Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Frühlingsbilder

Zum ersten Male wieder seit Jahren haben wir einen richtigen Frühling, einen Frühling, der nicht zu heiß und nicht zu kalt ist, mit einem Wort: den berühmten Pariser Frühling. Im Bois und auf den Hügeln von Saint-Cloud und Mendon, in den Squares und den vielen öffentlichen Gärten, im Jardin du Luxembourg, im Parc Monceau, auf den Buttes Chaumont und in den Champs-Elysées leuchtet und schimmert in unerschöpflicher Fülle das helle, jugendfrische Grün, und auf den Quais an der Seine, auf den Boulevards und in all den breiten Avenuen spaziert man unter grünen, leicht im Winde bewegten Laubdächern. Es ist unbestreitbar ein sehr lieblicher Lenz.

Die Mütter, die auf dem linken Seineufer zu Hause sind, führen ihre Kinder in den großen Garten des Palais du Luxembourg. Unter den alten Bäumen, zwischen den geschwärzten Denkmälern längst vermoderter Königinnen und den noch säuberlich weißen Marmorbüsten Murgers, Baudelaires und anderer Poeten hopsen die kleinen Mädchen über das Springseil, bauen die kleinen Knaben aus den Gartenstühlen Eisenbahnzüge 75 und Burgen. Die Damen dieses soliden Stadtviertels, die Gattinnen der Professoren von der nahen Sorbonne und die Frauen der Kaufleute aus der Umgegend, sitzen plaudernd in harmonischen Gruppen beieinander und sticken Deckchen mit schwierigen und kunstreichen Mustern. An einer Stelle des Gartens spielen zwanzig oder dreißig ältere Herren, zufriedene Handwerksmeister, die in heiterer französischer Sorglosigkeit ihre Kundschaft warten lassen, ernst, würdevoll und in Hemdsärmeln Croquet, und zweihundert Gaffer, die an diesem Frühlingstage auch keinen Arbeitsdrang verspüren, machen ihre lobenden oder tadelnden Bemerkungen. Dann und wann kommt ein Student mit seiner stupsnasigen Freundin, die ihm hilft, Ovids »Liebeskunst« praktisch anzuwenden.

Wie in fast allen öffentlichen Gärten und fast allen Parkanlagen von Paris gibt es im Jardin du Luxembourg für die Kinder Karussells, Schaukeln, Kuchenbuden und einen Guignol. Der Guignol, das Kasperletheater, ist ein wenig aus der Mode, und die ewig gleichen Späße des Repertoires und die ewig gleichen Bewegungen der Puppen locken kaum noch die Zaungäste heran. Aber wenn der Regisseur des Puppentheaters die Trommel rührt, machen die unzähligen Kinder ringsumher im Garten noch vergnügtere Gesichter. Die kleinen Mädchen hopsen noch schneller über das Seil, das eine gute Großmutter dreht, die kleinen Knaben reiten Galopp auf den Gartenstühlen, die Hosenmätze stolpern, turkeln und trudeln eifrig durcheinander, und selbst die Babys in den Kinderwagen strampeln ausgelassen und beglückt. Von der Musik verlangt man in diesen Kreisen weniger Abwechselung als von der dramatischen Kunst.

76 Der Jardin du Luxembourg ist der Garten der Kinder und der Philosophen. Sainte-Beuve und Michelet promenierten, Erholung suchend, in diesen Alleen, und der alte Sylvestre Bonnard, dessen Abenteuer Anatole France geschildert, sitzt unter der Statue Margaretens von Navarra und hört zu, was die pietätlosen jungen Studenten schwatzen. Der Jardin du Luxembourg ist eine Welt für sich, er ist eine der tausend Welten, die zusammen Paris bilden. »In den entlegenen Provinzen«, hat Rousseau gesagt, »muß man den Geist und die Sitten einer Nation studieren.« Aber Paris selber umschließt heute so viele »entlegene Provinzen«, daß jeder, der den Geist der Nation zu studieren wünscht, sich die weitere Reise sparen kann.

Man muß schon lange durch die Welt fahren, wenn man zwei Schauspiele finden will, die verschiedenartiger, einander fremder wären als ein Frühlingsnachmittag im Jardin du Luxembourg und ein Frühlingsmorgen im Bois. Um diese Morgen, oder besser gesagt um diese Vormittagsstunden ist das Bois, das seinen Charakter mit jeder Tageszeit wechselt, das Paradies jener zahllosen Leute, die durch keine anderweitige Tätigkeit an der Befriedigung ihrer eleganten Neigungen verhindert werden. Die Equipagen sind am Morgen weniger zahlreich als vor der Dinerstunde, und das ungeheuerliche Wagengewühl, das sich am Sonntag und an den großen Renntagen stundenlang durch alle Alleen ergießt, darf man am Morgen nicht suchen. Aber dafür tritt am Morgen jedes einzelne Gespann, jede einzelne Figur deutlicher heraus, die Pferde traben freier, die Automobile sausen schneller, und ganze Schwärme von Reitern 77 und Reiterinnen galoppieren vorüber. Ein leichter Lufthauch kräuselt den langgedehnten See und schaukelt die Baumkronen auf den Ufern und die bunten Blumen auf der Insel; von den sauberen gelben Wegen und Fahrstraßen wirbelt noch kein Staub empor, und überall auf den grünen Blättern glitzern die Sonnenfünkchen wie die Silberpailetten auf einem Damenkleide.

In einer Allee des Bois, der sehr langen und breiten Allee de Longchamps, die gewöhnlich »Akazienallee« genannt wird, finden sich gegen elf Uhr die ehrenwerten Personen zusammen, die aus angeborener Neigung, oder aus praktischen Gründen Wert darauf legen, gesehen zu werden. Was um diese Stunde sich dort in Grazie produziert, ist weder die Pariser Gesellschaft noch selbst die höhere Pariser Demimonde, es sind zumeist nur Leute, die beweisen wollen, daß sie es nun auch so weit gebracht haben. In fürstlich bespannten Equipagen, in Automobilen, die jeden Kenner begeistern, sitzen zu schön frisierte Jünglinge mit parfümierten Schnurrbärten, Kollegen von Maupassants »Bel ami«. Kaum flügge gewordene Sprößlinge der Millionärsfamilien und fremdländische Debütanten, für die das alles noch den Reiz der Neuheit hat, paradieren blasiert oder strahlend vor der Damenwelt. Mit langwehenden grünen und grauen Schleiern oder mit flatternden rotgelben Federbüschen am Hut, perlenbehängt, steif, sorgfältig auf den Effekt bedacht, lenken die Vertreterinnen des galanten Großbetriebes ihre Pferde vorüber. Andere, unnatürlich rosig wie Wachsfiguren, genießen die Natur in geschlossenen Wagen, und alle, die Rosselenkerinnen und die Figuren im Glaskasten, haben zwei, drei oder vier Hunde bei 78 sich, ausstellungsreife Musterexemplare von Hunden. Und hin und wieder kommt eine ganz Alte, die der Welt mitteilen will, daß sie auch noch da ist, die sich den Wagen und den Rest geborgt hat, und so arm ist, daß ihr nicht einmal ihre Zähne gehören.

Würden nicht vergnügte Reiter auftauchen, die aus anderen Teilen des Bois herantraben, würde nicht eine junge Dame mit einem kleinen Dreispitz auf dem Haupt, die nach Herrenart reitet, mit ihrem Diener vorübergaloppieren, würden nicht auf den Wegen zu beiden Seiten der Straße auch noch Leute promenieren, und würden nicht die Vögel singen, man könnte wahrhaftig glauben, in einem Marionettentheater zu sein, in dem alles mechanisch geregelt ist. Nur in Konstantinopel, an den süßen Wassern, wo die immer lächelnden Haremsdamen in ihren großen Kutschen herumfahren, hat man eine ähnliche Empfindung. Martial hat gesagt: »Zwei Drittel von Messalina liegen in Schachteln aufbewahrt.« Die Akazienallee im Bois ist am Morgen bevölkert von Messalinen, und alle Schachteln sind dem Frühling zu Ehren ausgepackt.

* * *

Gar nicht weit vom Bois, dort, wo der Weg an den alten Stadtwällen entlang nach Neuilly hinüberführt, befinden sich eng nebeneinander zwei umzäunte Sportplätze, die beide über dem Eingang die fremdartige Aufschrift tragen: »Ratodrom«. Es ist wirklich merkwürdig, welche Berufszweige sich in Paris herausbilden, und wovon die Leute mitunter leben. Die Besitzer der beiden »Ratodrome« verdienen ihr tägliches Brot, indem 79 sie Ratten einfangen und dann für die herrschaftlichen Hunde, die sich das leisten können, genußreiche Rattenjagden veranstalten.

Zu diesem Zweck ist ein nicht allzu großes Terrain mit einem Drahtgitter umgeben, das hoch und dicht genug ist, um ein Ausbrechen des Wildes zu verhindern. Höhlengänge und Wassergraben sollen dazu dienen, die Jagd noch spannender und interessanter zu gestalten, und es muß in der Tat ein schöner Moment sein, wenn aus dem Inneren der Höhle das Todesquieken der Ratte heraufdringt. In einem erfreulicherweise dicht umgitterten Stall schlug, als ich den Ratodrom betrat, gerade die Gattin des Direktors mit einem Stock auf einen Haufen, der aus Mist, Lumpen und stinkenden Pferdedecken zu bestehen schien. Die Decken bewegten und wölbten sich unheimlich, und überall huschten und raschelten feiste, feuchte, graue und schwammige Lebewesen hervor, die Ratten der Frau Direktorin.

Es fand sich zum Glück ein Mann aus der Nachbarschaft, ein Stück Stallmeister oder Wagenverleiher, der seinem Hunde ein Jagdabenteuer gönnen wollte. Dieser Hund war ein struppiger Pudel, ein trauriger und häßlicher Pudel mit gutmütigen, sentimentalen Augen. Sofort war es klar, daß dieser Hund einen unsagbaren Widerwillen gegen Rattenjagden empfand, daß ihm das ganze Institut verhaßt und das Vergnügen durchaus kein Vergnügen war. Er versuchte wiederholt, zu entwischen, wedelte unruhig mit dem Schwanz, senkte das Haupt, und litt ersichtlich an absoluter Appetitlosigkeit oder gar an einem übrigens begreiflichen Übelbefinden.

Indessen, der Hund mußte wider seinen Willen das 80 Vergnügen auskosten und wurde auf das Jagdterrain gesetzt, nachdem ein Angestellter vorher eine Ratte losgelassen hatte. Die Ratte, die betäubt und lichtscheu zu sein schien, und der Pudel, der immer unglücklicher aussah, blieben jeder auf seiner Seite und suchten verstört nach einem Ausweg. Aber der Hundebesitzer fühlte sich bei diesem Anblick in seiner Ehre gekränkt und trieb den Pudel vorwärts, der nun mit dem Mute der Verzweiflung auf die Ratte lossprang, sie beim Fell packte und mit schmerzlichem Gurgeln würgte. Der Kampf war nicht sehr lang gewesen und nicht sehr rühmlich, und der Pudel ließ die Ohren hängen wie jemand, der im tiefsten Inneren sich seiner Handlungsweise schämt.

Ich weiß nicht, warum mir bei diesem Schauspiel Tolstoi einfiel und eine Stelle aus »Krieg und Frieden«, in der dieser größte aller Russen auseinandersetzt, daß die Armen sich immer sozusagen bewußtlos in den Kampf stürzen. Man redet ihnen immer ein, daß es ihr Jagdvergnügen sei, und jeder muß sich bei klarem Bewußtsein sagen, daß es eingeredetes Vergnügen ist. Aber während ich noch an Tolstoi und an »Krieg und Frieden« dachte, kam ich zur Porte Maillot, am Rande des Bois, und sah an einer Straßenecke eine jener Menschenmengen, die sich in Paris überall sammeln, wo einer der redseligen und amüsanten Marktschreier und Verkäufer seinen Standort gewählt hat. Einen Augenblick lang glaubte ich, daß der geschätzte Zeitgenosse, der ein Zahnpulver feilbietet und den Pariser Straßenjungen auf seinem hohen Podium die Zähne putzt, diese Menge versammelt habe. Doch das war, wie sich bald ergab, ein Irrtum.

81 Der Mann, der mitten in dem aufhorchenden Kreise stand, verkaufte, wie ich ohne lange Umschweife sagen möchte, ein Mittel zur Entfernung von Hühneraugen. Er hielt die übliche Ansprache, in der er betonte, daß die Geburts- und Geldaristokratie sich eifrig seines Mittels bediente, und daß die höchsten Persönlichkeiten sich flehend um seinen Beistand bemühten. Er hatte mehrere Stühle, auf denen verheißungsvoll einige ziemlich saubere Servietten lagen, vor sich hingesetzt und, nachdem er eine Weile lang gesprochen, forderte er die Umstehenden, die der Schuh drückte, eindringlich auf, Platz zu nehmen und sich die Operation gefallen zu lassen.

Eine Weile lang blieb alles stumm, und ein jeder blickte nur zweifelnd und unschlüssig auf seine Füße nieder. Dann löste sich, halb freiwillig und halb von dem Verkäufer gezogen, ein altes Weiblein aus der Menge, eines von jenen verschrumpelten alten Weiblein, jenen »petites vieilles«, die Baudelaire besungen hat. Die Alte stellte das Körbchen, das sie am Arme trug, auf die Erde, setzte sich auf einen der Stühle und zog mit zittrigen Händen den armseligen Rock ein wenig hinauf. Und immer zaghaft, altersschwach und zittrig, streckte sie den Fuß vor sich hin, den dürren Ast, an dem in diesen warmen Frühlingstagen ein neues Knospen begonnen hatte.

Ich will nicht sagen, wie der Verkäufer den Fuß von jeder Hülle befreite, und was es dabei alles zu sehen gab. Vielleicht hatte dieser Fuß einmal in seidenen Schuhen getanzt, vielleicht war er auch einmal fein und graziös gewesen, aber es war nichts davon übrig 82 geblieben. Nach der alten Frau nahm ein alter Mann auf dem Operationsstuhle Platz, und die Menge, die herumstand, blickte halb belustigt zu und halb neidisch. Dreihundert Schritte davon, im Bois, jagten die Equipagen und Automobile, gaben der Luxus, der Reichtum und die Eitelkeit eine glänzende Festvorstellung. Und die milde Frühlingssonne, die wie jede gute Regierung sich eines allgemeinen Wohlwollens befleißigt, streichelte unparteiisch die Pausbacken der Kinder, die Perücken der Messalinen und die großen Füße der kleinen Leute. 83

 


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