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Im Residenzschlosse zu Büsingen herrschte zur selben Zeit auch Gewitterstimmung. Die Lakaien schlichen auf leisen Sohlen und mit verstörten Gesichtern umher, denn wie ein Lauffeuer hatte es sich im Schlosse schon in früher Morgenstunde verbreitet, daß die Frau Fürstin höchst ungnädig erwacht sei und soeben einen ihrer hysterischen Anfälle mit Hilfe des schnell herbeigeholten fürstlichen Leibarztes überwunden hatte.
Die Kammerfrau und die diensttuenden Hofdamen hatten rotgeweinte Augen, und der fürstliche Kammerdiener James trug behutsam die Scherben einiger kostbaren Porzellanvasen mit unbewegter Miene aus dem Zimmer der Fürstin.
Endlich, nach Stunden der Aufregung und Unruhe, glätteten sich die Wogen und die Dienerschar bis hinauf zu dem diensttuenden Kammerherrn atmete wieder auf. Die Fürstin hatte ihre Schokolade verlangt.
James präsentierte sie mit unnachahmlicher Würde und ohne eine Miene zu verziehen seiner überaus gnädigen Herrin.
Die Fürstin lag auf einem Ruhebette von lichtblauem Samt, das ihre ohnehin fahle Gesichtsfarbe noch farbloser erscheinen ließ. Ihre wasserblauen Augen hatten einen bösen, tückischen Zug, und die großen, weißen, etwas vorstehenden Zähne gruben sich fest in die roten, sinnlich aufgeworfenen Lippen. Die blutleeren Hände zerknitterten nervös ein Telegramm, das die fürstliche Frau wieder und immer wieder schon den ganzen Morgen gelesen hatte.
Das stumpfe, blonde Haar hing noch ungeordnet über die Schultern, und die offenen Schnüre des weißen Morgenkleides schleiften langhin auf dem Boden.
»Die Wuthenow soll kommen, sofort,« herrschte sie den Diener an. »Haben Sie nicht gehört,« rief sie laut, »die Baronin Wuthenow soll sich sofort hierher begeben.«
»Halten zu Gnaden, Euer Durchlaucht. Die Baronin befindet sich auf einem Spazierritt. Sobald Frau Baronin zurückkehren, wird man ihr den Befehl Euer Durchlaucht sofort melden.«
»Unerhört,« rief die Fürstin erregt. »Immer, wenn man die Person braucht, ist sie nicht da.«
»Halten zu Gnaden, Euer Durchlaucht, Fräulein von Bonin hat heute Dienst.«
Die Fürstin sah ihren alten Kammerdiener, der sie aus dem stillen Schlosse ihres Vaters einst hierher begleitet hatte in das neue Leben, etwas betreten an.
Der Alte wurde unverschämt, unverschämt, wie die anderen auch. Und auf ihn hätte sie doch gemeint, fest bauen zu können.
Sie machte ihm ein Zeichen, daß er entlassen sei, und James verließ mit einem tiefen Bückling das Zimmer.
Durch die kostbaren, weißen Spitzenvorhänge mit den Uebergardinen aus lichtblauem Samt brach das Sonnenlicht. Es flog neckend über ein großes Oelbild, das halb spöttisch, halb mit überlegenem Ernst von der Wand herniederlächelte auf die fürstliche Frau, die unruhig nach der Uhr sah und sich dann wieder mit gerunzelter Stirn in die Lektüre des Telegramms vertiefte. Sie mochte den Augen des Fürsten, ihres Gemahls, die aus dem Bilde herniedersahen, nicht begegnen.
Wieder rührte sie die Klingel.
»Die Baronin Wuthenow ist ohne Anmeldung vorzulassen,« rief sie dem eintretenden James zu, der sich schweigend verbeugte.
Sein kundiger Blick gewahrte, daß die Schokolade der Fürstin noch unberührt stand.
Mit suggestiver Gewalt und doch bescheiden präsentierte er ihr die vergoldete Tasse, und die Fürstin nahm sie halb widerwillig, halb von seiner Sicherheit bezwungen.
Jetzt nickte ihm die Fürstin sogar herablassend zu.
»Der diensttuende Kammerherr soll das Vorzimmer nicht verlassen,« gebot die hohe Frau, in ihrer Schokolade löffelnd, »ich werde ihn gebrauchen.«
Nun war sie wieder allein. Wie unerträglich träge doch die Zeit verrann. Die Fürstin Geraldine von Büsingen seufzte unmutig auf, und ein mißmutiger, eigensinniger Zug legte sich über ihr blasses Gesicht.
Da wurden plötzlich leichte Schritte vernehmbar, und strahlend in Jugendfrische und in fast märchenhafter Schönheit stand ein junges Weib im Reitkleide, die Reitgerte mit dem silbernen Griff in den von Stulphandschuhen bedeckten Händen, vor der Fürstin und sagte lächelnd, sich tief verbeugend:
»Verzeihung, Durchlaucht, daß ich auf mich warten ließ und daß ich hier so im »Dreß« erscheine, aber der Kammerherr von Nidda berichtete mir, daß Durchlaucht allerhöchste Eile geboten haben. Da bin ich also. Wollen Durchlaucht über mich verfügen?«
»Liebste Wuthenow! Ich sterbe.«
Ein feines Spottlächeln kräuselte die roten Lippen der jungen Frau, die, ungefähr im gleichen Alter mit der Fürstin, doch in ihrer ganzen Erscheinung noch etwas blühend Jugendliches hatte, obwohl sie sicher dreißig Jahre zählen mochte, während die Fürstin viel älter erschien.
»Sie glauben mir nicht, Witta,« nahm die Fürstin kläglich das Wort. »Erst vorhin wieder der gräßliche Krampfanfall – die Bonin ist so ungeschickt – und nun diese abscheuliche Migräne. Dieses Klopfen und Bohren in den Schläfen. Ach, es ist unerträglich.«
Die junge Baronin Wuthenow hatte schnell Reitgerte und Handschuhe auf den kleinen Marmortisch geworfen und war zu den breiten Fenstern geeilt. Eiligst zog sie die Vorhänge zusammen, so daß nur ein mattes Licht herrschte. Dann reichte sie ihrer Gebieterin das englische Riechsalz und badete ihr die Schläfe mit kölnischem Wasser. Alles geschah flink und lautlos, mit ungemein weichen Bewegungen.
»Ach, das tut gut,« seufzte die Fürstin. »Wenn ich Sie nicht hätte, liebste Witta, müßte ich ja geradezu vergehen.«
»Haben Durchlaucht Kummer gehabt?« fragte die junge Frau, weiches Mitleid in der Stimme, »kann ich Durchlaucht helfen?«
Die blauen, rätselhaft leuchtenden Augen der Baronin Wuthenow, die von dunklen Wimpern voll verdeckt waren, glühten seltsam forschend dabei auf.
»Ja,« gab die Fürstin erregt zurück, sich halb von ihrem Ruhelager emporrichtend, »es ist ja geradezu unerhört, wie ich betrogen und beleidigt werde. Da telegraphierte man mir soeben, daß der Fürst in St. Moritz, wohin er durchaus meine Begleitung nicht wünschte, die alten Beziehungen zu einer Sängerin wieder aufgenommen hat, die ebenfalls dort zur Kur weilt. Ist das nicht schamlos?«
Einen Augenblick war das frische Gesicht der Baronin von Wuthenow tief erblaßt. Es war, als ob ein Zittern durch die schlanke Gestalt ging, dann aber fragte sie beherrscht:
»Haben Durchlaucht die Nachricht auch aus ganz sicherer Quelle? Es schwirren so viele Gerüchte durch die Luft, und der Fürst ist von vielen Feinden umringt.«
»Ausgeschlossen, Liebste, ganz ausgeschlossen, daß es nur ein Gerücht ist. Hatte man mir doch sogar, als ich hier zum erstenmal als die Braut des damaligen Prinzen einzog, erzählt, daß er mit Ihnen – bitte, lachen Sie nicht, liebste Witta – ein Verhältnis hätte. Wie grundlos das Gerücht, wurde ja dadurch bewiesen, daß Sie dem damaligen Kammerherrn der Fürstin-Mutter Ihre Hand reichten, aber wenn Sie auch Baron Wuthenow nicht geheiratet hätten, Witta, ich hätte doch an Sie geglaubt, weil die Garantie, welche mir die Fürstin-Mutter, die ja immer aus meiner Seite stand, für Sie gab, sowie mein eigenes Gefühl mir sagte, daß man Ihnen unrecht getan.«
»Wie soll ich Durchlaucht danken,« schluchzte die Hofdame gerührt auf, an dem Lager ihrer Gebieterin auf die Knie sinkend und ihre heißen Lippen auf die Hand der Fürstin drückend. »Es ist so schmerzlich, immer verkannt zu werden, und es tut so wohl, doch eine Seele zu wissen, die uns recht beurteilt.«
»Ruhig, ruhig, meine Liebe,« wehrte die Fürstin etwas ernüchtert ab. »Es ist ja ganz selbstverständlich, daß Ihnen niemand so etwas zutraut, und meine Schwiegermutter hätte Sie mir auch gewiß nicht als Hofdame empfohlen, als sie starb, wenn der Verdacht nur im geringsten begründet gewesen wäre. Der Fürst unterhält sich gern mit Ihnen, ich weiß es wohl, und er hält die Jugendfreundschaft fest, die Sie ja wohl noch von der Tanzstunde her verknüpft. Das ist alles, Liebste. Bitte, reden Sie mir nicht drein. Ihre Verlobung mit dem Minister von Borghammer, der rechten Hand des Fürsten, bietet ja auch die weitgehendsten Garantien.«
Die Fürstin hatte keine Ahnung von der Taktlosigkeit, die sie ihrer Hofdame zufügte, und Witta von Wuthenow grub die kleinen, weißen, spitzen Zähne fest in die roten Lippen und schloß die Augen, damit die hohe Frau nicht die verräterischen Lichter gewahrte, die darin aufzuckten.
»Ja, es war lieb von der Fürstin-Mutter,« entgegnete die junge Frau ganz sanft, »daß sie meine Hofdamenstellung noch nach ihrem Tode aufrecht erhielt, und daß es mir vergönnt ist, Euer Durchlaucht zu dienen und meine Liebe und Hingebung zu beweisen.«
Die Fürstin lächelte. Es schmeichelte ihrer Eitelkeit, daß das schöne, rassige Geschöpf, dem der ganze Hof zu Füßen lag, sich so vor ihr beugte und sie umschmeichelte.
»Ich weiß ja, Witta,« sprach sie weiter, »daß Sie, als Ihr Gemahl, der Kammerherr Wuthenow, nach so kurzer Ehe starb, Ihren Gatten aufrichtig betrauert haben, aber jetzt, wo Ihnen an der Seite des Ministers ein so stolzes Glück blüht – er ist doch der mächtigste Mann nach dem Fürsten im Lande –, jetzt werden Sie, wo selbstlose Liebe Sie an den Mann Ihrer Wahl bindet, es begreifen, was ich leide, wenn ich denken muß, daß der Mann, den ich liebe, mich verrät.«
»Sollten Durchlaucht darin Seine Durchlaucht den Fürsten nicht zu hart beurteilen? Er ist jung, leichtlebig, feurig, aber nicht schlecht. Er ist keiner unedlen Tat fähig.«
»Er hat in Ihnen einen guten Anwalt, Witta,« lächelte die Fürstin trübe. »Ich weiß nur zu gut, daß ich ihm nichts bin und nie etwas sein werde.«
Es klang etwas wie aufrichtiger Schmerz aus den Worten der fürstlichen Frau, die jetzt wieder die Depesche zur Hand nahm.
Die schöne Hofdame drückte den kleinen Reithut fester auf das braunlockige Köpfchen, und ihr Blick hing mit leichter Grausamkeit, gepaart mit Neugierde, lächelnd an der Frau, die ihre Augen nicht losreißen konnte von dem Telegramm, das sie jetzt zornig in der Hand zusammenballte.
»Wollen Sie mir helfen, Witta?«
»Mit Gut und Leben stehe ich für Durchlaucht ein.«
»Sie kennen den Fürsten seit frühester Jugendzeit. Sie haben schon einige Jahre vor meiner Verheiratung hier als Hofdame der Fürstin-Mutter zugebracht. Sie werden mir gewiß sagen können, ob wirklich jemals ein Verhältnis des Fürsten mit der Sängerin Aniane von Rainer bestanden hat?«
»Aniane von Rainer?«
Witta von Wuthenow rief es tödlich erschrocken, und wieder rann ein Zittern durch ihre Gestalt. Aber sie faßte sich sofort, und ein verächtliches Lächeln irrte um den feinen Mund, als sie mit harter Stimme sagte:
»Liebste, beste, teuerste Durchlaucht. Soll das vielleicht die Sängerin sein, von der man Durchlaucht berichtet hat?«
Die Fürstin nickte.
»Das ist sie. Sie kennen die Person?«
»Nur zu gut,« gab Witta mit einem bösen Blick zurück. »Sie war in der Tanzstunde zu Tannenrode, die ja der Fürst mit Wigbert von Pflug damals auch besuchte, ein ganz unausstehliches Geschöpf. Eigensinnig, stolz, dabei steif wie eine Holzpuppe und obendrein unglaublich empfindlich. Der Prinz kränkte sie oft im jugendlichen Uebermut, und wir alle, die wir sie eigentlich nicht recht zur Gesellschaft zählten – weil sich ihre Eltern Schulden halber erschossen hatten – ihr Vater war Offizier – wir taten es dem Prinzen nach. Diese kleine, unbedeutende Aniane, die hier am Theater zu Büsingen allerdings später als vielverheißender »Stern« aufging, hat es sicher nicht vermocht, den Fürsten zu fesseln. Es gingen auch später hier Gerüchte, daß der Fürst eine Liebelei mit der Sängerin unterhalte. Man sprach sogar von einer vereitelten Flucht des Prinzen mit der Sängerin, die der Rittmeister von Rammelsburg, der nachherige Gatte der Sängerin, zuschanden machte, und es gab eine übereilte Entlassung und Ausweisung der Rainer aus der Residenz, aber ich glaube kein Wort von der Geschichte, denn Aniane ist viel zu stolz und zu dumm, wenn ich so sagen darf, sich einem Manne eher in die Arme zu werfen, ehe sie nicht verbrieft und versiegelt alle Rechte dazu hätte.«
»Sie wälzen mir einen Stein von der Seele, Witta,« rief die Fürstin aufspringend, »ach, wenn ich Sie nicht hätte, Sie mit Ihrer Natürlichkeit, Ihrer Frische, Ihrer Wärme und Ihrem Geschick, alles immer wieder ins rechte Gleis zu bringen, wo bliebe ich da? Ich kann den Gedanken, Sie bald zu verlieren, kaum fassen, und ich werde Exzellenz von Borghammer bitten müssen, die Hochzeit noch ein Jahr zu verschieben.«
Witta lächelte, und wieder küßte sie schmeichelnd die Hand der Fürstin.
Unentrinnbar, wie die Schlange ihr Opfer, so hielt sie mit ihren schillernden Augen die Fürstin im Bann.
»Und diese Aniane ist in St. Moritz?« fragte sie leichthin.
»Ja, und mein Gewährsmann teilt mir mit, daß der Fürst die Gegenwart der Sängerin auf Schritt und Tritt suche. Da Sie diese Aniane von Rainer kennen, bin ich ja etwas beruhigt, natürlich werde ich aber sofort nach St. Moritz aufbrechen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie die Sachen stehen.«
Witta ließ nervös die Schleppe ihres Reitkleides fallen, die sie soeben hochgezogen hatte. Wie Triumph blitzte es in ihren Augen auf.
»Ich glaube, daß Durchlaucht ganz ruhig sein können,« sagte sie in leichtem Ton, und doch merkte man, daß sie umsonst ihrer zitternden Stimme Festigkeit verleihen wollte.
»Das wird sich zeigen,« gab die Fürstin gelassen zurück, ihre etwas zur Fülle neigende Gestalt hoch aufrichtend, »ich pflege mich gern selber von dem, was ich zu fürchten und zu hoffen habe, zu überzeugen.«
»Seine Durchlaucht werden vielleicht ungehalten sein, wenn Durchlaucht die Erholungszeit des Fürsten unterbrechen,« wagte Witta einzuwenden, in dem Bewußtsein, dadurch den Widerspruch der Fürstin nur noch mehr zu entfachen.
»Das wollen Sie bitte mir überlassen, liebste Wuthenow. Also jetzt rüsten Sie zur Reise. Wir werden mit dem Nachtzug über München nach St. Moritz fahren.«
»Ich soll Durchlaucht begleiten?« fragte Witta ängstlich, während ihre Undinenaugen seltsam feurig aufstrahlten, als öffnete sich ihnen plötzlich eine ganz neue Welt.
»Aber selbstverständlich, Liebste. Die kleine Bonin, die immer so heult, wenn ich mal ein bißchen meine Launen an ihr auslasse, kann ich doch nicht mitnehmen, und außerdem sollen Sie mir zur Seite stehen in diesem Kampfe, denn ich fürchte, es wird wieder einen geben. Sie wissen ja, daß ich mein Temperament so schwer zügeln kann.«
»Deshalb sollten Durchlaucht doch noch überlegen.«
»Nichts da. Wir reisen. Meine Migräne ist, dank Ihrer beruhigenden Gegenwart, schon wieder im Schwinden.«
»Und wenn der Fürst zürnt?«
»So werden wir ihn versöhnen. Dazu brauche ich Sie auch, Liebste. Also bitte, veranlassen Sie alles weitere. Kein großes Gefolge. Sie und der Kammerherr von Nidda, James und die Kammerfrau. Um 12 Uhr reisen wir. Ich will noch ein wenig ruhen. Veranlassen Sie, bitte, daß der Erbprinz noch zu mir kommt. Ich wünsche das Kind vor meiner Abreise zu sehen.«
»Haben Durchlaucht sonst noch Befehle?«
»Nein, liebste Witta, es tut mir ja leid, daß ich Sie Ihrem bräutlichen Glück hier entreiße, aber Exzellenz v. Borghammer werden schon etwas Nachsicht haben müssen, solange wir Sie noch die Unsere nennen. Später müssen wir sowieso Sie viel entbehren.«
Die Fürstin lächelte Witta noch einmal huldvoll zu, dann hatte die Baronin das Zimmer verlassen, und die Fürstin murmelte leise vor sich hin:
»Es ist mir ganz unbegreiflich, daß der Fürst diese Wuthenow nicht liebt. Wenn ich ein Mann wäre, ich wäre rettungslos in sie vernarrt. Sie wäre übrigens die Einzige, die ich ihm verzeihen könnte, natürlich nur in scheuer Entfernung.«
Ging nicht Lachen, ein hohnvolles Lachen durch die Hallen und Gänge des Residenzschlosses zu Büsingen? Die Fürstin träumte vor sich hin. Auch sie dachte an die blauen Berge mit den schimmernden Schneemänteln, und als man den Erbprinzen brachte, einen klugen, aufgeweckten, achtjährigen Knaben mit großen, leuchtenden Blauaugen, da hatte sie bereits vergessen, warum sie den Knaben zu sehen verlangt. Ihre Gedanken waren schon weit da drüben im flimmernden Engadin, dem sie noch heute entgegenflog.
Der Erbprinz legte sein kleines Gesicht zärtlich gegen der Fürstin Wange und fragte warm:
»Haben alle Kinder eine Mutter und einen Vater, die immer fort sind?«
»Nein, nicht alle, Arno.«
»Dann möchte ich lieber da sein, wo die andern Kinder sind, die Mutter und Vater immer haben.«
Die Fürstin küßte das Kind und preßte es einen Augenblick fest an ihre Brust.
Etwas besaß sie doch noch in diesem Kinde. Etwas Großes, Heiliges! Das konnte ihr niemand nehmen, wenn auch sonst ihr Leben so bitter arm und einsam war auf der stolzen Warte, auf die das Schicksal sie gestellt.
Als der Tag sich neigte und die Nacht still verschwiegen heraufdämmerte, führte der Eilzug die Fürstin und ihr Gefolge dem Süden zu.