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Jahre sind vergangen. Fast drei Jahre!
Käte hatte Wort gehalten. Sie wollte tapfer sein und sie ist es gewesen. Und der feste Wille hat ihr geholfen, den Eltern die schwere Zeit zu erleichtern.
Sie waren nach Stettin gezogen. Es war richtiger, als in Grabow wohnen zu bleiben. In der größeren Stadt konnten sie leichter untertauchen. Hier, wo sie ganz fremd waren, wurde es ihnen am leichtesten, sich einzuschränken und ganz still für sich und ohne jeden Verkehr zu leben. Hier konnte Edmund die Schule besuchen, und Käte das Seminar, damit sie sobald wie möglich zu einer Anstellung gelangen könne.
Auch Kätes sehnlicher Wunsch war, zu studieren und Ärztin zu werden. Aber der Wunsch hatte andere Beweggründe als bei Margarete Hagen. Er entsprang bei ihr aus dem echt weiblichen Gefühl, anderen helfen zu können. Der Gedanke war schon früher in ihr erwacht und nicht zum wenigsten hatte Friedel Münstermanns Erkrankung dazu beigetragen, diesen Wunsch in ihr zu wecken. Der Gedanke an das Studium hatte nichts Beängstigendes für sie. Im Gegenteil, sie war durch und durch ein Kind der Jetztzeit, ihrer Zeit, und fest davon überzeugt, daß die Frau ebensogut befähigt sei wie der Mann, ihre Geisteskräfte in jeder Beziehung, in jedem Beruf zu betätigen.
Aber sie mußte diesen Wunsch aufgeben. Und daß sie es tat, darin lag der Unterschied zwischen den Charakteren der beiden Mädchen. Käte konnte sich opfern für andere. Sie konnte eigene Wünsche aufgeben, Rücksichten auf andere nehmen und alles dies gern und willig tun aus Liebe, aus kindlicher Liebe für die Eltern. Das Studium hätte zu lange gedauert und zu viel Geld gekostet. Sie mußte sobald wie möglich fertig werden, um den Eltern nicht zu viel zu kosten und bald selbständig zu sein.
Und so entschloß sie sich nach schwerem Kampfe, Lehrerin zu werden. Lehrerin! Ein Beruf, vor dem ihr immer gegraut hatte.
Unartige Gören zu unterrichten, womöglich Tag und Nacht fremde Kinder bei sich zu haben und zu erziehen, der Gedanke war ihr stets furchtbar gewesen.
Sie wußte aus eigener Erfahrung, wie sie ihre Erzieherinnen manchmal aus kindlichem Trotz und Übermut geplagt hatte.
Aber schließlich, was half's! Es galt rasch und bestimmt sich zu entschließen und so machte sie einen Strich durch ihre Hoffnungen und Wünsche und bereitete sich zum Lehrerinnenexamen vor.
Jetzt war sie fast neunzehn Jahre alt. Das Examen stand bevor, und sie war doch ein wenig aufgeregt, ob sie es bestehen würde.
Edmund, der vierzehn Jahre alt war, machte den Eltern viel Not. Er war in der Schule derselbe Träumer geblieben, der er schon früher gewesen war.
Er konnte sich nie entschließen, rasch zu antworten. Bis er sich besonnen – hatte schon lange ein anderer die Frage beantwortet! So war er noch nicht weiter gekommen als bis zur Quarta.
Ein großes Talent hatte er allerdings, das war die Musik. Er liebte alles, was Musik hieß, hörte und empfand mehr dabei als andere seines Alters und war glückselig, wenn ihm seine Schularbeiten Zeit ließen, sich einmal ans Klavier zu setzen.
Früher in Freienwalde, da hatte er Klavierunterricht beim Kantor des Dorfes, jetzt hatte das aufhören müssen, da die Stunden zu teuer und gänzlich überflüssig sein würden, da er die Musik ja nicht als Beruf ausüben könnte, weil die Mittel zur Ausbildung fehlten. Es war ihm schwer geworden, dieselben aufzugeben, schwerer, als seinen Esel oder seine Kaninchen zu entbehren.
Der immer schon stille Junge war noch stiller geworden. –
*
Käte kam vom Seminar. Es war ein köstlicher Frühlingstag. Sie hatte deshalb einen Umweg gemacht und war durch die Anlagen nach Hause gegangen, die aus den alten Kirchhöfen an der Grabower Straße gemacht worden waren. Es war ihr Lieblingsweg. Die alten Kreuze und Grabsteine zogen ihr Interesse an. Sie, die jetzt überwuchert von Efeuranken, später im Sommer überschüttet waren von Flieder und Rotdorn, erzählten so manche Geschichte von Erdenleid, daß sie hier fühlte, es gab noch tieferes Leid als das ihre.
Sie ging stets frischer, freudiger von diesem alten Friedhof nach Hause. Manches Kreuz hatte für sie einen besonderen Reiz. Sie dachte und dichtete sich selbst noch die Lebensgeschichte dazu.
Da war eins, völlig in einen Baum hineinverwachsen; ein anderes, auf dem ruhte der Fuß eines Engels, der hinaufzuschweben schien zwischen die Bäume, scheinbar gleich in den Himmel hinein.
Die liegende Figur eines jungen Mädchens auf einem anderen Grabstein fesselte sie auch stets. Die Inschrift erzählte, daß dieses junge Mädchen sich zu Tode getanzt hatte.
Käte durchzuckte es seltsam. Sich zu Tode tanzen! Ob man das heute auch noch konnte? Ob ein Kind unserer Zeit das tun könnte aus Liebe, aus Leidenschaft, aus Wollust am Tanzen allein? Es durchschauerte Käte.
Ob sie es könnte? Ob sie je einen Menschen so lieben könnte? Sie war zu kühl, zu verständig! Das könnte ihr nie passieren, so meinte sie.
Wie die Veilchen auf den alten Gräbern dufteten! So süß und berauschend! Wie die Sonnenlichter zwischen den noch kahlen Bäumen blitzten!
Käte setzte sich auf eine Bank und träumte vor sich hin. Die Schulbücher lagen zusammengeschnürt in einem Päckchen auf ihrem Schoße.
Sie war ein großes, schönes Mädchen geworden und doch in vielen Dingen noch die kleine Käte geblieben. Zielbewußt war sie und energisch. Aber das Unglück hatte nicht ihr sonniges Temperament untergraben können.
Und wenn der Vater nach vergeblichen Gängen – er war Versicherungsagent geworden – ärgerlich, verstimmt und todmüde nach Hause kam, dann war es ihr Lächeln, das ihn aufrecht erhielt, ihr froher Mut, der seinen sinkenden Mut wieder hob.
Aber auch darin war sie die kleine Käte geblieben, daß ihre impulsive Natur mit ihr durchging, daß sie ihre Ansicht oft sehr unverblümt sagte, und daß sie den Menschen, die ihr unsympathisch waren, dies auch sehr deutlich zeigte.
Es war Sonnabend, und viele Hände waren beschäftigt, die Gräber zu reinigen und zu schmücken zum morgigen Sonntag, denn in dem neueren Teil des Kirchhofes waren auch Grabstätten, die noch benützt wurden. Aber nicht alle wurden von liebenden Händen gepflegt. Überwuchert von Unkraut lag gar manches Grab verlassen und vergessen.
Plötzlich drang ein seltsamer Ton zu Kätes Ohren. Sie horchte auf.
War's ein Seufzen? War's ein Stöhnen?
Da wieder!
Sie blickte auf und sah nur einen alten Herrn ganz still an einem der Gräber der mittleren Reihe stehen.
Die arbeitenden Frauen dort hinten waren zu weit fort, von denen konnte der Ton nicht gekommen sein. Oder hatte sie sich überhaupt getäuscht?
Da war's, als dringe noch einmal ein leiser Ton zu ihr. Und da sah sie den Herrn wanken, zittern am ganzen Körper, seine Hand griff nach dem schwarzen Eisengitter, welches das Grab umgab, um sich daran zu halten.
In demselben Augenblick war Käte aufgesprungen und eilte an die Seite des Herrn.
»Ihnen ist nicht gut. Bitte, stützen Sie sich auf mich, ich will Sie zu jener Bank führen.«
Sorgsam legte sie den Arm um die Schulter des alten Herrn, den ein schneeweißer Bart und schneeweißes, noch volles Haupthaar sehr ehrwürdig erscheinen ließen.
Käte führte ihn zu der Bank und er setzte sich schwer atmend darauf nieder. Langsam erholte er sich und atmete freier.
Als Käte ihn fragend anblickte, sagte er: »Danke, liebes Kind, Sie sind sehr gut zu mir. Es war ein Herzkrampf – jetzt wird's besser. – Bald wird es ganz gut sein. – Er befällt mich manchmal.«
Er sprach noch abgerissen, stockend, in Absätzen. Aber jetzt atmete er ruhiger, in langen Zügen.
Käte fragte teilnahmsvoll:
»Soll ich vielleicht versuchen, Wasser zu bekommen?«
»Danke, mein Kind! Es wird so gehen. Der Anfall ist vorüber. – Lassen Sie mich noch ein Weilchen stillsitzen. Und wenn Sie so gut sein wollen, so bleiben Sie noch ein wenig bei mir. Ich habe nach solchem Anfall Angst, allein zu sein.«
Käte nickte ihm bejahend zu.
Sie saß ganz still, in dem Wunsche, den Herrn nicht zu stören, und hatte doch das Bedürfnis, ihm ein tröstendes, freundliches Wort zu sagen. Aber sie wußte nicht recht, wie sie es anfangen solle.
Nach langem Schweigen fing der alte Herr wieder an zu sprechen: »Wie gut das tut, so hier in der warmen Frühlingssonne zu sitzen! Wie gut! Und ein so liebes, freundliches Gesicht neben mir altem Manne, jemand, der Geduld hat, neben mir still zu sitzen!«
Er streckte ihr die Hand hin, eine lange, schmale Gelehrtenhand, jetzt dürr und knochig im Alter; aber eine Hand, die wohl viel die Feder, aber nie die Axt oder Schaufel geführt hatte.
Käte nahm freundlich die dargereichte Hand an. Dann fragte sie leise: »Haben Sie denn niemand, der bei Ihnen aushält, der bei Ihnen ist, wenn solch ein Anfall kommt?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich stand dort am Grabe meiner Frau!« – Nach langer Pause fuhr er fort: »Die Kinder starben klein bis auf eine Tochter.« Plötzlich verklärte sich sein Gesicht: »O ja, ich habe eine Tochter. Sie ist ungefähr so alt wie Sie. O, sie ist klug – sehr klug, sie studiert da unten in Heidelberg. Und sie wird's zu etwas bringen!« – Plötzlich aber verflog der helle Schein auf seinem Antlitz. »Aber sie ist nicht wie Sie, nicht geduldig, sie konnte nie stillsitzen bei dem alten Vater.« Doch dann fügte er in dem Gefühl, nicht klagen zu wollen gegenüber einer Fremden über das eigene Kind, hinzu: »Aber ich bin schuld, ich allein. Ich konnte sie nicht erziehen. Ich hatte meine Arbeit, die mich beschäftigte, und wußte nichts anzufangen mit dem kleinen Ding. Ja, wenn meine liebe Frau noch gelebt hätte.« Er deutete hinüber zu dem Grabe seiner Frau. »Sie starb mir zu früh, viel zu früh!«
In tiefem Mitgefühl legte Käte ihre Hand auf die des alten Mannes. Dann sagte sie: »Aber jetzt könnte, jetzt müßte ihre Tochter doch kommen. Jetzt brauchen Sie die Stütze, die Hilfe! Soll ich ihr nicht schreiben, daß sie herkommt?« Und zagend, als schäme sie sich der Frage, da sie wie Neugier aussehen könnte, setzte sie hinzu: »Wie heißt Ihre Tochter?«
»Margarete Hagen.«
»Margarete Hagen?« Käte stutzte. Einen Augenblick wußte sie nicht, wo sie den Namen schon gehört hatte, wo sie ihn in ihrem Gedächtnis hintun sollte, dann fiel es ihr ein. Margarete Hagen hieß das Mädchen, an das damals Oskar Stein geschrieben hatte.
An Fräulein Margarete Hagen war der Brief gerichtet gewesen, den sie für ihn zur Post gebracht. Der Name hatte sich ihr unauslöschlich eingeprägt.
Wie es merkwürdig im Leben zugeht! Hatte sie es nicht damals riesig interessant gefunden, daß Oskar Stein schon eine Liebe hatte? Hatte sie sich nicht in ihrem dummen Kinderherzen eine schöne, romantische Geschichte daraus zurechtgemacht und sich ausgemalt, was Margarete wohl empfinden müßte, wenn sie diesen Brief bekäme?
Törichtes Kind, das sie war!
Jetzt wußte sie es, daß Oskar Stein lieber hätte herumtollen sollen in Wald und Feld, als schon Liebesbriefe zu schreiben. Das wäre ihm damals zuträglicher gewesen. Es hätte wieder einen frischen jungen Mann aus ihm gemacht.
Und hier saß sie jetzt neben dem alten Vater dieses Mädchens, das dort in Heidelberg war und studierte. Auch wohl Medizin, wie sie es so gern gewollt hatte. Aber wenn sie dachte, daß sie einen alten, kranken Vater hier allein lassen sollte, ganz allein, dann kam es ihr plötzlich nicht so beneidenswert vor, dort sich selbst und den Studien zu leben.
Doch die kurze Frühlingssonne verschwand. Es wurde kühler.
Käte sah, daß der alte Mann zusammenschauerte, und sie meinte besorgt, es sei jetzt Zeit zum Heimgehen.
Er erhob sich mühsam.
Käte bot ihm noch an, ihn nach Hause bringen zu wollen, aber das lehnte er freundlich ab. Er könne jetzt allein gehen. Aber wenn er sie einmal wieder treffen könne, das würde auch wie Sonnenschein für ihn sein.
Käte sagte, sie gehe oft hier durch die Anlagen. Zaghaft setzte sie hinzu: »Oder soll ich einmal zu Ihnen kommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht? Ich kenne die Schwester Hermine vom Krankenhaus, die könnte ich mitbringen und sie könnte sehen, ob sie Ihnen helfen kann.«
Sehr erfreut nannte der alte Herr seine Wohnung. Sie war ganz nahe der Birkenallee.
Noch einmal drückte er dankend ihre Hand. Ihre kindliche Teilnahme hatte ihm so gut getan! Dann ging er langsam seiner Wohnung zu.
Käte sah ihm nach, bis er in der Pforte des Kirchhofs verschwunden war. Dann nahm sie ihre Bücher von der Bank und wollte gehen. Doch plötzlich veränderte sich ihr Ausdruck, und der Blick, den sie auf einen näherkommenden Herrn richtete, war nicht gerade sehr freundlich.
Der Herr hingegen sah sehr freudig überrascht aus, als er den Hut von den semmelblonden Haaren hob.
Das war ja Stein! Er kam gerade in einem Augenblick, wo sie seiner nicht in freundlichster Weise gedacht hatte.
»Fräulein Käte! – Verzeihen Sie, Fräulein Folkert! Diese freudige Überraschung!«
Käte stand noch neben der Bank.
»Herr Stein, Sie sind es?«
»Gnädiges Fräulein kannten mich wohl gar nicht? Ja! Wir sind beide älter und Sie jedenfalls sehr schön geworden.«
Er starrte sie fast beleidigend an, und seine Gedanken waren: »Donnerwetter, was ist aus der kleinen Käte geworden!«
Sie aber sagte sehr kühl: »Herr Stein, Schmeicheleien sind mir gräßlich! Wollen Sie sich das vielleicht für künftige Zeiten merken?«
»Na ja, dieselbe kleine Kratzbürste ist sie geblieben,« gingen seine Gedanken weiter.
Ihr aber wurde sein Anstarren lästig und sie wandte sich zum Gehen: »Sie entschuldigen, Herr Stein, die Eltern erwarten mich. Ich muß nach Hause!«
»Ach ja, die verehrten Eltern, wie geht es ihnen?«
»Danke, sehr gut!«
Herr Stein suchte nach Worten: »Ich habe damals mit Bedauern gehört, daß das schöne Freiwalde –«
»Bitte, Herr Stein, davon wollen wir nicht reden.«
Etwas verlegen schwieg er still.
Endlich sagte er: »Sie gestatten, mein gnädiges Fräulein, daß ich Sie ein wenig begleite?«
»Bitte!«
»Vielleicht interessiert es Sie, zu hören, wie es mir erging seit der Zeit, wo ich das Glück und die Ehre hatte, in Ihrem Hause –«
Wieder fing er von jener Zeit an, und Käte unterbrach ihn deshalb rasch: »Ja, Herr Stein, wie ist es Ihnen ergangen? Wo leben Sie?«
»Ich kam damals nach Oberprima und machte im vorigen Herbst mein Abiturium.«
»Glänzend bestanden natürlich?«
Herr Stein lächelte geschmeichelt: »Ich kann nicht leugnen!«
»Und jetzt sind Sie Student? Sie sind Theologe geworden, wie Sie es vorhatten?«
»Ja, ich bin jetzt Student der Theologie in Göttingen und augenblicklich für die Ferien bei meinen Eltern auf Besuch. Mein Bruder ist schon Pastor, und ich hoffe, auch so rasch in Amt und Würden zu kommen wie er.«
»Ach!« Käte verzog den Mund ein wenig. »Also deshalb?«
»Und Sie, gnädiges Fräulein?«
»Was ich getrieben habe? Nun ja, es ist natürlich, daß Sie annehmen, daß ich auch etwas angefangen habe. Ich stehe vor dem Lehrerinnenexamen. Ich leugne nicht, daß ich sehr gern Medizin studiert hätte, aber es ging nicht, und da ist es ganz gut so. Ich muß mich zu einem Lebensberuf entschließen, um durch die Welt zu kommen, und ich kenne kaum ein schöneres Dichterwort als das der fürstlichen Dichterin Carmen Sylva: ›Es gibt nur ein Glück, die Pflicht; nur einen Trost, die Arbeit; nur einen Genuß, das wahrhaft Schöne.‹ Danach möchte ich leben, das habe ich in schweren Zeiten für wahr empfunden.«
Kätes Augen leuchteten. Sie vergaß, wer neben ihr ging und sprach in voller Begeisterung.
Herr Stein blickte sie an wie gebannt.
Welch edles Feuer glühte in ihren Augen, wie stattlich war die Gestalt in ihrer schlanken Größe, die ihn überragte, wie stolz getragen das blonde Köpfchen mit dem schweren Flechtenknoten! Zu Käte hätte auch der moderne Bubikopf nicht mehr gepaßt. Halb unbewußt, daß sie so laut sprach, fuhr sie fort: »Meine Pflicht ist, meinen Eltern das Schwere zu erleichtern, und mein Trost war bisher und soll auch ferner meine Arbeit sein, mein größter Genuß ist eine Oper von Wagner oder Mozart, ein schönes Buch oder Drama, sei es von Goethe, sei es von einem unserer Neuen.«
»So besuchen Sie das Theater häufig?«
»O nein!« Kätes Augen trübten sich. »Nicht häufig, aber ich lese die neuen Werke, und wenn Onkel Münstermann mal nach Stettin kommt, nimmt er mich mit in die Oper. Doch hier ist unser Haus. Ich muß Ihnen lebewohl sagen.«
»Darf ich in diesen Tagen kommen. Ihnen und den verehrten Eltern meine Aufwartung zu machen?«
»Danke sehr, Herr Stein, aber lieber nicht! Die Eltern nehmen keine Besuche an. Wie leben ganz still, und besonders Erinnerungen an Freiwalde sind uns schmerzlich.«
»Aber mein gnädiges Fräulein, soll ich Sie denn gar nicht wieder sehen und treffen können? Es würde mir doch leid tun, wenn diese Begegnung die einzige bleiben sollte. Kann ich Sie nirgends –?«
»Nein, Herr Stein, ich glaube nicht. Besten Dank für Ihre Begleitung und leben Sie wohl.«
Käte reichte ihm die Hand, verhinderte aber durch kurzen Händedruck, daß er sie an die Lippen zog. Dann öffnete sie schnell die Haustür und verschwand.
Stein starrte ihr nach und ballte die Faust: »So rasch entkommst du mir nicht! Das ist ja ein verteufelt hübsches Mädchen geworden und Schneid steckt in ihr. Alle Wetter, wie sie aussah, als sie sagte:›meine Pflicht ist, meinen Eltern das Schwere zu erleichtern.‹ Er sah sich genau die Hausnummer an: Nummer 21, und die Straße, eine Nebenstraße der Pölitzerstraße, das würde er schon wiederfinden. Wie sie ihn hatte ablaufen lassen! »Aber warte, mein Herzchen, jetzt bist du keine Rittergutsbesitzerstochter mehr, jetzt bist du eine arme Lehrerin, und ich werde als Pastor noch einmal eine annehmbare Partie für dich. Nur erst soweit sein!« –
Langsam, sehr langsam schlenderte er der Wohnung seiner Eltern zu und machte Pläne, wie es ihm möglich sein würde, Käte doch zu treffen.
Sie mußte doch täglich zum Seminar. Wenn er sich erkundigte, wann ihre Stunden aus waren, konnte sie ihm nicht entgehen.
Margarete Hagen war ihm ziemlich langweilig geworden. Anfangs hatte sie noch öfter geschrieben, aber ihre Briefe berichteten nur in knappen Worten von ihrem Studium, von ihrem Leben mit den Studenten. Sie ging ganz darin auf, ermahnte ihn noch einmal, Philologie zu studieren, und war in ihren Ausdrücken frei wie ein Junge. Er war sich klar darüber, daß Margarete etwas erreichen würde. Ihr rücksichtsloses Vorgehen würde ihr dazu helfen. Wenn man sie aber nicht sehen konnte in ihrer originellen, etwas burschikosen, aber doch ehrlichen Art, dann verging für ihn der Reiz, der von ihr ausging, die Macht, die sie über ihn hatte.
Mit Käte trat ihm ganz etwas anderes entgegen. Das war das reine, keusche Mädchen mit dem körperlichen Reiz eben erblühter Jungfräulichkeit und Schönheit. Sie, die als Kind schon Eindruck auf ihn gemacht, fesselte jetzt alle seine Sinne und Gedanken. Aber wie er schon damals wenig anziehend war in seiner übertriebenen Eitelkeit und Selbstbespiegelung, so ist auch jetzt sein ganzes Wesen nicht dazu angetan, einer Käte Folkert zu gefallen.
Er war ihr schon früher unsympathisch gewesen. Jetzt war er es noch mehr geworden.
Die Eltern erwarteten sie schon.
Hier herrschte trübe Stimmung. Edmund hatte wieder eine schlechte Arbeit gemacht und seine Versetzung wurde dadurch in Frage gestellt.
»Du bist ein infamer Bengel!« sagte der Vater gerade bei Kätes Eintritt. »Kannst du nicht aufpassen? Dumm bist du doch nicht! Nur faul bist du. Was hast du wieder gedacht, als du so eine Arbeit schriebst? Die einfachsten Sachen weißt du nicht, gebrauchst das Aktivum statt des Passivums, wo hattest du deine Gedanken?«
Der ganz verschüchterte Knabe stammelte: »Im Hofe war ein Orgelspieler, und der spielte das Intermezzo aus der Cavalleria!«
»Junge!« Der Vater wurde dunkelrot vor Wut. »Wenn ich dir die verdammte Musik nicht aus den Knochen treiben kann, schlage ich dich braun und blau!«
Da trat Käte ein. »Vater!« Die erhobene Hand sank, der geängstigte Junge trat zurück und starrte mit trockenen Augen ganz verblüfft ins Leere.
Er konnte doch die alten Sprachen nicht begreifen!
Er konnte es nicht. And wenn der Vater ihn totschlug! Geschichte und Literatur und Naturkunde, das ging. Auch Griechisch wurde ihm noch leichter als Latein. Aber Latein! Und dann noch Rechnen! Da liefen ihm die Gedanken immer rein weg, und er konnte sie nicht zusammenhalten.
»Vater, laß doch den Jungen, du weißt ja, er kann's nicht!«
»Aber er muß! Zum Donnerwetter, wovon will er denn leben! Er muß doch studieren oder Ingenieur werden, aber zu beidem hat der Bengel keinen Trieb!«
»Warum denn, Vater? Es gibt doch so viele ehrliche Berufe! Laß ihn doch auf die Realschule gehen, da erreicht er leichter was. Später kann er Techniker werden. Er hat ja geschickte Hände!«
Mit einem Stöhnen sank Herr Folkert auf den Stuhl. Käte hatte recht. Was wollte er denn? Sein Sohn konnte alles werden. Sein Stand war kein Hindernis mehr.
Ein ehrlicher Beruf! Pah, den hatte mancher! Ein Schuhflicker auch! Mein Gott, daß es dahin mit ihm kommen mußte!
Und die alte Verbitterung schlug wieder ihre Fänge um Herrn Folkert, so daß selbst Käte heute es nicht gelang, ihn daraus zu befreien.