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Wir haben wieder einmal die »große Woche« hinter uns, diese »große Woche«, die mit dem »Grand Steeple« in Auteuil beginnt und mit dem »Grand Prix« in Longchamps endet. Eine alte Sage behauptet, daß am Morgen nach dem »Grand Prix« die Herrschaften, die auf ihren guten Ruf halten, und die Damen, die von ihrem schlechten Rufe leben, die Reisekoffer packen; aber in Wahrheit hat es fast niemand so eilig. Nur ein paar Villenbesitzer ziehen mit Bedauern nach Ville 179 d'Avray und Saint-Germain, und ein paar Magenleidende fahren nach Karlsbad.
Eine der berühmtesten Programmnummern der »großen Woche« ist das Rennen um den »Prix des Drags«, das auf der Rennbahn von Auteuil stattfindet. An diesem Tage versammeln sich um halb zwei Uhr mittags auf dem Konkordiaplatz vor dem »Cercle de la Rue Royale« die Mail-Coaches, deren Besitzer zu dem berüchtigt vornehmen »Cercle des Guides« gehören, und all die Mail-Coaches fahren dann in geordnetem Zuge durch die Champs-Elysées nach Auteuil. Am vorigen Donnerstag fanden sich auf dem Konkordiaplatz zwölf Mail-Coaches ein, von denen die einen mit vier gleichfarbigen Pferden, die anderen »über Kreuz« mit zwei dunklen und zwei hellfarbigen bespannt waren. Die Pferde hatten Blumen an den Ohren, die kutschierenden Besitzer hatten graue Zylinder auf dem Haupt und die übrigen Herren schwarze. Die Damen hatten sich so hübsch wie irgend möglich gemacht und natürlich hatte jeder Coachbesitzer nur Damen eingeladen, die durch ihren Namen, ihre Eleganz oder ihren Liebreiz eine solche Auszeichnung verdienten. Als der Präsident des Cercle das Signal gegeben, setzten sich die zwölf schweren und dicht befrachteten Wagen in Bewegung; alles ging glatt, nur ein schamloser Vordergaul galoppierte, statt zu traben, und dem unglücklichen Besitzer dieses niederträchtigen Pferdes rann unter dem grauen Zylinder der Angstschweiß über die Stirn.
Dann kam gestern der »Grand-Prix«, der Himmel war grau, aber die Damen leuchteten in allen Farben, und die ältesten Fregatten hatten wieder alle Wimpel 180 aufgehißt. In der riesigen Armee der Demimonde herrschte ein Überfluß an gewaltigen Hüten mit grünen, weißen und blauen Straußenfedern und ein empörender Mangel an hübschen Gesichtern. Man sah auch wieder die unangenehm kostbaren Spitzenkleider, die mit hochmütiger Gleichgültigkeit über den Kies gezerrt wurden, die zierlichen Mäntelchen aus Seide, die nach alten galanten Bildern kopiert scheinen, und besonders sehr viel Blau in allen Schattierungen. Die Damen, die über die Fünfzig hinaus waren, zeigten eine Vorliebe für das unschuldige Himmelblau.
Und nun wären wir, Gott sei Dank, einmal wieder so weit! Noch denkt niemand ans Abreisen, aber die Herren dürfen nun selbst am Nachmittag ein kleines Hütchen oder einen Panama aufsetzen, und bald kommt die Zeit, wo der Mensch eine große Sehnsucht nach dem Busen der Natur verspürt. Es kommt auch bald die Zeit, in der all die üblichen Pariser Sommergäste wieder auftauchen: die Engländer mit den ewigen Reisemützen und der junge ostpreußische oder sächsische Schwerenöter mit dem geröteten Gesicht, mit dem blonden Schnurrbärtchen, mit der plattgepreßten Schutzkrawatte vor dem Oberhemde und mit Lenchen aus der Friedrichstraße am Arm. In umfangreichen, von vier Pferden gezogenen Kremsern fahren die von Cook zusammengespannten englischen und amerikanischen Reisegesellschaften zum Luxembourg, zu Notre-Dame und zum Grabmal Napoleons, und vor der Venus von Milo im Louvre halten die bedauernswerten Führer ihren auswendig gelernten Vortrag. Und am Abend treffen sich all diese interessanten Erscheinungen auf den 181 dunstigen Boulevards, betrachten einander mit prüfenden Blicken, und Lenchen sagt verächtlich: »Es is ja gar nicht so schlimm mit ihrer Eleganz!«