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Am Nachmittage desselben Tages stand Professor Wigbert von Pflug seiner Schwiegermutter in ihrem Salon gegenüber.
Er hatte schon eine Flut von Anschuldigungen und Erörterungen über sich ergehen lassen müssen, und er stand nun da wie ein Mann, der dachte: »Rede nur, was du willst, ich weiß auch, was ich will.«
Maguhild mit dem süßen, blassen Gesichtchen und den verschüchterten, sehnsüchtigen Augen, die halb scheu, halb lächelnd zu ihm herübersahen, lehnte am Fenster, da konnte sie von Zeit zu Zeit ihren Kopf hinter der Gardine verbergen, wenn die Geheimrätin ein gar zu grausiges Bild von den vermeintlichen Sünden ihres Schwiegersohnes entrollte.
Alle Versuche Maguhilds, den Redefluß ihrer Mutter zu unterbrechen, waren bisher erfolglos geblieben. Da hatte sie es seufzend aufgegeben, aber sie horchte atemlos auf die Debatte, in der ihr Mann kaum zu Worte gelangte.
»Es ist sehr vernünftig von Ihnen,« nahm die Geheimrätin das erregte Gespräch wieder auf, »daß Sie gleich selbst nach St. Moritz gekommen sind, die unangenehme Angelegenheit zu regeln. Ich werde sofort meinem Mann nach Leipzig telegraphische Nachricht geben, daß er die Scheidung unverzüglich einleitet.«
Ein leises, verräterisches Zucken spielte um die von einem dicken, blonden Schnurrbart beschatteten Lippen des Professors, in dessen stillen blauen Augen jetzt plötzlich das siegende Leuchten frohester Jugend erstrahlte. Er senkte aber fast erschrocken über sich selbst wieder die Lider über die Augen und entgegnete mit respektvoller Verbeugung:
»Wie Sie wünschen, verehrte Frau Schwiegermama. Ich habe mit dem Papa vor meiner Abreise alles beredet, er kennt meine Wünsche und Pläne.«
»Papa, Papa! Wie sich das anhört! Lassen Sie doch die familiären Geschmacklosigkeiten. Ihre »verehrte Frau Schwiegermutter« bin ich die längste Zeit gewesen. »Gott sei Lob und Dank« kann ich wohl aus innerstem Herzen sagen.«
Die Geheimrätin ging mit wuchtigen Schritten über den Teppich. Die starre Seide ihres Kleides rauschte, und die kostbaren Federn auf ihrem Hut – sie war zum Ausgehen gerüstet – nickten, als sie nun, mit einer jähen Bewegung zu Maguhild gewandt, fortfuhr:
»Was versteckst du dich denn immer hinter der Gardine, wo es sich doch um dein Wohl und Wehe handelt? Es ist nur gut, daß der Professor so vernünftig ist und uns keine Schwierigkeiten macht,« und gegen diesen, der, die Hände verschränkt, jetzt mit ergebener Miene vor ihr stand, bemerkte sie noch gönnerhaft:
»Die pekuniären Weiterungen werden von meinem Manne glänzend geregelt werden.«
»Mama!« schrie Maguhild auf, während auf des Professors Antlitz eine glühende Röte kam und ging und er sich mühte, seine äußere Ruhe zu bewahren.
»Na, was ist denn dabei? Es ist doch selbstverständlich, daß der Mann einer reichen Frau, selbst bei einer Trennung der Ehe, anständig abgefunden wird, anständig, sage ich. So, und nun sind wir wohl fertig? Hoffentlich haben Sie nicht die Absicht, sich noch lange in St. Moritz aufzuhalten?«
»Nein, Gnädigste,« gab der Professor höflich zurück. »Ich habe noch eine Audienz bei dem Fürsten von Büsingen, und ich denke dann, morgen früh abzureisen.«
Die Geheimrätin nickte befriedigt. Es machte sich doch sehr gut, wenn sie heute an der Table d'hote erzählen konnte: Mein Schwiegersohn ist leider verhindert, mit uns zu speisen, er ist zu einer Audienz bei dem Fürsten von Büsingen befohlen. Der Fürst ist ein Jugendfreund meines Schwiegersohnes, des Professors von Pflug. Sie haben einst zusammen das Gymnasium und auch die Universität besucht, als der Fürst noch Prinz war und gar keine Aussicht auf den Thron hatte, gar keine Aussicht.
Der Professor las die wechselnden Stimmungen aus den Zügen der Geheimrätin und lächelte wieder.
»Ich hoffe von Ihrer Güte, meine Gnädige,« meinte er bescheiden, mit abermaliger Verbeugung, »daß Sie mir zum Abschied eine kurze Unterredung unter vier Augen mit Maguhild gewähren. Ich möchte ihr gern noch einiges sagen, was gesagt werden muß, wenn zwei Menschen sich, wie Sie es wünschen, für immer trennen.«
Dis Geheimrätin überlegte und blickte unruhig von einem zum anderen. Maguhild aber hatte ihr Gesicht wieder hinter der Gardine verborgen, und des Professors Antlitz war ganz undurchdringlich, daraus war nichts zu entziffern.
»Ich halte das eigentlich für ganz überflüssig,« bemerkte sie zögernd. »Aber wenn es durchaus sein muß, meinetwegen. Ich bemerke aber gleich, daß Maguhild in keiner Beziehung etwas Positives zugestehen kann. In allen Fragen, die für eine endgültige Trennung in Betracht kommen, entscheide ich. Hast du verstanden, Maguhild?«
»Ja, Mama,« kam es leise und schüchtern hinter der Gardine hervor.
»Dann mach's kurz,« mahnte die Geheimrätin, und hochmütig, mit abwehrender Kälte im Antlitz, neigte sie ein klein wenig das Haupt mit den stolznickenden Federn und rauschte hinaus.
Der Mann in der Mitte des Zimmers sah ihr nach. Wieder zuckte das frohe Lächeln um seinen Mund, dann aber breitete er weit seine Arme aus, und mit einem halb unterdrückten Jubelschrei schmiegte sich die junge Frau an seine Brust.
»Meine arme Maus,« fragte er zärtlich. »Hat man dich sehr gequält?«
»Ach, Wigbert, es war ja ganz unerträglich. Wie gut, daß du da bist, nun ist ja alles gut.«
»Gut? Du kleines Dummerchen, wo ich soeben meinen Abschied als Gatte und Schwiegersohn in aller Form erhalten habe? Sag mal, wie denkst du dir denn das eigentlich?«
»Ich denke gar nichts. Ich bin nur froh, daß du hier bist. Ich war schon ganz willenlos der Mama gegenüber.«
»Das bist du leider immer gewesen, mein Kind,« wehrte der Professor sehr ernst, »aber das wird jetzt anders. Die Geduld, die ich bisher mit den Launen und dem Eigenwillen deiner Mutter deinetwegen gehabt, ist zu Ende. Du siehst, wohin uns alle Nachgiebigkeit gegen ihre unerträgliche Herrschsucht gebracht hat, es hätte gar nicht viel gefehlt, so wäre unser bißchen Glück durch eigene Schuld in die Brüche gegangen.«
»Ach, Wigbert, Mama ist doch auch so gut. Sie meint es wirklich nicht so schlimm.«
»Na, ich danke schön! Hat sie nicht vom ersten Tage unserer Ehe an bei uns regiert? Hat sie nicht kommandiert, als wärst du ein Baby, und hat nicht das ganze Haus sich ihrem Willen gebeugt? Du aus Gewohnheit, ich, um Frieden zu haben? Und was haben wir erreicht? Nichts? Die Hölle haben wir im Hause gehabt, und es hätte nicht viel gefehlt, da hätten wir auch uns verloren. Papa, mit dem ich eingehend gesprochen, gibt mir vollkommen recht. Es soll und muß anders werden, und du mußt mir helfen.«
»Ich?« fragte Maguhild ganz erschreckt, ängstlich einen Schritt zurücktretend, »um Gotteswillen, Wigbert, sei doch vorsichtig und reize die Mama nicht. Sie darf es noch nicht erfahren.«
»Nicht erfahren,« lachte dieser. »Na, du bist mir ein schöner Held. Hast du mir nicht versprochen, die Reise nach St. Moritz dazu benutzen zu wollen, der Mama klar zu machen, daß wir uns lieben, daß du keinen anderen Wunsch hast, als mit mir in Ruhe und Frieden in beschaulicher Stille zu leben? Und anstatt, daß die Mama milder gegen mich gestimmt wird, erhalte ich von meiner teuren Schwiegermutter Briefe über Briefe, in denen sie mir in den schmeichelhaftesten Ausdrücken klar macht, daß ich ihr Kind elendiglich betrogen hätte, und daß sie und ihr Kind keinen heißeren Wunsch hegten, als die so unbedacht geschlossene Ehe wieder zu trennen.«
»Ja,« schluchzte Maguhild auf, »und Mama hat auch schon einen andern Mann für mich. Der lange Kalifornier, Mister Wadson, von dem ich dir schrieb, der, wie ich glaube, schrecklich verliebt in Dodo ist. Mit dem will mich Mama absolut verheiraten, und darum sollen wir uns scheiden.«
Nun stahl sich doch schon wieder ein Lächeln durch Tränen.
»Süßes, kleines Dummerchen,« lachte der Professor, seine Frau wieder in seine Arme ziehend und sie herzhaft auf das zuckende Mündchen küssend. »Ich glaube, wenn ich nicht wäre, du heiratest auch auf mütterlichen Befehl noch blindlings den langen Kerl und weintest dir dann nach deinem alten bärbeißigen Manne die blauen Augen aus. Nein, mein Kind. Jetzt kommt es anders.«
Frau Maguhild schmiegte sich zitternd an ihn.
»Sag es bloß schnell, was werden soll. Jeden Augenblick kann Mama zurückkommen und –«
»Und dann ist dein Mut dahin,« spottete der Professor.
»Nein, du irrst dich,« rief die junge Frau mit blitzenden Augen. »Ich bin mutiger, als du denkst. Ich habe sehr gut eingesehen, daß es nicht so weitergeht. Das hast du auch schon aus meinem Telegramm erkannt.«
»Das wird sich zeigen,« lächelte der Professor, sein junges Weib ein klein wenig von sich schiebend und ihr prüfend ins Gesicht sehend. »Ich habe einen Plan.«
»Und das wäre? Aber, bitte, verrate ihn mir schnell. Mir ist immer, als stünde Mama dort hinter der Tür und horchte auf jedes Wort.«
»So will ich es dir ganz heimlich sagen. Ich entführe dich.«
Maguhild schrie leise auf.
»Du mich?« Dann aber lachte sie, ein herzfrohes, glückliches Kinderlachen.
»Ach, das ist ja entzückend,« rief sie jubelnd. »Goldiger, einziger Wigbert, was bist du süß, du mein geliebter, lieber Mann.«
»Nicht wahr?« lachte Wigbert. »Wie stehen wir da? Morgen früh um vier Uhr, wenn meine hochverehrte Frau Schwiegermutter sich noch in süßen Träumen über unsere Scheidung wiegt, dann wird mein kleines Frauchen die Extrapost besteigen, die vor dem Hotel halten wird. Vorhin bei meiner Ankunft habe ich sie gleich bestellt. Dodo, die meinen Plan kennt, wird dir helfen, ein kleines Köfferchen mit den notwendigsten Sachen noch heute abend dem Portier zu übergeben, und wenn der Tag anbricht, dann werden wir beide Seite an Seite hinausfahren in die schöne, strahlende Welt. Willst du, wir beide ganz allein, du mein Kleines, Süßes?«
Maguhild jauchzte auf.
»Und die Mama?« fragte sie ängstlich. »Sie wird ja außer sich sein.«
»Kann sie, kann sie. Wenn sie es erfährt, sind wir über alle Berge. Ach, wie herrlich wird es sein, wir beide allein durch das schöne Engadin fliegend. Bei Weidbrück geht es über die Tiroler Grenze und dann über den Finstermünzpaß durch das herrliche Land Tirol.«
»Das wird wundervoll, Wigbert,« jubelte sie. »Gleich von Weidbrück will ich Mama schreiben, daß ich nur dich liebe und –«
»Daß du entschlossen bist, mit deinem Manne von nun an dein eigenes Leben zu leben,« ergänzte der Professor ernst, »daß du entschlossen bist, deinem Manne in die neue Heimat zu folgen, die er in weiser Voraussicht der Dinge sehr fern von der Schwelle der schwiegermütterlichen Häuslichkeit aufzurichten gedenkt.«
Erstaunt und fragend sah Maguhild zu ihrem Manne empor.
»Ich habe den an mich ergangenen Ruf der Universität Straßburg angenommen,« erklärte Wigbert, »und dort, Maguhild, wird fortan unsere Heimat sein. Willst du mir gern dahin folgen? Willst du es lernen, allein und ohne Einfluß deiner Mutter unser Glück zu zimmern? Wirst du es können?«
»Ja, Wigbert,« gab die junge Frau zuversichtlich zurück, und ein zartes Rot färbte ihre blassen Wangen. »Ich habe jetzt einen Bundesgenossen, etwas, was mir Mut und Kraft geben wird, meine Unselbständigkeit zu besiegen.«
Fragend blickte der Professor seinem jungen Weibe in die Augen.
Zärtlich legte er den Arm um die feingliedrige Gestalt.
»Maguhild, ist es wahr? Wir werden nicht mehr allein sein? Kinderaugen sollen uns leuchten, sollen unseren Pfad hell machen, den wir selbst uns so verschatteten? Ach, Maguhild, das ist zu viel der Freude und des Glücks.«
Bewegt preßte der Professor sein Weib ans Herz.
»Es wird gewiß ein Bub,« lachte die junge Frau unter Tränen, »und dir ähnlich. Und nun weißt du, daß ich mit dir bis ans Ende der Welt fliehe, und daß selbst die Energie der Mama mich nicht halten kann.«
»Nun weiß ich es,« gab Wigbert zurück. Im gleichen Augenblick aber flog die Tür auf, und die Geheimrätin steckte den Kopf mit den nickenden Hutfedern herein.
»Na, ich dächte, es wäre mehr als genug des Abschieds,« rief sie herein mit einem mißtrauischen Blick auf die beiden, die anscheinend gleichgültig und in korrekter Haltung sich gegenüber standen.
»Meine gnädige Frau,« entgegnete der Professor mit einer tadellosen Verbeugung, »es war mir eine Freude, Maguhild so willfährig und verständig zu sehen, und ich hoffe, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo Sie den heutigen Tag mit seinen Entschlüssen so wie ich aus voller Seele preisen werden.«
»Das versteht sich,« gab sie brüsk zurück, und bei sich setzte sie hinzu:
»Diese Unverschämtheit von dem Federfuchser, so unverhohlen seine Freude kund zu geben, daß er von uns los kommt. Ich habe es ja aber immer gesagt, er paßt nicht in unsere Familie. Maguhild kann Gott auf den Knien danken, daß sie den Kerl los wird.«
»Komm, Maguhild,« sagte sie tröstend, »komm, mein Kind. Er war deiner Liebe nicht wert.«
Mit pathetischer Gebärde legte sie ihren Arm um die Schulter der Tochter. Deren schluchzendes, glückseliges Lachen deutete sie in ihrer Weise, auch der strahlende Blick des Einverständnisses entging ihren Argusaugen. Nun schritt Wigbert von Pflug nach einer letzten Verneigung zur Tür. Die Geheimrätin aber nahm behutsam ihren Federhut von dem blonden Haar und sagte ärgerlich:
»Nun ist es doch zu spät, noch vor der Tafel um den See zu gehen.«
»Sieh doch, Mama,« rief Maguhild, über den See deutend. »Ist es nicht, als ob die ganze Welt in Rosen stände? Die scheidende Sonne meint es gut mit Berg und Tal. Sieh nur, alles strahlt ja in Flammenglut.«
»Na ja, meinetwegen,« gab die Geheimrätin zurück und dachte dabei:
»Der verrückte Professor wirkt schon wieder so auf sie, daß sie wie'n Dichter redet. Du lieber Gott, wenn ich nicht wäre, was sollte bloß aus dem Elend werden.«
Und tief befriedigt von dem Ergebnis des heutigen Tages, verschwand sie in ihrem Schlafzimmer, um sich für die Tafel zurecht zu machen.
Am andern Morgen, als die Geheimrätin ziemlich spät erwachte, sagte sie, sich noch in ihrem Bette behaglich dehnend, zu ihrer Nichte Dodo, die ihr soeben ihre Schokolade brachte:
»Laß nur Maguhild noch ein wenig schlafen, Dodo, der gestrige Tag scheint sie doch mehr angegriffen zu haben, als ich dachte. Es ist nur ein Glück, daß Wigbert keine Schwierigkeiten machte. Na, Gott sei Dank, den Kerl sind wir für immer los. Maguhild kriegt alle Tage einen andern.«
»Wenn sie nun aber keinen andern will, Tante,« wandte Dodo mit einem übermütigen Lächeln um den roten Mund ein.
Die Geheimrätin richtete sich jäh auf.
»Bitte, rede keinen Unsinn, Dodo,« gebot sie. »Ich werde doch wohl mein eigenes Kind kennen.«
»Wer weiß, Tante,« entgegnete Dodo. »Zuweilen glauben wir, alles zu wissen, und nachher sehen wir ein, daß wir garnichts gewußt haben. So bin ich überzeugt, du weißt nicht einmal, daß Maguhild heute schon in aller Frühe mit ihrem Manne abgereist ist.«
Die Geheimrätin war mit einem Satze aus dem Bette und die Schokolade, die sie dabei umkippte, floß auf den schönen, hellen Smyrna-Teppich, was Dodo voller Schrecken wahrnahm.
»Bist du bei Verstand, Mädchen,« schrie die Geheimrätin. »Maguhild abgereist? Mit einem Manne abgereist, und ich? Ich – ihre Mutter – ich!«
»Muß lernen, daß Maguhild den Kinderschuhen endlich entwachsen ist und das Recht der Selbstbestimmung für sich in Anspruch nimmt.«
»O, du, du,« stöhnte die Geheimrätin auf. »Du Nagel zu meinem Sarge!«
»Tantchen,« schmeichelte Dodo und legte ihr blondes Köpfchen zärtlich gegen die eisig kalte Wange der Tante. »Sei doch gut und verzeihe ihr. Sie hat Wigbert doch so lieb.«
Die Geheimrätin fuhr wütend in ihre Kleider.
»Was verstehst du davon,« wehrte sie ab. »Na, ich werde mich ja sofort davon überzeugen, ob dein dummes Geschwätz nur ersonnen ist, mich zu schrecken. Geh mir aus den Augen, du undankbares Geschöpf.«
Gern, liebe Tante. Zuerst aber, bitte, nimm diesen Brief. Maguhild hat ihn mir bei ihrer Abreise auf die Seele gebunden.«
»Du? Du wußtest?«
Die Geheimrätin erstickte fast vor Wut und Erregung. Atemlos sank sie auf einen Stuhl. Mit zitternden Fingern löste sie das Briefblatt. Jetzt las sie, und die Buchstaben tanzten dabei vor ihren Augen.
»Liebe Mama!
»Du glaubst, daß es keinen anderen Ausweg als Scheidung gibt, um das so arg in die Brüche gegangene Glück meines Lebens aufzubessern? Ich möchte Dir heute sagen, daß ich mich fest entschlossen habe, nicht nur wie bisher Dein treues und gehorsames Kind, sondern auch Wigbert die rechte und verständige Lebensgefährtin zu sein, die ich bisher leider nie gewesen! Wir werden fortan unsern Aufenthalt in Straßburg nehmen, wohin Wigbert berufen wurde, um dort den Lehrstuhl einzunehmen, nach dem er sich schon lange gesehnt. Einstweilen aber fahren wir, wie ein paar glücksfrohe Kinder, allein mit uns und unserer Liebe und der schönen Hoffnung, bald nicht mehr allein, sondern zu dreien zu sein, hinaus in die strahlende Welt. Sei nicht böse, meine Mama, wenn wir Dich allein lassen. Wir brauchen uns wirklich mal für uns. Wenn wir uns wiedersehen, liebe Mama, dann ist gewiß Dein Zorn verflogen, und Du bist nicht mehr böse, daß Dein Kind sich ihr Glück nicht ruhig nehmen lassen wollte, sondern es still, wie ein Dieb in der Nacht, entführte. Wigbert küßt Dir die Hand. Er ist also noch immer Dein treu ergebener Schwiegersohn. Ich umarme Dich als Deine überglückliche
Maguhild.«
Die Geheimrätin sah starren Auges auf das entsetzliche Papier, das alle ihre schönsten Zukunftsträume über den Haufen warf. Dann aber lösten sich langsam ein paar große Tränen, die ersten wohl, welche die Geheimrätin seit ihren Jugendtagen geweint, aus ihren Augen und flossen über ihre Wangen. Wie ein Schluchzen kam es aus ihrem Munde:
»Nun habe ich mein letztes Kind verloren.«
»Nein, Tante,« wehrte Dodo, und legte zärtlich den Arm um die ganz Vernichtete. »Du hast es gewonnen. Maguhilds Herz wird dir mehr gehören, als bisher, wenn sie einsieht, daß dir ihr Glück höher steht, als dein eigenes Wünschen und Hoffen.«
Die Geheimrätin schluchzte herzbrechend. Die energische Frau lag ganz aufgelöst in Dodos Armen.
»Was soll denn bloß mit Mister Wadson werden,« weinte sie dann auf. »Es ist doch zu schrecklich.«
»Den nehme ich, Tante,« tröstete Dodo mit schelmischem Lächeln. »Für dich, wenn du es willst, ist mir jedes Opfer recht.«
»Du bist ein gutes Kind,« lobte die Geheimrätin, die Tränen trocknend. »Keins meiner Kinder hat den unbedingten Gehorsam, den ich verlange, verlangen muß,« schloß sie gebietend.
»Jawohl, Tante,« bemerkte Dodo ergebungsvoll. »Wenn du willst, heirate ich ihn.«
»Du bist ein Prachtkind. Gott segne dich, mein Liebling. Weißt du, für die Aussteuer sorge ich.«
Dodo lachte und tanzte mit der verblüfften Tante in der Stube umher. Dann aber lachte sie ausgelassen unter Tränen:
»Wir haben uns ja schon so lange lieb, Tom Wadson und ich – es ist ja eine ganz alte Sache, Tante.«
Die Geheimrätin griff sich in die noch aufgewickelten Locken und stöhnte, dann aber vollendete sie energisch ihre Toilette, ohne ihre Nichte noch eines Blickes zu würdigen.
Das nächste war, ihrem Manne zu telegraphieren. Er sollte den Flüchtlingen die Gelder sperren. Sie wußte nicht, daß der Geheimrat den Durchbrennern in generöser Weise ein paar braune Lappen für diese erste, gemeinsame Reise nach fast neunjähriger Ehe, schon ehe sie angetreten wurde, gespendet hatte.
Und durch die blauen Berge mit den schimmernden Gletschern, die grünen Arventäler entlang, rasselte nun die behäbige Postkutsche dahin, zwei glückliche Menschenkinder in ihrer Hut, und mehr als einmal flüsterten sie sich zu: