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Die Zeitungen haben gemeldet, daß man in den unergründlichen Lagerräumen des Louvremuseums ein Pferd gefunden, ein ausgestopftes Pferd, das sich mehrere Jahrzehnte lang zwischen den ausrangierten Bildern und den Marmorfragmenten herumgetrieben. Dieses Pferd war angeblich in vergangenen schönen Zeiten das Schlachtroß Napoleons, es stand in dem Rufe, an der Schlacht von Waterloo teilgenommen zu haben, und es war, was sich weit sicherer feststellen ließ, im Jahr 1842 von einem Herrn Greaves der National History Society in Manchester geschenkt worden. Die National History Society übersandte im Jahre 1868 den Gaul mit einem herzlichen Begleitschreiben der Louvreverwaltung, aber es scheint, daß die Konservatoren des Louvre auf diese Neuerwerbung nicht übermäßig stolz waren. Vielleicht sagten sich die Herren mit Recht, daß ein ausgestopftes Pferd zwischen der Venus von Milo und der Nike von Samothrake nicht ganz am richtigen Platze wäre; vielleicht auch peinigte sie der Gedanke, daß schon einmal ein Pferd sich als ein Danaergeschenk erwiesen hätte.
Obgleich über Napoleon so unendlich viel geschrieben worden ist, wissen wir doch so gut wie nichts über die Pferde, denen der Kaiser sich anvertraute. Die Memoirenschreiber, die Biographen und Anekdotensammler haben nach und nach die Hinterzimmer und die Schlafstuben der kaiserlichen Paläste sauber ausgekehrt, aber sie sind, soviel mir bekannt ist, nie in die Ställe 165 hinuntergestiegen. Wahrscheinlich war Napoleon, der ein etwas sonderbarer Menschenfreund war, kein sehr weichherziger Tierfreund; und wie er nacheinander die Völker und die Armeen aufrieb, dürfte er ohne Sentimentalität seine Pferde verbraucht haben. Er ließ nicht, wie Caligula das getan, sein Pferd zum Konsul ernennen, und während uns in Poesie und Prosa überliefert ist, daß Caligulas Pferd »Incitatus«, Rolands Renner »Veillantif« und Don Quichottes treue Schindmähre »Rosinante« hieß, meldet den Namen der Vierfüßler Napoleons kein vier- und kein fünffüßiger Jambus.
In der Homerstunde haben wir alle gelernt – die Lehrer pflegen mit besonderem Ernst darauf hinzuweisen – daß die Helden der Sage und der Weltgeschichte nicht auf Pferden, sondern auf Rossen reiten. Der mit Recht so populäre Direktor Lautenburg durchjagt des Morgens den Berliner Tiergarten auf einem Pferde, aber man spricht von den Rossen Achills und den wilden Rossen des Diomedes. Es wäre unrecht, wollte man dem Tiere, das bei Waterloo den Kaiser Napoleon auf seinem Rücken getragen, diesen Ehrentitel vorenthalten. Es gibt Leute, die ihr ganzes Leben lang verklärt herumgehen, weil sie einmal einer Prinzessin die Hand geküßt. Niemand kann leugnen, daß ein Roß, das mit Napoleon in so naher Berührung gewesen, in jeder Beziehung ungleich höher steht.
Obwohl die napoleonischen Geschichtschreiber uns über das Roß von Waterloo nichts Genaueres mitteilen, ahnen wir beim Lesen der Schlachtberichte doch, welche Strapazen es mit patriotischer Ausdauer erduldete. »Was man auch sagen möge,« schreibt der Akademiker Henry 166 Houssaye, »der Mann, der in sechsundneunzig Stunden – vom 15. Juni bis zum 19. Juni – kaum zwanzig Stunden der Ruhe brauchte und siebenunddreißig Stunden im Sattel blieb, war nicht niedergedrückt, nicht ohne jede Energie.« – »Napoleon, der (am 15. Juni) um drei Uhr morgens sein Pferd bestiegen hatte,« erzählt Thiers, »und erst um neun Uhr abends herunter stieg, der also achtzehn Stunden im Sattel geblieben war (obgleich das Reiten ihm durch eine Indisposition, an der er litt, erschwert wurde), genoß endlich einige Minuten der Ruhe, hörte, auf einem Bett liegend, die Berichte an und diktierte Befehle.« Und etwas weiter: »Napoleon hatte am 15. Juni achtzehn Stunden zu Pferde verbracht und ebensoviel am 16. Juni.« Und dann kam erst der 17., an dem auch nicht gefeiert wurde, und schließlich der 18., der eigentliche Schlachttag, an dem die napoleonische Periode ein Ende mit Schrecken nahm und Roß und Reiter den Rückzug antraten . . .
Wer möchte sagen, was das Roß Napoleons in diesen Tagen aushielt, und was es empfand? Es dürfte sicher gefühlt haben, daß dem Kaiser nicht wohl war, daß er nicht wie sonst im Sattel saß. Wenn es zornig gespornt wurde, konnte es ahnen, daß Ney wieder einen Fehler begangen, daß Grouchy, dieser Grouchy, der alles retten sollte und der alles verdarb, mit seinen vierunddreißigtausend Mann noch immer nicht heranrückte. Es wurde plötzlich wie in Zorn und Schrecken zurückgerissen, und es begriff vielleicht, daß statt des saumseligen Grouchy der alte Blücher auf dem Schlachtfelde erschienen war. Und als der Abend kam, sah es sich eng umdrängt von dem schützenden Häuflein der Grenadiere, zwischen dem Pferde 167 Jeromes und dem Pferde des Bataillonschefs Martenot, auf der Straße nach Genappe, wo die Kugeln pfiffen, und wo man über Geschützteile und Tote hinüber mußte. Dann und wann galoppierten die preußischen Husaren heran, deren Pferde in Siegesfreude wieherten.
Auf dem Schlachtfelde, das der besiegte Kaiser an jenem Abend des 18. Juni so verließ, werden morgen einige französische Verehrer Napoleons ein Denkmal enthüllen, einen »verwundeten Adler«, den der jüngst verstorbene Maler und Bildhauer Gerome geschaffen hat. Alle Nationen, die an dem Kampfe beteiligt gewesen, haben Denkmäler dort aufgebaut, und nur die Franzosen waren bisher durch kein Erinnerungszeichen vertreten. Der Maler Detaille, die Akademiker Houssaye und Vandal und andere Leute werden schöne Reden halten, und einige werden vielleicht auseinandersetzen, was hundertmal erörtert worden: ob Napoleon hätte siegen können, und warum er nicht gesiegt hat. Keine Frage ist so müßig wie diese, da es ja völlig klar ist, daß Napoleons künstlicher Bau zusammenbrechen mußte, wenn nicht bei Waterloo, dann anderswo. Die Weltreiche sind erfreulicherweise nicht von dieser Welt, und der russische General Demianenkow, der neulich einem Journalisten gesagt hat: »Die Welt wird eines Tages zwischen Amerika und den slawischen Rassen unter der Leitung des russischen Volkes geteilt sein«, ist zwar gewiß kein Napoleon, aber reif für ein Waterloo.
Man hat zur Feier des Tages alle Überbleibsel von Waterloo hervorgesucht und hat außer dem Rosse Napoleons eine hundert Jahre alte Frau aufgestöbert, die behauptet, daß sie als kleines Mädchen die Schlacht 168 mit angesehen habe. Sie weiß indessen nur zu erzählen, daß am Morgen nach dem Kampfe die »Hyänen des Schlachtfeldes« den Toten und Verwundeten die Finger abschnitten, um die Ringe zu rauben, und vielleicht hat sie auch das gar nicht selbst gesehen und spricht nur nach, was sie oft gehört hat. Es schien mir lohnender, eine Persönlichkeit aufzusuchen, die inmitten des Kugelregens gestanden, und ich machte mich auf, um das Roß Napoleons, das Roß von Waterloo kennen zu lernen. Im Louvremuseum erklärte man, daß es vor einer Woche in das Museum der Armee gebracht worden, und so ging ich zum Museum der Armee.
Wo konnte das Roß Napoleons sich wohler fühlen als in diesem Museum der Armee, in dem unvergleichlichen Invalidenpalast, dicht neben der Stätte, wo in seinem pompösen, feierlichen Marmorgrabe Napoleon selber von Siegen und von Niederlagen ausruht? Ich ging durch all die Säle, die mit Uniformen, Waffen, Bildern, mit tausend kriegerischen Erinnerungen gefüllt sind, plauderte mit all den alten, treuherzigen und schon ein bißchen eingeschlafenen Invaliden, die diese Schatzkammer behüten, aber ich fand nicht das Roß. Schließlich stieg ich, von der vergeblichen Entdeckungsreise ermüdet, zur Wohnung des Feldwebels hinauf und klopfte an.
Die junge, reizende Frau des Feldwebels öffnete im Unterrock und entfloh erschrocken, verschämt und kichernd. Ihr auch noch jugendlicher Gatte zog in aller Eile den Uniformrock an und entschuldigte sich mit unendlicher Liebenswürdigkeit wegen dieser allgemeinen Unordnung, die doch sicherlich sehr triftige Gründe gehabt hatte. So diskret wie möglich lenkte ich ab und fragte nach 169 dem Rosse Napoleons. Der jugendliche Feldwebel lächelte, knöpfte den Uniformrock zu, schüttelte leicht den hübschen Kopf mit dem blonden Schnurrbart und entgegnete: »Das Roß Napoleons? Glauben Sie wirklich, daß es das Roß Napoleons ist?«
Er erzählte mir, daß das Tier in seiner Kiste läge und noch nicht ausgepackt werden dürfte. Es sei ein grauer Araber, was ein wenig für seine historische Bedeutung sprechen würde, denn alle Waterloobilder zeigen Napoleon auf einem grauen Rosse. Die Gelehrten des Armeemuseums hätten auch festgestellt, daß dieser Vierfüßler zum kaiserlichen Marstall gehört hätte, aber sie bezweifelten, daß er je das Roß Napoleons oder gar das Roß von Waterloo gewesen. Vielleicht hätte den von der englischen Society geschenkten Grauen ein kaiserlicher Stallmeister geritten, und wahrscheinlich hätte er in den Tagen von Waterloo ruhig und friedlich an seiner Krippe gestanden. Irgend ein englischer Offizier mochte ihn nach dem Einzuge Wellingtons und Blüchers in Paris gekauft haben.
Der freundliche Feldwebel sagte das nicht alles genau so, er sprach diplomatischer und durchaus wie jemand, der dem Urteil der Gelehrten nicht vorgreifen will. Er lud mich auch ein, am nächsten Tage wiederzukommen, er wollte mit dem Konservator sprechen und die Kiste öffnen, aber ich lehnte dankend ab. Mit den historischen Legenden ist es wie mit spiritistischen Vorstellungen: wem der Geist erscheinen soll, der darf nicht zweifeln. Und es kann ja sein, daß die Geschichte von dem »Rosse Napoleons« auch etwas Wahrheit enthält; aber ich fürchte, ich fürchte, dieses Roß ist nur ein Pferd. 170