie urteilen hart, Aniane, grausam hart. Wissen Sie denn nicht, daß alles das, was ich damals in jugendlichem Unverstande verbrach, Ihretwegen geschah, weil ich Sie liebte, wahnsinnig, glühend liebte? Lassen Sie mich ausreden,« fuhr er mit flammenden Augen fort, als sie beide Arme abwehrend hob, »lassen Sie mich wenigstens einmal sagen, wie es war. Um Sie, die Kalte, Spröde zu reizen und für mich zu gewinnen, spielte ich nicht nur mit Witta von Monbert, sondern auch mit Zilla von Wolfhardt. Mein Ratgeber, der böse Dämon meines Lebens, der Türkheim, hetzte mich förmlich in diese Liebesintriguen hinein. Witta von Monbert umstrickte meine Sinne, und Zilla fesselte mit ihrer Güte und ihrer heißen, nachsichtigen Liebe mein ungestümes Herz. In Wirklichkeit aber sehnte sich meine Seele nur immer nach dem kleinen, stolzen Mädchen mit den ernsten, grauen Augen, die mir bis auf den Grund der Seele sahen. Das merkte ich erst, als ich Sie damals in Leipzig bei Ihrem ersten Konzert und in der Gesellschaft der Geheimrätin von Heimburger wiedersah. Da aber war es bereits zu spät. Ich hatte Zilla an mich gerissen und hatte mich heimlich mit ihr vermählt. In der kleinen Rosenau, in dem Schlosse, von dem die Sage geht, daß alle Fürstenfrauen unseres Hauses, die es betreten, sterben müssen, hatte ich Zilla geborgen. Türkheim war auch hier derjenige, der alles ermöglicht hatte.

Das kurze, tändelnde Glück mit Zilla war verweht, und nicht einmal das Kind, das sie mir geschenkt, konnte mich an sie fesseln. Ich dachte Tag und Nacht nur an Sie, Aniane, und wie ich Sie erringen könnte. Ich war glücklich, daß Ihr Stolz, der Sie mir immer fern gehalten, zu weichen schien, daß Sie es gelernt hatten, mit mir unbefangen und freundschaftlich zu verkehren.

Was waren das für wonnereiche Tage in Büsingen, wenn ich abends im Dunkel der Loge auf Ihren Sang lauschte und keinen Blick von der Bühne wandte, wo ich Sie sah und mich sattrinken konnte an Ihrem Anblick. Oder wenn wir still zusammen die Werke unserer Geistesheroen lasen und meinten, die ganze Welt sei ein einziger, großer Wundergarten, was war mir da Zilla und ihr Kind, was war es mir, daß Eltern und Schwester die Verlorene suchten, die ich auf der Rosenau verborgen hielt. Ich wollte Sie, nur Sie allein, Aniane.«

»Ja, und als ich Sie auf Ehre und Gewissen fragte, ob es wahr, was hier und da wie ein dunkles Gerücht auftauchte, was Zillas Schwester Rahel Ihnen ins Gesicht geschleudert hatte, als ich Sie fragte, ob Sie etwas von Zillas Verschwinden wüßten, da –«

»Da leugnete ich alles ab, ich weiß es, Aniane, Sie brauchen es mir nicht zu wiederholen. Ich weiß, daß es ehrlos war. Aber ich fürchtete, Sie zu verlieren, ich hätte, um Sie zu gewinnen, wohl noch Schwereres verbrochen.«

»Es gab kein schwereres Verbrechen,« schnitt ihm Aniane das Wort ab, »denn Sie hatten vor, mich, gleich Zilla, heimlich zu entführen, und ich, die man gerade an diesem Tage so bitter bei Hofe gekränkt, die so trostlos und verlassen war, weil man mich unschuldig verdächtigt, mit Ihnen ein unwürdiges Liebesverhältnis zu haben, ich wäre Ihnen blindlings gefolgt, wenn nicht im entscheidenden Moment die arme Zilla mich davor bewahrt hätte. Zu mir hatte sie sich geflüchtet, da man ihr eröffnet, sie sei nicht die rechtmäßige Gattin des jungen Prinzen, dem sie vertraut, und dessen Vater sie nun aus dem Schlosse jagte, in dem der Sohn sie jahrelang verborgen gehalten. Ein seltsamer Zufall war es, daß Zilla Sie bei mir traf. Zu Ihren Füßen lag sie im namenlosen Jammer, und Sie, Sie ließen sie achtlos liegen.«

»Weil Ihr späterer Gatte kam, mich im Auftrage meines Vaters zu verhaften. Man hatte die Flucht, die ich plante, entdeckt. Türkheim, der sich in meiner Uniform nach dem Bahnhofe begeben hatte, um unsere Flucht zu erleichtern, war in Haft genommen, und auch ich hatte nicht mehr das Recht der freien Selbstbestimmung.«

»Das erfuhr ich, als Sie zugaben, daß ich, die ich nie etwas Böses getan, einfach aus der Residenz Büsingen entfernt wurde, nachdem die arme Zilla in meinen Armen gestorben. Ihr fürstlicher Vater hatte erklärt, daß weder Zilla noch ihr Kind irgendwelche Anrechte an das fürstliche Haus hätten. Geld bot man ihr, der Armen, Zillas Vater wies es zurück, und während Zilla im Sterben lag, da läuteten eurer Durchlaucht schon die Hochzeitsglocken. Willenlos wurden Sie der Gatte der Prinzessin Geraldine und Sie haben den Mut, von Ihrer Liebe zu sprechen?«

Ein bitteres Auflachen Anianens hallte durch die Kapelle. Fröstelnd zog sie ihren nassen, schwarzen Schleier fester um die Schultern. Sie sah nicht, daß der Fürst sein Antlitz in beide Hände geborgen hielt, sie hörte aber das dumpfe Stöhnen, das aus seiner Brust kam.

»Wenn ich gefehlt, Aniane, und ich tat es tief und schwer, so habe ich es in dieser Ehe gebüßt. Und dabei nach außenhin immer noch das Glück markieren! Ach, Sie wissen garnicht, was das heißt! Sie wissen nicht, wie einen die Leidenschaft blind und toll macht. Sie wissen nicht, wie oft ich daran war, mich ganz und gar selbst zu verlieren. In den Armen Witta von Monberts, der späteren Baronin Wuthenow, suchte ich Vergessen. Sie stachelte meine Leidenschaft, sie reizte meine Sinne, und doch gab es Zeiten, wo ich nichts als Ekel vor mir empfand, daß ich sie nicht abschütteln konnte wie ein giftiges Gewürm.

Ein elendes, zerrüttetes Dasein führe ich da oben auf hoher Warte. Wenn ich jetzt zu Ihnen flehe, helfen Sie mir, Aniane, lassen Sie mich nicht untergehen, reichen Sie mir die rettende Hand, Sie haben mich doch einst lieb gehabt, Sie würden es ja doch nicht tun. Ihr Stolz ist größer als Ihre Liebe.

Es sind zwischen den Höfen von Pleß und Büsingen schon wiederholt Unterhandlungen geführt worden, die qualvolle Ehe zu trennen.

Wenn ich frei geworden bin, Aniane, wenn es gelingt, dann habe ich nur den einen Wunsch, Sie mein zu nennen, Ihnen alles was ich bin und was ich habe, zu Füßen zu legen, und Sie zu bitten: Werde mein Weib! Leite mich an deiner Hand mit Milde, Güte und verzeihender Liebe zu der Höhe, auf der du selber stehst, und laß mich dein gläubiger Schüler und der seligste Mann sein, der je ein Weib umfangen. Habe Erbarmen, Aniane, sei mein, erhöre mich!«

Er lag zu ihren Füßen und preßte sein Antlitz in die nassen, kühlen Falten ihres Schleiers. Blitze zuckten wild umher, und ein krachender Donnerschlag ließ das Kirchlein erbeben.

Einen Augenblick war es Aniane, als schwankte der Erdboden unter ihren Füßen.

Der Stolze, Herrische mit den stahlharten Augen, der nur gewohnt war, zu befehlen, der blindlings nahm und an sich riß und wieder von sich stieß, der lag wieder vor ihr auf den Knien, wie einst in den Tagen der Jugend. Und ein schauernder Glücksstrom, vor dem sie die Augen schloß, flutete über sie hin.

Eine einzige Bewegung nur, und sie lag an seinem Herzen und sie trank seine Küsse. Und jetzt, das fühlte sie, würde er sie nie wieder lassen, nie mehr.

Aber es durfte nicht sein. Eine ernste Gestalt trat plötzlich vor ihre Seele und hob warnend den Finger. Sah sie nicht die gütigen Augen ihres Gatten in bangem Fragen auf sich gerichtet?

»Aniane!«

Wie Schluchzen kam der Name von seinen Lippen.

Weit breitete der Fürst ihr seine Arme entgegen.

»Aniane, sei mein. Alle Himmel sollen dein sein. Mit Glut und Wonne will ich dich überschütten. Erhöre mich!«

Schon neigte sie sich zu seinem dürstenden Munde, schon strebten ihre Arme ihm entgegen, da aber erschütterte ein Schauer ihren Leib.

Abwehrend erhob sie die weißen Hände. Wie das Gnadenbild der Schmerzensreichen, in stillduldsamer Hoheit verharrte sie, als sie ihm mit ernstem Lächeln kündete:

»Nicht also, Durchlaucht! Unsere Wege trennen sich heute abermals für immer, aber sie führen in Frieden auseinander.

Ein Fürst hat andere Pflichten zu leben, als um ein Weib zu trauern, oder an einem Weibe zugrunde zu gehen. Lassen Sie mich den Glauben mit mir nehmen, daß Sie es versuchen wollen, die Ehe, die Sie als Joch empfinden, in die man Sie einst wider Willen hineingezogen, als den Prüfstein zu nehmen für den eigenen Wert. Je nachdem Sie daraus hervorgehen, werde ich ermessen, inwieweit ich recht hatte, Ihrer Kraft zu vertrauen und wieder an Sie zu glauben, wie einst in den grauen Gassen von Tannenrode, als ich noch auf ein Märchenglück hoffte, süß, wie Kinder hoffen, an eines Prinzen Hand.

Und in der Stunde, Dolf Dietram, in der ich gewiß bin, daß Sie an der Seite Ihrer Gemahlin den rechten Weg zur Höhe gefunden, der Sie stolz und heiter, weil Sie sich selbst bezwungen, auf der hohen Warte dort oben stehen läßt, da soll alle Ihre Schuld in meinem Herzen ausgelöscht sein. Da will ich, Ihrer wieder lieb und still, wie eines alten Freundes, gedenken, und all das Weh und all die grenzenlose Qual soll vergeben und vergessen sein.

Und nun lassen Sie uns Abschied nehmen, Fürst. Der Regen hat nachgelassen, das Wetter ist vorüber. Lieblich bricht schon da drüben die Sonne hervor.«

Sie reichte dem Fürsten beide Hände, die er stürmisch an seine Brust zog.

»Aniane,« flüsterte er noch einmal mit zuckenden Lippen, »Aniane, sei barmherzig.«

»Ich denke an dein Glück, Dolf Dietram,« sagte sie leise, und er fühlte eine warme Träne auf seiner Hand.

Er trank sie mit dürstenden Lippen.

»Ich liebe dich!« stöhnte er auf. »Ich liebe dich ewig, Aniane, und ich bete zu dir.«

Und er tauchte seine Hand in das geweihte Wasser und segnete sie mit dem Zeichen des Kreuzes auf Stirn und Mund. So hatte einst seine Mutter mit ihm getan, als er noch ein Kind war und sie ihn von sich lassen mußte.

Dann traten sie ins Freie.

Der Sturm hatte ausgetobt. Noch jagten schwarze Wolkenfetzen über die Berge, aber ringsum war schon ein friedvolles Aufatmen zu spüren, und in den Hütten von Cresta flammten schon traulich die Lichter auf, während die Sonne am Himmel verglühte.

»Darf ich Sie heimbegleiten, Aniane?«

»Nein, Durchlaucht, hier trennen sich unsere Pfade. Ich kehre morgen nach Paris zurück. Mein Urlaub ist zu Ende. Sollten wir uns einmal wieder begegnen, so hoffe ich, sind die Schatten der Vergangenheit gebannt durch festen Willen, durch selbstlose Treue. Leben Sie wohl, Fürst. Ich bin gleich am Ziele.«

Sie neigte das blonde Haupt, dann schritt sie den schmalen Weg am See entlang auf Cresta zu.

Ihre Gestalt war stolz aufgerichtet, ihr Gang sicher und hoheitsvoll, und doch war es dem Fürsten, als er wie gebannt vor der Kapelle stand und ihr nachblickte, als hätte ihr süßer, roter Mund weinend gezuckt, als sei ihr Auge, von Tränen schwer, über den See geirrt.

Er wollte rufen, ihr noch ein Wort sagen, aber er vermochte es nicht. Er fühlte nur, dort ging das Glück seines Lebens, ein besseres Ich, unaufhaltsam, unrettbar für ihn von dannen.

Eine leidenschaftliche Wut, ein unnennbarer Zorn glühte in ihm auf. Er hätte die Berge wild umfassen und rütteln mögen, die da so ungerührt herabstarrten und seiner Ohnmacht höhnten, er, der auf der Höhe des Lebens stand und doch ärmer war als der Aermsten einer.

Noch einmal umfing er die schwarzgekleidete Gestalt, wie sie zwischen dem zitternden, grünen Arvenlaub dahinschritt, mit leidenschaftlichem Blick. Er sah, wie in dem blaugrünen See sich ihre schlanke Gestalt spiegelte, dann wandte er sich Maloja zu.


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