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Georges Clemenceau, der nach so wechselvollen Erlebnissen ein viel bewunderter und viel angefeindeter Minister geworden ist, wird häufig jenen Persönlichkeiten beigezählt, die nach einem Worte La Bruyères »composent seuls toute leur race«, die in besonders glänzender Weise die eigentümlichsten Züge ihrer Rasse verkörpern. Die Wahrheit ist, daß ein einzelnes Individuum immer nur einige wenige Züge eines großen und sehr gemischten Volksstammes aufweisen kann, und daß auch Clemenceau weder mit dem nüchtern phlegmatischen, noch mit dem still arbeitsamen, noch mit dem schwärmerischen und schnell begeisterten Franzosen geistig verwandt ist. Aber Clemenceau besitzt eine Reihe von Eigenschaften, die urfranzösisch sind: den blendenden Witz, die schneidende Ironie, den verblüffenden Elan, die künstlerische und gesellschaftliche Verfeinerung, das kalte Feuer und die rastlose, sprudelnde Lebendigkeit. Es wäre falsch, wenn man behaupten wollte, die Franzosen wären wie er. Es ist richtig, wenn man sagt, daß nur ein Franzose so sein kann.
139 Für diesen Mann, der nun bald das fünfundsechzigste Lebensjahr erreicht haben wird, ist es eine unabweisbare Notwendigkeit, seine Kräfte zu üben und sie den anderen zu zeigen. Er braucht einen Gegner, den er bekämpfen und, wenn möglich, niederstrecken kann, und er wäre unglücklich an dem Tage, wo alle Zeitgenossen sich zu seinen Ideen bekennen würden. Seiner tatendurstigen Natur ist jede Art der Bewegung notwendig und willkommen, die körperliche Bewegung so gut wie die geistige, und noch vor wenigen Jahren hat man sehen können, wie er die wildesten Pferde einritt und die geschicktesten Degenfechter überwand. Figuren wie er erinnern bisweilen an die Generation der Fronde, an »diese große und starke Generation vor Ludwig XIV.«, deren Lob Sainte-Beuve in zahllosen »Causerien« gesungen hat, und die so viel kritischen Scharfblick mit so viel Ehrgeiz, so viel philosophische Sehergabe mit so viel eitlem Glanzbedürfnis vereinigte. Geleitet durch seinen klaren kritischen Sinn, hat Georges Clemenceau immer die Schwächen seiner Mitmenschen erkannt, und gedrängt von seinem Kraftgefühl, seiner Kampflust und seiner Herrschsucht, ist er der Schrecken aller Regierungen, der parlamentarische Massenmörder geworden. Eines Tages vernichtete er in eifersüchtiger Zerstörungswut den besten republikanischen Staatsmann, Jules Ferry. Er verzieh nur selten die Fehler leitender Minister und nicht immer ihre Vorzüge.
Es war interessant, zu beobachten, wie er sich benahm, als er ohne besonders schweres Verschulden durch die Panama-Affäre aus der politischen Arena vertrieben worden war. Er fühlte sich zuerst als Stoiker, vertiefte 140 sich in philosophische Studien, läuterte seine Seele, schrieb gedankenreife Bücher und verfaßte das kleine, vom feinsten skeptischen Geiste durchtränkte Drama »Le Voile du bonheur«, das in Paris mit Gemier und in Wien mit Kainz triumphierte und nur in Berlin unverstanden blieb. Aber die philosophische Milch konnte ihn nur erfrischen, nicht sättigen; hinter der weisheitsvollen Resignation lag die Kampflust auf der Lauer, und als die Dreyfus-Kampagne kaum begonnen, warf Clemenceau sich als einer der ersten ins Getümmel. In diesen Tagen, in denen er den parlamentarischen Turnieren fernbleiben mußte, verausgabte er den Überschuß an Kraft, so gut es eben ging, und ich erinnere mich an eine Probe des »Voile du bonheur« im Theater de la Renaissance, bei der er mit fast leidenschaftlicher Energie über ein paar gleichgültige Dekorationseffekte debattierte. Er wollte irgendein buntes Dekorationsstück besser zur Wirkung bringen, und er lief auf der Bühne hin und her, schob, rückte, baute und dirigierte und suchte uns anderen die Wichtigkeit seiner Änderungen zu beweisen. Er packte das bunte Versatzstück mit demselben Eifer an, mit dem er früher die Ministerien bei der Gurgel gepackt hatte, und im einen wie im anderen Falle gehorchte er den gleichen Gesetzen, den gleichen Anforderungen seiner tatkräftigen und eigenwilligen Natur.
Die Jahre, in denen er mehr mit Plato als mit den Parlamentariern verkehrte, haben vielerlei Spuren in ihm hinterlassen, und sein Geist ist zwar reicher, aber auch skeptischer und vorsichtiger geworden. Ich habe ihn nicht gekannt, als er die opportunistischen Minister 141 niedersäbelte und sein Kraftwort sprach: »La Révolution est un bloc«, und es kann sein, daß er damals wirklich ein »Mann aus einem Gusse« gewesen ist. Aber die Männer aus einem Gusse haben, in der Nähe besehen, gewöhnlich einen Sprung, die »große und starke Generation vor Ludwig XIV.« war nicht an allen sieben Tagen der Woche groß und stark, und Georges Clemenceau besaß vielleicht immer mehr die Kühnheit des Wortes und der Geste als die höhere Kühnheit des Gedankens. Seine kaum mittelgroße Gestalt ist jetzt gedrungener und derber geworden und durch einige Fettpolster abgerundet, sein interessanter Mongolenkopf mit den vorstehenden Backenknochen, den asiatisch geschlitzten Augen und dem kurzborstigen grauen Schnurrbart hat noch immer etwas Raubtierhaftes. Aber dieses Raubtier begnügt sich damit, von Zeit zu Zeit einen Gegner zu verspeisen und knurrend seine Überlegenheit zu zeigen. Es träumt keine unmöglichen Träume, es kennt genau die Grenzen des Gesellschaftskäfigs, und es rennt nicht mit der Stirn gegen das Eisengitter.
Georges Clemenceau, der einst hinter den Kulissen der Großen Oper die hübschen Tänzerinnen umliebelte und in den Salons mit seinem leichten Boulevardwitz sich und andere amüsierte, hat heute eine Abneigung gegen laute Freuden und schimmernde Festsäle. Er hat die Ministerräume an der Place Beauveau nicht bezogen, hat diese schönen Gemächer seinem Unterstaatssekretär überlassen und ist in seiner Wohnung weit draußen in Passy, jenseits des Trocadero in der Rue Franklin geblieben. Sein Heim ist geschmückt mit Möbeln aus dem achtzehnten Jahrhundert, mit Büchern, 142 Bronzen und Bildern, und er hat das alles mit dem angeborenen, nie irrenden Geschmack des alten Parisers, des alten Kulturmenschen geordnet. Die Bibliothek, in der viele kostbare Ausgaben aufgereiht sind, füllt drei Zimmer des Hauses, und beim Umherwandern entdeckt man Bilder von Carrière, eine sonnige Felsenlandschaft von Monet, den Balzac-Kopf und zwei andere Werke von Rodin. Man entdeckt auch viele kleine Figuren und Skulpturenfragmente, die Clemenceau bei seinen Reisen in Griechenland erworben – denn er ist ein begeisterter Griechenfreund und hat das Land seiner Liebe dreimal mit zärtlicher Gründlichkeit durchforscht. In seinen Erholungsstunden greift er immer wieder zum Homer und zu den Schriften der Alten, und daneben verehrt er die Franzosen des 17. und 18. Jahrhunderts, und vor allen anderen Racine. Für die modernen Schriftsteller hat er nur wenig Interesse, mit den neuesten Romanen ist er ganz und gar nicht vertraut, und er ist nicht neugierig zu wissen, was heute gedichtet wird.
Von seiner Gattin, einer Amerikanerin, ist er seit vielen Jahren geschieden. Er hat einen Sohn, zwei schöne und geistvolle Töchter und fünf Enkelkinder, von denen er die kleine brünette Colette, seine einzige Enkelin, ganz besonders verhätschelt. Obwohl er immer ein großer Chauvinist war, hat er nicht nur selber eine Ausländerin geheiratet, sondern auch seinen väterlichen Segen gegeben, als sein Sohn sich aus Ungarn eine Frau holte. Sein Chauvinismus ist mit den Jahren etwas milder und ruhiger geworden, aber es unterliegt keinem Zweifel, daß er das heutige Deutschland nicht 143 gerade liebt. Er liebt es nicht, weil er noch zu denen gehört, die 1870 von den Pariser Wällen den Ansturm der deutschen Divisionen gesehen, und er liebt es auch nicht, weil ein alter, in demokratischen und liberalen Anschauungen erzogener Republikaner für das kulturwidrige Treiben preußischer Minister und für die byzantinische Schweifwedelei mancher »Untertanen« naturgemäß einen tiefen Widerwillen empfinden muß. Die Sympathien der politisch selbständigen Völker können uns durch keine Bankettreden und durch keine künstlichen Mittel für die Dauer gewonnen werden. An dem Tage, an dem das deutsche Bürgertum erwachen, an dem Tage, an dem es an die Stelle eines Scheinkonstitutionalismus ein wirklich modernes Verfassungsrecht setzen wird, an dem Tage – aber nicht früher – werden die demokratischen Bürger Westeuropas und Amerikas sich uns wahrhaft verwandt fühlen.
Georges Clemenceau ist immer ein Frühaufsteher gewesen, und er hat diese gute Gewohnheit auch im Alter beibehalten. Er erhebt sich im Winter wie im Sommer um fünf Uhr und setzt sich sofort an seinen Schreibtisch. Durch die stets geöffnete Tür dicht gegenüber dem Arbeitstisch blickt er in seinen Garten hinaus, und wenn es kalt ist und das große Holzfeuer im Kamin ihn nicht genügend erwärmt, zieht er eine Decke über die Knie und läßt sich eine mächtige Wärmflasche unter die Füße legen. Bisweilen nimmt er inmitten der Arbeit den Revolver aus dem Schubkasten, zielt einen Augenblick und drückt los. Er hat im Garten eine Ratte bemerkt, die seine Blumen zernagt und seinen 144 Hühnern und Enten nachstellt, und er tötet sie mit unfehlbarer Sicherheit. Seine beiden Hunde, ein Foxterrier und ein Bullterrier, die unter dem Schreibtisch lagerten, fahren auf und stürzen bellend in den Garten. Und der Fox, der auf diesen Sport in langer Übung dressiert ist, kommt triumphierend und aufgeregt mit der Jagdbeute zurück.
Der Garten, die Blumen und die Bäume, die Hühner und die Enten sind heute, nachdem soviel andere Leidenschaften sich abgekühlt, Clemenceaus höchste Freude. Auf einem nicht übermäßig großen Streifen Erde hat er eine ganze Landwirtschaft vereinigt, und er ist sehr stolz, wenn er die Früchte seines Feigenbaumes, seines Aprikosenbaumes und seiner Weinspaliere auf die Tafel bringen kann. Er besitzt neunzig Hühner, hat einen Taubenschlag errichten lassen und zieht mit Geduld und Verständnis seltene Entenarten auf. Noch enger, als hier im Garten das Federvieh beieinander haust, wohnen in Clemenceau die verschiedensten Empfindungen beieinander: dieser eigensinnige, herrschsüchtige und temperamentvolle Streithahn ergötzt sich an dem idyllischen Gurren der Tauben.
Seid einigen Jahren sind die befiederten Haustiere beinahe seine einzigen intimen Freunde. Er pflegte früher Politiker und Künstler an seiner Tafel zu versammeln; Manet, der ihn zweimal gemalt hat, stand ihm nahe, aber fast alle diese Männer sind ins Jenseits abberufen worden. Zuletzt starb, vor einigen Wochen, sein wundervoller Freund Carrière, diese große, stolze Künstlerseele, und heute bleiben von dem ganzen Kreise nur Rodin und der Geschichtsprofessor Aulard 145 zurück. Das Haus hat sich geleert, die Gäste, die dort zugelassen werden, sind weniger zahlreich, aber der Hausherr fordert genau so streng wie in früheren Tagen eine vorzügliche Tafel und eine musterhafte Bedienung. Dieser alte Demokrat ist ein Genußmensch geblieben, der mit Pariserischer Lebekunst an allen guten Gaben der Kultur, des Geistes und der Küche Vergnügen hat. Dieser alte Republikaner ist ein Tyrann, der in seinem Ministerium schroff auf Ordnung hält, und dessen Kammerdiener mit vollendeter Korrektheit seine Pflicht tut.
Es ist sehr leicht, die glänzenden Fähigkeiten Clemenceaus zu schildern, es ist sehr schwer, über seine Persönlichkeit ein gerechtes Urteil zu fällen. Er ist einer der geistreichsten, blendendsten Redner, der geschickteste, fortreißendste Parlamentarier und durch den klaren Fluß seiner Sprache, den amüsanten Wechsel seiner Einfälle, die frische Verve seiner Angriffe und die logische Schärfe seiner Beweisführung wohl der größte polemische Journalist unserer Tage. In seiner Persönlichkeit sind kühler Egoismus und idealistisches Streben, hochfahrender Stolz und echtes Freiheitsgefühl, rasche Kühnheit und kluge Vorsicht, Launenhaftigkeit und Überzeugungstreue so eng gepaart, daß man sich vergeblich bemühen würde, sein Porträt mit wenigen Worten zu zeichnen. Auf den Bildern der florentinischen Klostermaler schickt der Weltrichter die Sünder ins Fegefeuer und die Musterknaben in den Himmel. Wenn am Jüngsten Tage Georges Clemenceau vortreten wird, um Lob oder Strafe zu empfangen, dann wird der Weltrichter zögern und unschlüssig das Haupt wiegen. 146