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9.

Der Fürst lag in heftigem Fieber. Er sprach allerlei krauses, wirres Zeug, das nur Aniane verstand, und das ihr Herz erbeben machte in irrer Qual. Schiemann hörte die Worte wie mit dumpfem Grauen, obwohl er ihren Sinn nicht verstand.

Wer mochte die Frau sein, von welcher der Fürst in seiner Fieberangst sprach? Ganz deutlich hatte er mehrmals den Namen Zilla vernommen, von dem er früher nie etwas gehört, trotzdem er doch viele Frauen gekannt hatte, die dem jungen Fürsten nahegetreten waren. –

Der Morgen dämmerte schon frostig herauf, als der Fürst wieder in einen ruhigen Schlummer fiel.

Aniane atmete auf. Sie trat in den Vorraum, wo der Hüttenwart den Kaffee kochte. Schnell wusch sie sich im Nebenraume mit klarem Wasser die überwachten, brennenden Augen, da kamen auch schon die Träger mit der Bahre vom Rosegghause herauf.

Im Stehen nahmen sie mit Schiemann das Frühmahl ein, dann schritten sie neben der Bahre her, auf die man den Fürsten so gut als möglich gebettet hatte.

Und nun ging es behutsam den steilen Pfad abwärts.

Aniane stand fast das Herz still, wenn sie, des schmalen Weges wegen, zurücktreten mußte und die Bahre vor ihr herschwankte. Ein einziger Fehltritt, und es war um den Fürsten geschehen. Aber die Führer schritten so sicher den gewohnten Steg, daß Anianens Herz ruhiger klopfte und ihre Augen sich sinnend zu den Schneebergen emporhoben, die licht im Morgendufte schimmerten.

Ein Lied fiel ihr ein, ein süßes Lied, und im Abwärtsschreiten sprach sie unwillkürlich die Verse vor sich hin:

»Ich weiß ein Märchen, daß ein Wanderer kam
Zum Waldesgrund, da läutet' es wie Glocken,
Und eine Blume fand er wundersam
Und schmückte traumvoll seine braunen Locken.
Als er zurück zu Menschen kam voll Gram,
Bestaunten ihn die Leute tief erschrocken.
Die Welt war älter um viel hundert Jahre,
Und keiner kennt ihn mit dem Kranz im Haare.«

War sie nicht auch von Traumes-Bann umfangen? Wußte sie denn noch, was bei den Menschen Brauch war? War es nicht, als seien auch ihr hundert Jahre vergangen? Der Hauch des Alters wehte wohl herüber aus der fremdgewordenen Welt, sie aber schritt, die Zauberblume im Haar, jung und fremd in den rosig erblühenden Morgen hinein, im Lenzschmuck des Glückes, das vor der Welt so lange verschollen gewesen war.

In feuriger Pracht stieg auf Wolkenballen die Sonne empor.

Wie ein Strahlenzucken flog es jetzt über die weißen Berge. Ein scheues Zitterlicht. Klang es nicht von ferne wie Glockenton?

Wie es sich rötete über dem zarten, jungen Grün der wehenden Lärchenbäume da unten im tiefen Tale!

Nun goldete sich der Tag ihr und ihm, der so still auf der Bahre lag, der sie jetzt wieder zur Seite schritt.

Hoch schwang der Tag seinen blinkenden Schild, und überall lag das Licht.

Wie ein Hochamt war es. Gleich Riesenfackeln standen die weißen, leuchtenden Berge in der Rosenglut.

Und im Weiterschreiten haschte der Fürst nach ihrer Hand. Sein Auge hing bittend an dem ihren. Sie fühlte, er wollte, er mußte sprechen, eine heiße Qual rang in seinem Antlitz.

Und Aniane beugte sich erbarmend zu ihm nieder.

»Haben Durchlaucht irgend einen Wunsch?«

Die Träger setzten auf einen Wink Schiemanns die Bahre nieder und traten einen Augenblick zurück.

Der Fürst hob den schmalen Kopf leuchtenden Auges der Sonne entgegen und sagte leise:

»So geht es stracks in den Himmel hinein. Seht ihr die Glorie, die uns umfängt? Dieser Glanz, dieser Duft. Aniane, Ludwig, ich sehe die Sonne.«

Ein Schreckenslaut wollte Aniane entfahren, aber sie zwang ihn mit aller Kraft nieder und sah nur flehend zu Schiemann, der ihr leise zuflüsterte:

»Es ist wieder eine Ohnmacht. Der Fürst scheint doch schwerer verletzt, als es erst den Anschein hatte.«

In beklemmendem Schweigen ging es wieder weiter, abwärts zu Tale. Am Fuße des Rosegggletschers, dort, wo er sich mit dem Tschiervagletscher eint, nicht weit vom Hause, hielt man schon Ausschau nach der kleinen Kolonne, die fast das Tal erreicht hatte. Aniane konnte die Untenstehenden genau unterscheiden. Es war der Kammerherr von Türkheim, der Adjutant von Toska und außer einem dritten Herrn, den sie nicht kannte, noch zwei Damen.

Einige Hotel-Angestellte hielten sich in ehrerbietiger Entfernung und sahen neugierig dem näherkommenden Zuge entgegen.

»Wer sind die Damen?« fragte Aniane, aufmerksam in die Ferne blickend.

Schiemanns sonst so frisches Antlitz, das heute bleich und überwacht erschien, wurde ganz weiß.

»Um Gotteswillen, die Fürstin Geraldine mit der Baronin Wuthenow,« rief er erschreckt. »Das ist ja entsetzlich. Ich flehe Sie an, Aniane, bleiben Sie zurück. Die Fürstin darf Sie nicht in der Begleitung des Fürsten sehen.«

Anianens Augen flammten auf.

»Sie hat mich gewiß schon gesehen,« erwiderte sie. »Darf ich fragen, weshalb ich mich vor den Augen der Fürstin verbergen soll?«

Schiemann sah verlegen vor sich nieder.

»Die Eifersucht der fürstlichen Frau,« bemerkte er zögernd, »hat schon oft unliebsame Auftritte veranlaßt. Ich bitte Sie, Aniane, bleiben Sie zurück, es geschieht zu Ihrem eigenen Besten.«

»Nein,« entgegnete die Sängerin hart. »Ich habe keine Ursache, mich vor der Fürstin zu verstecken. Ich habe die Gegenwart seiner Durchlaucht nicht gesucht, ein Zufall hat sie vermittelt, der mich zwang, dem Hilflosen beizustehen. Das ist alles, ich wüßte nicht, weshalb mir da die Gegenwart der Fürstin Unannehmlichkeiten bereiten könnte. So, wie Sie, lieber Freund, meinen, weiche ich der hohen Frau nicht aus.«

»Es ist ohnedies zu spät,« gab Malfoni gepreßt zurück. »Man hat Sie bereits erkannt.«

Von dem schlüpfrigen Wiesenpfade hernieder schritten die Träger jetzt über die schmale Holzbrücke, die zum Rosegghause führt, mit ihrer schwankenden Last.

Noch hatten sie das Ende der Brücke nicht erreicht, da stürzte auch schon die Fürstin Geraldine, welche die Baronin Wuthenow umsonst zurückzuhalten versuchte, mit hysterischem Schreien der Bahre entgegen.

»Er ist tot,« schluchzte sie auf, »er ist tot.«

Umsonst bemühten sich der Kammerherr von Nidda und der Adjutant von Toska im Verein mit der Baronin um die Fürstin.

»Aniane!« kam es wie ein Hauch von den Lippen des Fürsten. Ohne seine Gemahlin zu bemerken, sahen seine Augen weithin in die Ferne. – Wie eine Furie fuhr die Fürstin empor und lachte gellend auf.

»Endigen Sie doch den Auftritt,« flüsterte der Kammerherr von Türkheim seinem ganz verzweifelt dreinblickenden Kollegen Nidda zu. »Es gibt wieder mal einen Hof-Skandal.«

Aber ehe der Kammerherr seiner Gebieterin den Arm reichen konnte, um sie fortzuführen, hatte diese sich schon auf die vornehm und ruhig dem Hause zuschreitende Aniane gestürzt, um ihr den Weg zu vertreten.

»Hüten Sie sich,« zischte sie ihr zu, nur für Aniane verständlich, »noch einmal den Weg des Fürsten zu kreuzen, und Sie sollen mich kennen lernen.«

Anianens Augen maßen stolz und kühl die erregte Frau.

»Den Weg, den ich zu gehen habe, bestimme ich selbst,« gab sie voll Ruhe zurück, »aber wenn es die krankhaft erregten Nerven Eurer Durchlaucht beruhigt, so kann ich aus vollstem Herzen und stolzester Ueberzeugung sagen, daß mein Weg weit ab von dem des Fürsten führt. Ein Zufall zwang mich, Ihrem durchlauchtigsten Gemahl beizustehen. Meine Mission ist zu Ende, und die Ihrige beginnt.«

Mit einem unmerklichen, stolzen Neigen des Kopfes schritt sie dahin, und die beiden Kammerherren und Toska verneigten sich unwillkürlich tief vor ihr, als schreite eine Königin vorüber.

Die Baronin Wuthenow hatte Aniane vollkommen übersehen, sie nicht einmal mit einem Blicke gestreift.

»Unverschämte Person,« murmelte die Hofdame, während die Fürstin einen Augenblick ganz verblüfft der hohen Gestalt der Sängerin nachblickte, die soeben im Hause verschwand.

Der Wirt und die Leute des Hotels, die sich bis jetzt bescheiden zurückgezogen hatten, traten hinzu, um den Fürsten vorsichtig ins Haus zu bringen.

»Haltung, Durchlaucht!« flüsterte die Baronin, »Haltung! Man beobachtet uns, und der Fürst liebt keine Szenen.«

»Sie Liebe, Kluge,« gab die Fürstin Geraldine, sich wie gebrochen auf den Arm der Baronin stützend, zurück, »wenn ich Sie nicht hätte, ich fände mich garnicht mehr im Leben zurecht.«

Ein grausam höhnisches Lächeln zuckte um die Lippen der schönen Frau mit den Märchenaugen, die jetzt in dunkler, zitternder Glut an dem totblassen Antlitz des Fürsten hingen, den man soeben ins Haus trug, wo schon die aus Pontresina herbeigerufenen Aerzte seiner harrten.

Der Professor trat jetzt an die Fürstin heran, ihr Bericht zu erstatten, aber während er flüchtig die enthusiastisch dargereichte Hand der hohen Frau küßte, suchte sein Auge Aniane, die vor den andern im Hause verschwunden war.

Als man den Fürsten gebettet hatte und die Untersuchung der Aerzte eine leichte Gehirnerschütterung und nur geringfügige äußere Verletzungen ergaben, so daß bei vollkommener Ruhe der Fürst in einigen Wochen vollständig wiederhergestellt sein könne, ging Schiemann, der es nicht gewagt hatte, den Fürsten eher zu verlassen, Aniane aufzusuchen, um ihr seine Dienste anzubieten. Er hatte etwas wie ein leichtes Schuldbewußtsein ihr gegenüber, daß er ihr nicht zur Seite gewesen, als sie vorhin der Fürstin gegenüberstand, aber er hatte den Kranken nicht verlassen können, der in seiner Hilflosigkeit auf Gnade und Ungnade den Attacken seiner Frau preisgegeben war, die dem Fürsten jetzt möglichst fern zu halten der größte Freundschaftsdienst war, den er seinem hohen Freunde leisten konnte.

Als er sich durch einen Hotelangestellten bei Frau von Rammelsburg melden lassen wollte, bedeutete ihm dieser: daß der Wagen, den die Dame beordert, bereits vor der Tür stehe und die gnädige Frau soeben im Begriff sei, nach Pontresina zu fahren.

Schiemann kam gerade noch zurecht, um Aniane die Hand zu drücken und den Wagenschlag zu schließen.

»Allein, ohne mich?« fragte er vorwurfsvoll. »Ganz heimlich wollten Sie fort, gnädige Frau?«

»Sie fesseln jetzt andere Pflichten,« gab Aniane blassen Gesichts zurück, während ihre Augen müde in die Ferne sahen. »Meine Kräfte sind nun auch erschöpft, ich muß suchen, sobald als möglich zu ruhen. Leben Sie wohl.«

»Wann sehe ich Sie wieder?« fragte der Professor noch, während die Pferde schon anzogen.

»Wer weiß? Vielleicht nie mehr,« gab die blonde Frau zurück, leicht mit der Hand zum Abschied winkend.

Die Pferde flogen dahin. Ehe Schiemann ein Wort erwidern konnte, hatte der Wagen die schöne Frau entführt, und die grünen Schleier der Lärchen, die über den Weg nach Pontresina wehten, verbargen ihm Anianens letzten Scheidegruß.

Verstimmt und unzufrieden mit sich selbst, trat der Bildhauer in das Hotel zurück, während der Wagen Anianens dem schönen Pontresina zurollte, wo die Majorin Buttler schon ungeduldig und voll Sorge der Rückkehr ihrer Nichte harrte.

Die sonnendurchleuchteten Wege, die in blauem Duft liegenden Berge mit ihren weißen Schneekappen und grünlich schimmernden Gletschern sah Aniane nicht, auch nicht den rauschenden Roseggbach, der ihr zur Seite sich so wild schäumend überstürzte, sie blickte nur immer starr vor sich hin, und vor ihrem innern Auge erstand ihre verlorene Jugend und zog wie ein Traum vorüber, und etwas schrie qualvoll in ihrer Seele, das sie nicht verstand und das doch unaufhörlich in ihrem Innern wühlte.

Wie seltsam das war?

Was lange geschlafen, das wachte wieder auf. Was tot war, das wurde lebendig.

Und vom Kirchlein St. Maria läuteten die Glocken, und der König der Berge, der stolze Bernina, thronte in seiner weißen Pracht so unnahbar kalt, stolz und eisig im Morgenlicht, daß es Anianens Seele seltsam durchschauerte, als jetzt ihre Augen die sonnenumleuchteten Höhen suchten, auf denen sie niemals wandeln durfte.

Es war ihr, als schreite durch all den Morgenduft und Glanz der Tod, der trug ihre gestorbene Liebe hinauf zu den höchsten Firnen, wo es so todesstarr und todeseinsam war.

Und die Arven rauschten im Winde, und wie Brautschleier wallte das lichte Grün der Lärchen durch die Luft. – –

»Warum wollen Sie nicht abreisen?« fragte einige Tage später Roald Harnsen Aniane, als er ihr in ihrem Salon im Kurhause in St. Moritz gegenüber saß. »Es würde allem Gerede die Spitze abbrechen und Sie aus einer unangenehmen Lage befreien.«

»Weil sie affig ist,« warf Tante Malchen, die eifrigst Kinderstrümpfchen für ihr jüngstes Enkelchen strickte, dazwischen, die Brille etwas höher schiebend, »einfach affig.«

»Laß doch, Tante,« wehrte Aniane, und zu Roald Harnsen gewendet, fuhr sie fort: »Sie haben ganz recht, sich zu wundern, daß ich all den Unannehmlichkeiten, die meiner hier warten, nicht entfliehe. Aber nennen Sie es kindisch oder eigensinnig, ich kann hier nicht fort. Irgend etwas bannt mich hier im Engadin. Schelten Sie mich, ich muß dennoch bleiben.«

»Ich glaube zu wissen, was Sie hält,« gab der Pianist zurück, und ein dunkler Schatten lief über seine Stirn.

»Ich auch,« trumpfte Tante Malchen dazwischen. »Unerhört ist das Gerede und dein Eigensinn, Aniane. Was soll denn bloß aus der ganzen Geschichte werden?«

Die junge Frau schmiegte ihren blonden Kopf tiefer in die weichen Polster des grauen Lehnstuhls und sah über die Tante hinweg zum Fenster hinaus, den weißen, leuchtenden Schneebergen entgegen.

»Du übertreibst, wie immer, Tante Malchen,« sagte sie, ohne die kleine Frau mit ihrem Blick zu streifen, »und Sie, lieber Freund, sehen, wie immer, schwarz, wenn es sich um mich handelt. Es dünkt mich feige, hier die Flucht zu ergreifen, wo man durch mein zufälliges Zusammentreffen mit dem Fürsten auf der Tschiervahütte im ganzen Engadin die wahnsinnigsten Gerüchte ausgestreut hat, deren erste Veranlassung wohl die Bemerkungen der Fürstin gegeben haben mag. Eine schleunige Abreise meinerseits würde die Gerüchte nur bestätigen, und ich denke gar nicht daran, durch meine Flucht diesen Gerüchten noch mehr Nahrung zu geben.«

»Sie spielen mit dem Feuer, Aniane,« warnte der blonde Mann.

»Ja, wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um,« bekräftigte Tante Malchen, und ließ alle Maschen fallen, was ihr einen erschreckten kleinen Schrei auspreßte.

»Ich sehe keine Gefahr,« bemerkte Aniane. »Wenn ich jetzt St. Moritz verlasse, so würde es den Anschein haben, als hätte die fürstliche Frau ein Recht gehabt, mir zu verbieten, je wieder die Wege des Fürsten zu kreuzen. Ich bleibe hier, um die angefangene Kur zu vollenden, ganz gleich, ob der Fürst hier sein wird oder nicht, dessen Gegenwart mir übrigens vollständig gleichgültig ist, wie die eines Fremden.«

»Aniane, Sie wüten ja gegen sich selbst. Besinnen Sie sich doch,« mahnte der Freund.

»Ich habe ja nichts mehr zu verlieren, lieber Roald,« lächelte sie bitter. »Unter allen Kurgästen von St. Moritz und Pontresina bis nach Maloja hin, steht es fest, daß ich die Geliebte des Fürsten bin, mit der er einen Ausflug auf die Tschiervahütte unternommen hat, nachdem er seinen Adjutanten zurückgeschickt, und daß die Fürstin in höchsteigener Person in einer erregten Szene vor dem Kurhaus diesem Idyll ein Ende bereitete. Nicht wahr? So ist es doch? Warum lachen Sie denn nicht über diesen Unsinn? Warum furchen Sie die Stirn? Eine Sängerin! Das ist ungefähr so, als wäre man ein Galeerensklave, ein Geächteter. Vogelfrei sind wir Künstlerinnen, selbst wenn wir in Tugend ersticken. Jeder, selbst der Erbärmlichste, glaubt sich berechtigt, an unserm guten Rufe herumzumäkeln, und es bedarf noch nicht einmal des leisesten Scheins, um uns schon von vornherein zu verdammen. Wehe aber, wenn der Schein gegen uns spricht, da sind wir gerichtet ohne Besinnen. Ich habe es einst nicht glauben wollen, als man es mir sagte. Ich mußte es bitter an mir selber erfahren. Was gilt uns alle Tugend, wenn sie uns niemand glaubt? Als ganz junges Ding, da ich noch gläubig vertrauenden Herzens in die Welt sah, mußte ich diese Erfahrung schon teuer bezahlen. Heute will ich nicht mehr. Der Mann, dessen gütige Hand mich aus tiefstem Dunkel damals zum hellsten Licht führte, der meine gebrochene Seele wieder aufrichtete, der hat mich gelehrt, daß nur eine Achtung in dieser Welt des Scheins von Wert ist und zwar die, welche unser Tun und Lassen vor uns selber bestehen läßt. Es war mein Gatte, der mir die Selbstachtung als höchstes Heiligtum offenbarte und mir damit das Heilsamste wiedergab, was mir in all den schmerzvollen Wirrnissen verloren gegangen war. Er, der jetzt da weit draußen in fremder Erde ruht, er würde mir nicht raten, feige zu fliehen, wenn sich mir Gefahr naht, er würde mir zeigen, daß ich starken Willens und starken Geistes der Gefahr entgegentreten müßte.«

»Sie haben ihn sehr geliebt?« fragte Roald Harnsen leise, während Tante Malchen still entschlüpfte, um den Tee zu beordern.

»Ja, ich habe ihn geliebt,« gab Aniane leuchtenden Auges zurück, »nicht mit der sinnverwirrenden Leidenschaft, die heiß begehrt, sondern mit der stillen Treue, die weiß, daß sie einen köstlichen Schatz zu hüten hat. Mein Gatte baute mein zertrümmertes Dasein von neuem auf, als er mich, die Verstoßene, die ohne Schuld Gebrandmarkte wieder einem schaffensfrohen, hoffnungsreichen Leben zuführte, und ich habe viel, ich habe alles verloren, als er von mir schied.«

Roald Harnsen senkte tief den blonden Kopf. Eine flammende Röte zuckte über seine Stirn. Er wollte sprechen, er konnte es nicht. Aniane sah es, und ein fast mütterliches, gütevolles Lächeln flog über ihre feinen Züge.

»Sie sollten mich doch besser kennen, Roald,« sagte sie weich, »und wissen, daß ich bleiben muß.«

»Ich meinte nur, weil man heute hier die Ankunft des Fürsten und seiner Gemahlin, die bis jetzt in Pontresina geblieben ist, erwartet. Der Direktor sagte mir, man hätte für die Fürstin und ihre Begleitung eine ganze Flucht von Zimmern bereitgestellt, und da der Zustand des Fürsten sich erfreulicherweise schneller gebessert habe, als man zu hoffen wagte, könne er die Fahrt von Pontresina nach hier sehr gut im Wagen zurücklegen. Schiemann, der bis jetzt zur Pflege und Gesellschaft des hohen Herrn auch in Pontresina geweilt, treffe ebenfalls heute ein.«

Eine grübelnde Falte schob sich zwischen Anianens dunkle Braunen.

Schiemann; das war auch ein lastender Gedanke.

Die Nacht da oben zwischen Eis und Schnee am Krankenbette des Mannes, der ihr einst so Schweres zugefügt, hatte sie dem Künstler innerlich um vieles näher gebracht. Aber irgend etwas warnte sie, ihm zu begegnen und damit die Glut noch zu schüren, die in ihm brannte, wenn sie auch augenblicklich von der Sorge um den fürstlichen Freund niedergehalten wurde.

»Wollen Sie mich jetzt allein lassen, lieber Freund?« fragte sie, als Roald Harnsen aufstand. Es klang fast ein leiser Vorwurf aus ihrer Stimme.

»Ich muß, Aniane,« gab der Künstler gepreßt zurück. »Sie wissen, daß es überhaupt bald »Scheiden« heißt. Die Pflicht ruft mich. Meine Konzert-Agentur macht mir die Hölle heiß, und eine ganze Anzahl Depeschen liegen noch ungeöffnet auf meinem Schreibtische.«

Die Sängerin reichte ihm herzlich die schmale Hand.

»Dann auf Wiedersehen, lieber Freund. Wollen Sie mich gegen Abend auf meiner Promenade um den See begleiten? Dann kommen Sie nicht zu spät.«

Harnsen küßte stumm die weiße Hand. Ein frohes Leuchten lag in seinen Augen, als er Aniane verließ.

In einigen Stunden würde er sie wiedersehen. Unvergeßliche schöne, blaue Stunden dämmerten für ihn herauf, denen seine Seele sehnend entgegenträumte.

»Du solltest diesen Klimperfritzen man auch etwas kürzer halten, Aniane,« nörgelte Tante Malchen, den Tee eingießend und sorglich mit dem Teelöffel den Rum abmessend, den sie sich für ihre Tasse leistete, »der wird noch frech, sage ich dir. Das kennt man. Augen macht er, so groß, wie ein paar Kaffeetassen, wenn er dich nur ansieht! Ich dächte, wir haben von dem wüsten Gerede jetzt gerade genug, und wir brauchten es nicht noch dadurch zu vergrößern, daß du mit deinem früheren Verlobten hier Arm in Arm herumspazierst. Na, in Tannenrode wäre ja so was ganz undenkbar. Undenkbar, sage ich dir,« schloß sie mit einem Seufzer.

»Wir sind ja, gottlob! nicht in Tannenrode, Tante,« gab Aniane lächelnd zurück, und ihren Arm um die kleine, rundliche Gestalt der Majorin legend, versuchte sie zu scherzen:

»Was du für ein Hasenfuß bist, Tante Malchen! Du, die du immer der ganzen Welt deine Meinung so frei ins Gesicht schleuderst, hast Furcht vor der blöden Menge, die ihre Tür vor uns verschließt, wenn nur der Schein gegen uns spricht? Ich habe es aufgegeben, den Menschen zu Gefallen zu leben, aber in meinem Innern, da will ich hoch, da will ich rein auf der höchsten Warte stehen, sowohl in meiner Kunst, wie im Leben. Und nun, Tante Malchen, rüste dich. Ich habe die Absicht, heute abend wieder an der Tafel zu speisen.«

Frau Majorin Buttler rang die Hände.

»Heute gerade, wo die ganze Gesellschaft schon vor Tau und Tage aufgestanden ist, den fürstlichen Wagen zu erwarten, wo heute dein Name in aller Munde ist. Heute doch nicht, Aniane.«

»Gerade heute, Tante!«

Wie hart die sonst so weiche Stimme klang, und wie die grauen Augen dunkel, fast schwarz aufstrahlten.

»Ihre Durchlaucht, die Fürstin Geraldine von Büsingen,« meldete die Kammerjungfer mit etwas erschrecktem Gesicht.

Aniane war aufgestanden. Hoch und schlank stand sie in dem langschleppenden, lichtgrauen Kreppkleide mit den feinen Silberstickereien in der Mitte des Zimmers.

»Du wirst doch die Fürstin nicht empfangen?« flüsterte die Tante, »sie kommt, um dich zu beleidigen.«

Und im Stillen jammerte sie:

»Mein Gott, mein Gott, unsere Landesmutter. Mir zittern die Knie.«

»Ich lasse bitten.«

Aniane sagte es mit einer vornehm lässigen Handbewegung und ihre Gestalt reckte sich stolzer empor.

Die kleine Majorin aber huschte mit jugendlicher Beweglichkeit zur Tür hinaus. Um alles in der Welt hätte sie nicht zugegen sein mögen, wenn die Fürstin des Landes, vor der sie sich in Gedanken tief und demutsvoll beugte, hier Aniane gegenüber stand.

Ein Rauschen, ein leises Knistern, und die hochgewachsene Gestalt der Fürstin mit dem fahlblonden Haar und den verblaßten, blauen Augen stand Aniane gegenüber, ihr zur Seite ihre Hofdame, die Baronin von Wuthenow, den weißen, großen Hut mit Rosen überschüttet im weißen, duftigen Spitzenkleide leuchtend und verheißend wie ein wonniger Frühlingstag.

»Meine beste Baronin,« hub die Fürstin an, mit ausgestreckten Händen auf die Sängerin zugehend, während ein paar tiefrote Flecken auf ihren Wangen brannten. »Ich komme, um Ihnen meinen Dank auch im Namen des Fürsten auszusprechen für die Liebenswürdigkeit, mit der Sie sich auf der Tschiervahütte des Verwundeten angenommen haben und hier, meine liebe Wuthenow, drängt es besonders, eine liebe, alte Jugendfreundin begrüßen zu können.«

Daß der Fürst sie förmlich zu diesem Besuch gezwungen, wußte die hohe Frau, die sich jetzt neugierig im Zimmer umsah, geschickt zu verbergen.

Merkwürdig, wie elegant dieses Künstlerpack wohnen konnte, fast eleganter als sie selbst.

»Durchlaucht sind sehr gütig,« bemerkte Aniane mit kühlem Blick zu der Baronin Wuthenow, die ihr lächelnd und etwas herablassend zunickte, hinübersehend, »daß Sie sich selber bemühen, um von mir zu hören, daß ich weder Dank noch Anerkennung verlange und verdiene für einen Dienst, den die Pflicht der Menschlichkeit gebot. Freiwillig hätte ich ihn nicht geleistet.«

»Ah,« machte die Fürstin und hob ihr langstieliges Lorgnon, während sie sich langsam in einen Sessel gleiten ließ, »was Sie mir da sagen, liebe Frau Baronin, interessiert mich, wollen Sie sich nicht deutlicher auslassen? Liebe Witta,« wandte sie sich an die Baronin von Wuthenow, wollen Sie denn nicht Platz nehmen? Die Baronin von Rammelsburg scheint durch unseren Besuch so überrascht, daß sie nicht daran denkt, ihre Gäste zum Sitzen zu laden.«

Aniane stand groß aufgerichtet noch immer in der Mitte des Zimmers. Abwehr lag in ihrer Haltung und in ihrer Stimme.

»Ich habe den Besuch Eurer Durchlaucht und den der Baronin von Wuthenow weder gewünscht noch erwartet.«

Eine flammende Röte auf den Wangen, sprang jetzt die Fürstin empor.

»Sie vergessen, meine gnädige Frau, daß wir als Freunde kamen,« drängte es sich von ihren zitternden Lippen. »Hüten Sie sich, daß diese Freunde zu Feinden werden. Wir sind gekommen –«

»Freiwillig oder auf hohen Befehl?« unterbrach Aniane die fürstliche Frau. »Gleichviel, ich kenne die Gründe nicht, ich will sie auch nicht kennen lernen. Aber ich möchte hier betonen, daß zwischen der fürstlichen Familie von Büsingen und mir keinerlei Gemeinschaften besteht, noch bestehen soll, und daß ich bedauere, daß Durchlaucht sich vergebens zu mir bemüht haben.«

Die Knie der hohen Frau schwankten merklich. War das der Dank dafür, daß sie sich überwunden hatte, diese arrogante Person aufzusuchen, weil der Fürst so fest darauf bestand und sie seine Heftigkeit fürchtete?

O, sie wußte wohl, was ihr hoher Gemahl mit diesem Besuch bezweckte. Allen bösen Gerüchten über ihn und über die Sängerin, die ihr unverantwortliches Gebahren am Rosegghaus noch durch ihr schamloses Bleiben übertroffen hatte, sollte die Spitze abgebrochen werden, und sie, sein Weib, die Fürstin seines Landes, sollte das willige Werkzeug dazu hergeben.

War sie denn bei Verstand gewesen, daß sie, um Dolf Dietram zu beruhigen, sich in diese lächerliche Situation begeben hatte?

Der ganze Hochmut der fürstlichen Frau flammte auf. Ihre wilde, nur mühsam gezügelte Eifersucht brannte wieder lichterloh, und während eine fieberhafte Röte auf ihren Wangen kam und ging, keuchte sie, mühsam beherrscht:

»Sie rächen sich jetzt, Baronin Rammelsburg, für die Worte, die ich Ihnen in meiner Erregung vor dem Rosegghaus zurief. Genügt es Ihnen, wenn ich zugebe, daß ich sie bedauere?«

»Vollkommen,« entgegnete Aniane eisig, während die schöne Witta verlegen hüstelte und bemüht war, mit ihrer Herrin durch Zeichen Fühlung zu gewinnen, die diese aber nicht beachtete.

»Und was kann ich meinem Gemahl, dem Fürsten, von Ihnen ausrichten?« fragte die Fürstin, verhaltene Angst in der Stimme.

»Daß es überflüssig war, Eure Durchlaucht zu zwingen, mir diese äußerliche Genugtuung zu verschaffen, die für alle Teile nur peinlich wirkt.«

»Aber begreifst du denn nicht, Aniane,« mischte sich zum erstenmal die Baronin Wuthenow in das Gespräch, als sie die Ratlosigkeit ihrer Herrin sah, »was es für dich heißt, wenn Ihre Durchlaucht dir die Ehre erweist, dich aufzusuchen?«

»Nein,« gab Aniane voll ruhiger Sicherheit zurück. »Mir fehlt jedes Verständnis dafür, daß eine Frau der anderen eine unerhörte Beleidigung ins Gesicht wirft und bald darauf, weil es ein anderer befiehlt, zu derselben Frau geht, abzubitten. Nicht aus Reue, einer anderen weh getan zu haben, sondern einfach, um dem Manne zu gefallen, der den Befehl erließ, vielleicht auch aus Laune, was weiß ich.«

»Hüte dich, Aniane, und vergiß nicht die Vergangenheit.«

»Ich denke immer daran, Baronin, und weil ich daran denke, so können Sie gleich hier auf der Stelle vernehmen, daß ich längst aufgehört habe, Sie meinem Freundeskreise einzureihen.«

Die Fürstin faßte unwillkürlich nach der Hand ihrer Hofdame, um sich zu stützen. Witta aber fuhr fauchend, wie eine Wildkatze, auf Aniane ein.

»Törichtes, unverständiges Geschöpf,« zischte sie zwischen den Zähnen. »Weißt du denn nicht, daß ein einziges Wort der fürstlichen Frau dort dich vernichten kann, daß es nur von dem Willen der Fürstin abhängt, ob du heute noch hier dein Haupt zur Ruhe legen kannst oder ob du, ausgewiesen wie einst aus Büsingen, deine Straße ziehen mußt wie eine Geächtete?«

Die hohe Frau starrte ihre Hofdame ganz entsetzt an.

Was war das, was da aus den schillernden Augen so unbeherrscht hervorbrach? Das war ja Haß, glühender, alles vernichtender Haß, und die Sängerin da, die so gelassen, die Hand leicht aus einen Sessel gestützt, dastand, die zuckte nicht einmal unter den Peitschenhieben, die ihr die Wuthenow, dieses rabiate Frauenzimmer, versetzte, sondern sagte ruhig:

»Sie sind im Irrtum, Frau Baronin. Wir sind hier nicht, wie vor neun Jahren, in dem kleinen Ländchen Büsingen, wo damals Irrtum und Gewalt einem jungen Menschenkinde alles nahm, sondern wir stehen auf dem Boden der freien Schweiz, wo wir alle gleiche Rechte genießen. Ihre Drohungen können mich also nicht einschüchtern, und ich habe nur den einen Wunsch, diese von mir nicht gewünschte Unterredung zu enden.«

Die Fürstin kämpfte mit einer Ohnmacht, aber sie mühte sich doch, ihre Haltung einigermaßen zu wahren, als sie, sich schwer aus Witta von Wuthenows Arm stützend, zu Aniane sprach:

»Ich sehe, daß meine Mission gescheitert ist, und ich werde dem Fürsten darüber berichten.«

Aniane neigte ein klein wenig das blonde Haupt, ohne ein Wort zu entgegnen.

Sie stand unbeweglich, bis die beiden Damen das Zimmer verlassen hatten. Dann brach sie mit einem wilden Schluchzen zusammen.

Es war zuviel auf sie eingestürmt. Die Ereignisse der letzten Tage waren nicht eindruckslos an ihr vorübergegangen, und alle die eisige Ruhe, die sie nach außenhin gezeigt hatte, war doch nur künstlich gewesen, sie hatte es längst gefühlt. Jetzt vermochte sie dem innern gewaltsamen Drange, ihren Schmerz zu äußern, nicht mehr zu widerstehen.

In ihrem Innern war etwas Bekanntes mahnend neu erstanden, die Erinnerungen an ihre einstige irrende Liebe und die ihr zuteil gewordene Demütigung. – –


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