Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Sieg des »tutu«

Vor der siebenten Kammer des »Tribunal Civil« ist soeben nach langen Verhandlungen ein Prozeß zu Ende gegangen, der von weittragender, kulturgeschichtlicher Bedeutung war. Fräulein Eva Sarcy, die im Ballettkorps der Großen Oper ein »premier sujet« gewesen, war von den Direktoren der Gaîté als »étoile« oder als Primaballerina engagiert worden und sollte in der Oper »Hérodiade« tanzen. Die Brüder Isola, die Direktoren der »Gaîté«, hielten sehr auf historische Treue und verlangten, daß Fräulein Sarcy den traditionellen Gazeröckchen entsagte und in einem Kostüm von mehr historischem Schnitt und Charakter erschiene. Fräulein Sarcy erklärte, daß diese Forderung ihre Ehre und die Ehre ihres Standes verletzte, daß eine Primaballerina nur in Gaze zu tanzen vermöchte, und daß den Balletteusen die Beine gegeben wären, um sie zu zeigen. Im Kostüm zu tanzen, wäre Aufgabe der »danseuse de charactère«, der »Charaktertänzerin«, und eine Primaballerina hätte mit Treue durchaus nichts zu schaffen, und am wenigstens mit historischer.

Man wird das Aufsehen, das diese Streitfrage erregte, nur dann ganz richtig begreifen, wenn man weiß, welche soziale Stellung das Ballett hier einnimmt, und welche Liebe und Verehrung es genießt. Das Ballettkorps der Großen Oper, das während der Pausen in dem berühmten Ballettfoyer hinter den Kulissen die Huldigungen der männlichen Abonnenten und der privilegierten Kunstfreunde entgegennimmt, bildet eine 154 streng geordnete Hierachie, in der man ganz unten die kleine »Ratte« und dann höher hinauf die Mitglieder der zweiten und ersten »Quadrille«, die »Koryphäe«, »petit sujet«, »sujet«, »premier sujet« und »étoile« unterscheidet. Die Mitglieder der zweiten Quadrille haben sehr häufig noch eine Herzensneigung, die Mitglieder der ersten haben bereits ein eigenes Automobil, und die Ansprüche steigern sich in jeder Rangklasse dieses weiblichen Mandarinentums. Genau wie die »Académie française« mit ihren unsterblichen Literaturpreisen, ist das Pariser Ballettkorps vor allem ein Hort der Tradition, eine Priesterschaft, die den Geist der Überlieferung behütet. Und die Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern des Balletts und den Mitgliedern der Akademie ist auch sonst unverkennbar: denn bekanntlich muß jeder, der einen Akademiesitz erobern will, bei allen Akademikern und bei vielen anderen Leuten einen Kandidatenbesuch machen, und sein Erfolg hängt viel weniger von seinen literarischen Leistungen ab als von der Kraft seiner Beine.

Das Ehrenkleid des Akademikers ist der grüne Palmenfrack, das Ehrenkleid der Balletteuse ist das Gazeröckchen oder, wie man in Paris sagt, der »tutu«. Immer wieder, wenn man von Dingen spricht, die mit einer leichteren Art von Kunst oder von Liebe und Leben zusammenhängen, bemerkt man, daß in der deutschen Sprache dafür die Worte fehlen, und so ist man gezwungen, eine Sache als »Rock« zu bezeichnen, die doch eigentlich einem Rock gar nicht ähnlich sieht. Der Franzose sagt »tutu«, gesprochen »Tütü«, und diese beiden Silben erinnern an wiegendes Vogelgefieder und 155 veranschaulichen die etwas komische Grazie des Objektes. Ist der »tutu« ein Rock, der zu hoch hinaufgerutscht, oder ist er ein Kragen, der zu tief hinuntergefallen ist? – es ist schwer, das zu entscheiden. Dort, wo er sitzt, ist er nur ein verlängerter Gürtel, und die Balletteusen scheinen in diesem Gürtel jene männerüberwindende Kraft zu vermuten, die einst Gudruns Zauberring besaß.

Der Prozeß zwischen den Brüdern Isola und Fräulein Sarcy, der zweimal vertagt wurde, füllte drei Gerichtssitzungen aus und gab den Advokaten der beiden Parteien Gelegenheit zu sehr viel geistvollen und scharfsinnigen Bemerkungen. Der Advokat der Ballerina kritisierte sehr eingehend das angeblich historische Kostüm, das Fräulein Sarcy hatte tragen sollen, und wies nach, daß die Ballettkunst und die geschichtliche Wahrheit sich nie miteinander verschmelzen lassen würden. Er erzählte auch, daß die berühmte Primaballerina Guimart in ihrem vierundsechzigsten Jahre noch einmal tanzen wollte, und daß, während sie tanzte, der Vorhang nur einen Meter hochgezogen war und ihre Büste verdeckte, und er schloß daraus, daß man bei einer Primaballerina zur Not das Obere verhüllen dürfe, aber nie das Untere. Der Advokat der Herren Isola verlas eine große Anzahl von Briefen, in denen Catulle Mendès, Massenet, Richepin und selbst der Verfasser der »Petites Cardinal«, Ludovic Halévy, den »tutu« als ein widersinniges Kleidungsstück bezeichneten. Alle großen Sterne, alle Meisterinnen und Künstlerinnen des Balletts dagegen eilten mit ihrem Zeugnis der Kollegin zu Hilfe, und ihr Eifer ließ erkennen, wie sehr ihnen die Forderung der Herren Isola, um eine vulgäre Wendung zu gebrauchen, in die Beine gefahren war.

156 Die Richter der siebenten Kammer haben nun endlich ihr Urteil gefällt, und sie haben Fräulein Sarcy und den »tutu« mit Ernst und Nachdruck in Schutz genommen. In ihrer langen »Begründung« sagen sie, »daß in Theatervorstellungen alles mehr oder minder unecht ist«, und daß »der »tutu« bisher stets als das traditionelle Kostüm der Primaballerina gegolten«. Man muß es den Richtern lassen, daß sie dieser Affäre eine Mühe und eine Aufmerksamkeit gewidmet, als hätte es sich um den Kopf und nicht nur um die Beine gehandelt, aber jeder wahre Ballettfreund wird auch zu ihrer Entscheidung applaudieren. Das Ballett hat nur solange noch eine Bedeutung, als ihm der Reiz der Tradition erhalten bleibt, und überall dort, wo man die Tradition zerstört hat, hat man das Ballett erniedrigt und versimpelt. Gewiß, der »tutu«, der halb Rock und halb Kragen ist, wirkt wie ein schlechter Witz, aber alles, was die Ballettschneider erfinden könnten, würde immer wie ein Witz scheinen, und die erträglichsten Witze sind noch immer die kürzesten.

 


 << zurück weiter >>