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Draußen veranstaltete ein köstlicher sonniger Herbst etwas wie eine Nachfeier des Sommers. Ich verspürte den Wunsch, in eine Gegend zu entfliehen, wo man nicht von Dreyfuß sprach, und wo der Herbstzauber die cause célèbre vergessen läßt. Ich nahm den ersten Zug, der nach Montmorency abging, und fuhr hinaus. In Montmorency, wo in der »Eremitage« der Madame d'Epinay einst Jean Jacques Rousseau wohnte, leben jetzt zur Sommerszeit viele Deutsche – meist Kommissionäre, die in Paris im Viertel des Nordbahnhofes wohnen und deswegen Montmorency sozusagen »vor der Tür« haben. Jetzt waren all die etwas feucht aussehenden Villen geschlossen, und man traf keinen jener lieben grauen Esel, auf denen im Sommer die jungen Mädchen in den nahen Wald traben.
Beinahe noch öder sah es in Enghien-les-Bains aus, das man von Montmorency in einer knappen halben Stunde erreicht. An dem schnurgerade abgesteckten, von Villen umgebenen See saßen nur drei Engländerinnen in ziemlich vorgeschrittenem Alter – die eine malte, die beiden 14 anderen lasen. Seltsam, wie dieser Ort, der vielen Pariser Familien im Sommer als Badeort dient, so ganz den englischen Charakter hat, und wie die Landschaft mit dem schnurgeraden, unter leichten Herbstnebeln schlummernden See zu den drei einsamen Engländerinnen paßte! Das Kasino, wo während der Saison das »Pferdchenspiel« floriert, war geschlossen. Und die letzten Blumen in den Kübeln auf der Terrasse sahen so melancholisch aus wie ein alter verwelkter Brautkranz.
Ich fuhr mit der elektrischen Bahn nach Montmorency zurück, um dann von Montmorency nach Saint-Leu zu gehen, das acht oder neun Kilometer weiter nordwestlich liegt. Man kommt durch die Orte Margency, Mangarny und Montlignon, hat die Waldhügel von Montmorency immer zur Rechten und erblickt zur Linken, weit hinten, als dunklen Abschluß einer großen Ebene, die bewaldeten Höhenzüge von Saint-Germain.
Und hier war er wirklich, der Herbstzauber. Die Landschaft hat hier nicht das allzu Gepflegte, Elegante, fast Parfümierte, das sie im Westen von Paris, bei Saint-Cloud, bei Ville d'Avray und bei Saint-Germain hat. Man ist mehr »auf dem Lande«. Aber auf welch einem Lande! Es gibt in der ganzen, so reichen Umgebung der großen Stadt wenige Plätze, die von einer so breiten, würzigen, kräftigen Schönheit wären wie dieses Tal zwischen den beiden Waldhöhen. Rousseau hätte in Saint-Germain nicht hausen können. Hier durchlebte er, was er später in den »Confessions« niedergeschrieben.
Man möchte das goldene Braun der Wälder auf den Höhen mit dem dunkelen Goldton Rembrandts oder 15 anderer Niederländer vergleichen, würde man nicht fürchten, durch diesen Vergleich den Eindruck von etwas Künstlichem zu erwecken und den vollen, warmen, natürlichen Reiz zu schmälern. Hier und da ragt der weiße Turm eines Landhauses aus dieser Waldpracht empor. Und wie ein zarter Schleier liegt der Herbstdunst über den Hügeln.
Die Landstraße unten im Tale führt abwechselnd zwischen großen, von grauen Steinmauern umhüteten Schloßgärten und zwischen Wiesen und Feldern dahin. Auf den Feldern liegen in langen Reihen die schweren, blauroten Kohlköpfe; auf den Wiesen schmiegen sich lange grüne und gelbe Gräser aneinander, weich wie im Winde wogendes Seidenhaar. Durch hohe Gitterportale sieht man in die Schloßgärten mit ihrer herbstlichen Einsamkeit. Eine breite, mit roten Blättern bestreute Buchenallee führt zum Schlosse, und unter den Bäumen steht ein marmorner Amor, der vergeblich nach einem Opfer für seine Pfeile sucht.
Saint-Leu ist eine kleine, stille Landstadt, wo die Menschen fleißig zur Kirche gehen, weil Vergnügungslokale nicht existieren. Die Priester wissen, weshalb sie Gegner der großen Städte, der »Wasserköpfe«, sind! Als ich nach Saint-Leu kam, fand gerade eine Beerdigung statt, die Beerdigung einer reichen alten Dame, und die meisten Frauen und Jungfrauen hatten die Gelegenheit benutzt, um sich schwarz zu kleiden, was ihnen in dem ewigen Einerlei ihrer Tage offenbar schon eine angenehme Abwechselung schien. Vor dem Café in der Nähe des Bahnhofes besprach der Wirt mit mehreren Gästen den Trauerfall und die Hinterlassenschaft. 16 Gegenüber, vor einem Kramladen, über dessen Tür zu lesen war: »Hier werden Fahrräder verliehen und repariert«, ließen ein magerer Jüngling und ein dickes Mädchen den Gummireifen ihrer Fahrräder neue Luft einpumpen. Das dicke Mädchen trug schwarze Hosen, die sich wie zwei große Ballons über den Knien wölbten. Und ein kleiner Bengel stand dabei, ein Eingeborener von Saint-Leu, und pfiff selbstzufrieden das alte Volkslied vom König Dagobert, der seine Hosen verkehrt angezogen hat:
»Le bon roi Dagobert
A mis sa culotte à l'envers.«
* * *
Wie ich so durch die Straßen dieses wenig aufregenden Städtchens schlenderte, entdeckte ich plötzlich hinter einem Gartengitter zwischen alten Bäumen ein verwittertes Denkmal. Es war ein ziemlich geschmackloser hoher Obelisk, zu dessen Füßen zwei steinerne Genien saßen. Ich fragte einen Mann, der vorüberging, was das für ein Platz und für ein Denkmal wäre. »Ach,« sagte er, »das ist das Schloß der Condé.« Er sagte es wie jemand, der versichert: »es ist nichts von Bedeutung«, und ging weiter.
Die Worte »das Schloß der Condé« enthielten eine leichte Übertreibung. Von dem Schlosse war nichts mehr zu sehen – es ist verschwunden und dort, wo es gestanden, sind jetzt Wohnhäuser, Stallungen und Schuppen aufgerichtet. Von der ganzen Herrlichkeit ist nur das Stückchen Park noch übrig, wo jetzt der Obelisk mit den beiden Genien steht.
17 Aber indem ich den Obelisk noch betrachtete, erinnerte ich mich . . . Richtig, hier war es, wo der letzte Prinz von Condé ermordet worden – hier in seinem alten Schlosse zu Saint-Leu! Welch eine »Cause célèbre« war das für das Publikum von 1830 gewesen!
Am Morgen des 27. August 1830 fand man den vierundsiebzigjährigen Herzog von Bourbon, Prinzen von Condé, in seinem Schlafzimmer am Fensterriegel hängend. Die Trösterin seiner alten Tage, die abenteuerliche, intrigante, lasterhafte und ehrgeizige Baronin von Feuchères – sie hieß mit ihrem Mädchennamen Sophie Dawes und stammte aus England – befreite mit Hilfe ihres Beichtvaters und einiger Diener den toten Greis von dem Strick, an dem er hing. Drei aus Paris gesandte Mediziner, Marr, Pasquier und Marjolin, gaben ihr Gutachten ab und schlossen auf Selbstmord.
Aber der vierundsiebzigjährige Fürst hatte nie daran gedacht, freiwillig, mit Hilfe einer Schnur und eines Fensterriegels, aus dem Leben zu scheiden. Er hatte dagegen in der letzten Zeit seines Lebens oftmals gefürchtet, man möchte ihn gegen seinen Wunsch und Willen ins Jenseits spedieren, und er hatte alle Vorkehrungen getroffen, um am Morgen des 28. August nach seinem Schlosse Chantilly zu fliehen, und von dort nach England. Wen er fürchtete? Seine Freundin Feuchères. Warum er sie fürchtete? Er hatte vor einem Jahre nach langem Kampf, nach langem Widerstreben, endlich besiegt durch die Feuchères, sein kolossales Vermögen – das Vermögen der Condé – dem jungen Herzog von Aumale, dem Sohne des Louis Philippe und der Marie Amélie, vermacht und zugleich 18 Saint-Leu, Boissy, die Wälder von Montmorency und Morfontaine als Erbteil der Feuchères bestimmt. Diese kluge Dame hatte sich gesagt, daß sie ihr eigenes Erbteil gegen die rechtmäßigen Erben nur würde verteidigen können, wenn sie mächtige Bundesgenossen hätte. So hatte sie das Vermögen der Condé dem Hause Orleans zugeführt – der geizige Louis Philippe und die gute Marie Amélie (nichts interessanter als ihr Briefwechsel mit der Feuchères!) wurden ihre Komplicen. Aber der Sturz des legitimen Königtums und die Rücksichtslosigkeit, mit welcher Louis Philippe seinen Vetter Charles X. behandelte, empörten den alten Fürsten von Bourbon, und er wollte nach England zu den Verbannten und dort sein Testament umwerfen. Da, am Morgen, wo er heimlich Saint-Leu verlassen wollte, fand man ihn tot am Fensterriegel . . .
Es kam zu einer Untersuchung, aber die Untersuchung wurde niedergeschlagen. Es kam trotzdem, auf Betreiben der Prinzen von Rohan, zu einem Prozeß, aber die Kläger wurden abgewiesen. Die Familie Orleans behielt das Vermögen des ermordeten Condé – Schloß Chantilly, das der Herzog von Aumale der Akademie hinterlassen, ist ein Teil davon – und Madame de Feuchères starb hochbetagt in jenem England, wo heute Esterhazy weilt.
Seltsam, es gab auch damals die drei Experten, auf deren Gutachten hin Madame de Feuchères freigesprochen wurde, wie heute Esterhazy auf das Gutachten der drei Experten Conrad, Belhomme und Varinard. Es gab auch damals den unerschrockenen Untersuchungsrichter, welcher »volles Licht machen« wollte: der Bertulus von 19 heute hieß damals de la Huproye. Und es gab den Generalprokurator Persil, welcher dem braven Huproye die Untersuchung abnahm, ganz, wie der Generalprokurator Bertrand sie Bertulus abgenommen. »Es gibt nichts Neues unter der Sonne«, hat der Philosoph gesagt. Und der weise Marc Aurel hat sich gewundert, daß uns die Ereignisse, die an uns vorüberziehen, immer wieder erstaunen: »Wenn man dir im Theater eine gleichmäßige Wiederholung derselben Vorgänge zeigt, langweilst du dich. Du müßtest das Gleiche während deines ganzen Lebens tun, denn in dieser Welt siehst du oben und unten stets nur die gleichen Wirkungen und immer dasselbe Spiel der ewig gleichen Ursachen. Ach, und das wird niemals enden!«
Gewiß, ich will die »cause célèbre« von heute nicht mit der »cause célèbre« von 1830 vergleichen. Die »cause célèbre« von damals war im Grunde nur ein interessanter Kriminalfall – heute steht ein ganzes Volk, von einer tragischen Schuld belastet, auf der Bühne. Aber vieles, was uns neu scheint, ist nur Wiederholung – Wiederholung aus der Affäre von 1830 oder aus anderen Affären. Und ich glaube auch, daß diejenigen, die fortwährend über »décadence« schreien, ein wenig den Theaterfreunden gleichen, die uns unablässig von einer früheren Blüte der Kunst erzählen, und denen vielleicht nur deswegen die Gegenwart so heruntergekommen scheint, weil sie die Vergangenheit nicht gesehen haben.
* * *
20 Natürlich – ich hatte Paris verlassen, um der »cause célèbre« zu entfliehen, und hier in Saint-Leu fand ich sie wieder. Wirf die Katze, wie du willst, sie fällt immer wieder auf die Füße. Drei kleine Mädchen standen hinter mir, streckten verlegen die Finger in die Nasen und wunderten sich, daß ich so lange den alten Obelisken betrachtete, an dem eigentlich gar nichts zu sehen war.
Und diese drei kleinen Mädchen waren nicht die einzigen in Saint-Leu, die von der alten Mordgeschichte, die vor siebzig Jahren so viel Staub aufgewirbelt hatte, nichts oder nur wenig zu wissen schienen. Schon der Mann, der mir die erste Auskunft über die Bestimmung des Obelisken gegeben, schien mit dieser Affäre nur höchst oberflächlich vertraut. Andere waren nicht besser unterrichtet. Sie wußten allenfalls so ungefähr, daß man den letzten Condé hier ermordet hatte – denn daß die Selbstmordshypothese der drei medizinischen Experten ein gefälliges Märchen war, haben spätere Enthüllungen sonnenklar ergeben.
Die herbstlich roten Blätter fallen von den Buchen auf den Obelisken und die zwei sitzenden Genien. Wie schnell ist das, was gestern eine »cause célèbre« war, vergessen! Aber das ist vielleicht sehr gut, sehr beruhigend und sehr erfreulich, und im höchsten Grade unerfreulich ist nur, daß mit der »cause célèbre« auch die Lehren, die sich aus ihr ergeben, so schnell vergessen werden.
Ich ging zum Bahnhof und kam wieder bei dem Café und bei dem Kramladen vorbei, wo Räder »verliehen und repariert werden«. Der magere Jüngling 21 und das dicke Mädchen waren mit frischer Luft davongeradelt. Aber vor dem Café standen noch der Wirt und seine Gäste. Diese Gäste waren aus Paris gekommen und erzählten jetzt von den letzten Vorgängen, den letzten Zwischenfällen der »Affäre«. Ich trat heran und mischte mich bescheiden in das Gespräch. Man sprach von Esterhazy und vom berühmten »Bordereau«. Die Pariser waren halb und halb überzeugt, daß Esterhazy der Verfasser des »Bordereau« wäre. Aber der Wirt schüttelte den Kopf und sagte mit der Bestimmtheit eines Mannes, der den Respekt vor den Wissenschaften zu einem Dogma erhebt: »Meine Herren! Sie vergessen das Urteil der drei Experten!« 22