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Auf der Rasenbank im Freiwalder Park, auf der vor einigen Tagen Kurt und Käte geweilt, saß heute Käte allein. Sie sah bedrückt aus und blickte vor sich nieder.
Vor ihr stand der vielbesprochene Primaner Stein mit einem Briefe in der Hand, gerichtet an Fräulein Margarete Hagen. Eine Karte mit derselben Adresse hatte er neulich schon einmal Käte zur Besorgung mitgegeben, darauf stand: »Mein einzig Lieb, ich ängstige mich um Dich.«
Diesen Brief sollte sie wieder besorgen.
Er beschwor sie in den Tönen rührendster Bitte, ihm doch diesen Gefallen zu tun. Sie mit ihrem schnellen Pony sei ja bald bis zum nächsten Postamt geritten. Und den Dienstboten könne er doch diese Briefe, sein Heiligtum, nicht anvertrauen.
Dabei fuhr er sich mit allen fünf Fingern durch die hochaufstehenden Haare, ergriff ihre Hand, die schlaff im Schoße lag und drückte einen inbrünstigen Kuß darauf.
Dann war er verschwunden.
Ganz verblüfft sah Käte ihm nach. Ernsthaft besah sie ihre Hand.
Ihren Mund hatte man schon viel geküßt, die Eltern taten es, die Tanten, selbst Onkel Münstermann, – aber ihre Hand?
Wieder betrachtete sie dieselbe angelegentlichst. Also so sah ein Handkuß aus, wenn man ihn selbst bekam!
Dann besah sie sich den Brief, der in ihren Händen lag. Eigentlich brannte er wie höllisches Feuer. Sie hatte das Gefühl, sie müsse ihn fortwerfen oder Muttchen zeigen. –
Aber der arme Mensch hatte so gebeten und so aufgeregt ausgesehen. Er tat sich am Ende ein Leid an, wenn sie ihn im Stiche ließ. Langsam ließ sie den Brief in die Tasche gleiten.
Also Oskar Stein liebte schon? Und so benahm man sich, wenn man verliebt war? Käte grübelte sehr ernstlich darüber nach.
Der junge Herr war übrigens nicht dumm. Hätte er durch Aufmerksamkeiten, wohl gar durch Gedichte und zarte Blumenspenden Kätes Interesse für sich zu wecken gesucht, dann hätte sie ihm einfach ins Gesicht gelacht. Sie war noch ein Kind, das wußte sie selbst, und alle Dinge, die wie Courmacherei ausgesehen hätten, hätte sie abgeschmackt und albern gefunden.
Aber Oskar Stein liebte ja sie nicht, der liebte eine andere, und sie sollte nur diese Briefe heimlich fortschaffen. Das war doch riesig interessant!
Und er hatte erreicht, was er wollte. Kätes Gedanken beschäftigten sich mit ihm. Sie kam sich plötzlich sehr wichtig vor.
Mit raschem Entschluß stand sie auf, ging in den Stall und sattelte selbst ihr Pony.
Nicht lange darauf ritt sie vom Hofe, und die erstaunte Mutter fragte sich vergebens: Wo reitet das Kind denn hin?
Bei Tisch sagte sie zu Käte: »Wo warst du denn vormittags, Käte? Wieder in Brünnau?«
»Nein, ich bin nur ein bißchen spazierengeritten!«
Käte war ganz rot geworden und bückte sich nach ihrer heruntergefallenen Serviette. Sie hatte ja die Mutter belogen, belogen um diesen gräßlichen Bengel, den Stein, den sie doch durchaus nicht leiden konnte.
Das Bewußtsein fiel Käte so schwer auf die Seele, daß sie während des ganzen Mittagessens kaum noch einen Bissen herunterwürgen konnte. Dabei war sie ausgelassen, auffallend lustig und schwatzte mit ganz heißen Backen in einem fort, daß sogar der Vater, der doch stets den Kopf voll anderer Gedanken hatte, seine Tochter etwas erstaunt ansah. Lebhaft war Käte ja immer, aber heute war etwas so Aufgeregtes in ihrer Lebhaftigkeit, daß er mit sehr ernsten Augen fast strafend herübersah.
Käte fühlte den Blick, verwirrte sich und schwieg ziemlich plötzlich mitten im Satz still.
Sie erzählte gerade von ihren fünf jungen Teckeln, die nächstens zum Verkauf ausgeschrieben werden sollten. Denn man konnte doch nicht die ganze kleine Gesellschaft behalten. Sie waren wirklich reizend, und Käte wußte Wunderdinge von ihnen zu erzählen. Der niedlichste hieß Triddelfitz, nach Kätes geliebtem Reuterbuche, und sie behauptete, daß er mindestens ebensoviele dumme Streiche im Kopfe habe wie der zweibeinige Triddelfitz.
Käte hielt plötzlich inne, aber mit sonst ungeahntem Interesse nahm Herr Stein die Unterhaltung auf und redete von Teckeln, Doggen und Jagdhunden, als ob er sich stets mit solchen Geschöpfen beschäftigt hätte. Und doch kamen sie ihm hier in Freiwalde zum ersten Male wirklich in den Weg.
Aber er fühlte Kätes Verwirrung genau und fürchtete, daß sich seine Verbündete verraten könnte. Dabei warf er ihr beschwörende Blicke zu, die sie auch sehr wohl sah. Ihre Augen trafen ihn wieder so verstehend, und es durchzuckte ihn ganz heiß dabei.
Das war ja ein wonniges Gefühl, mit so einem hübschen Mädchen ein Geheimnis zu haben; Käte fand es gar nicht wonnig. Wenn sie lügen mußte seinetwegen, war er ihr noch einmal so unangenehm wie früher.
Hätten die Eltern nicht beide den Kopf voll gehabt, dann würde auch wohl Kätes verändertes Wesen noch mehr aufgefallen und ihm nachgeforscht worden sein. So aber waren die Gedanken weit fort von diesen Dingen.
Daß es rückwärts ging auf Freiwalde, wußten beide schon lange. Erst hatten einige schlechte Erntejahre großen Ausfall in den Einnahmen verursacht. Der Regen hatte in einem Jahre die Erntearbeiten so gestört, daß das Heu auf den Wiesen verfaulte und der Roggen auf dem Halme auswuchs. Dazu hatten sie wenig Leute und konnten das Getreide nicht fortschaffen.
Und nun fing ein verzweifeltes Suchen nach neuen Einnahmequellen an. Herr Folkert versuchte es mit Rübenbau, aber sei es, daß der Acker nicht tauglich war, sei es, daß auch hier, trotz der fremden Schnitter, die Arbeitskräfte nicht ausreichten, die Rüben gaben keinen genügenden Ertrag, und Herr Folkert gab den Rübenbau wieder auf.
Dann probierte er es mit der Pferdezucht, gab große Summen aus für edle Zuchttiere. Aber es kamen Pferdekrankheiten. Die wertvollsten Mutterstuten starben ihm, und wieder war nur Verlust dabei. Der gehoffte Erfolg blieb überall aus.
Endlich versuchte er es mit künstlichem Dünger. In großen Massen ließ er ihn kommen, studierte landwirtschaftliche Bücher und untersuchte dann sein Gut nach Bodenbeschaffenheit und dem nötigen Gehalt an Nährstoffen.
Der Dünger kostete Tausende und wurde regelrecht dem Acker gegeben. Aber ein entsetzlich trockener Sommer ließ auch hier den Erfolg ausbleiben. Wenn der Himmel keinen Regen schickt, nützt auch der beste Dünger nichts. –
Für sich selbst war Herr Folkert stets einfach, bedürfnislos, auch fleißig und vom frühen Morgen an auf dem Hofe und im Felde selbst zugegen. Er faßte selbst zu, wo er konnte, hielt sich schon seit einem Jahre keinen Inspektor mehr, sondern besorgte die Wirtschaft mit einem alten Verwalter, der seit langen Jahren in Freiwalde war.
Aber der Ruin war nicht aufzuhalten.
Folkert selbst wußte und fühlte, daß es das letzte Jahr war, das er als Herr auf Freiwalde war. Er wußte, daß er diesen Roggen nicht mehr für sich säte, daß andere nach ihm das alte, liebe Familiengut besitzen und bewirtschaften würden.
Vielleicht besser als er! Ob glücklicher? –
Und nun war es so weit. Die Johannizinsen hatten nicht bezahlt werden können und waren ihm gestundet worden, außerdem hatte der Bankier im nächsten Städtchen, Grabow, die nötigen Summen für den Tagelohn der Erntearbeiter borgen müssen.
Nun mahnte der Gläubiger um sein Geld oder er wollte einen Wechsel haben. Herr Folkert hatte noch nie in seinem Leben einen Wechsel unterschrieben. Aber jetzt hatte er es tun müssen. Es gab keinen anderen Ausweg mehr. Aber die Tage vergingen ihm jetzt wie unter einem Druck. Er hatte schon an alle möglichen Bankinstitute geschrieben in der Hoffnung, dort Geld zu bekommen.
Vergebens!
Freiwalde war verschuldet, überlastet mit Hypotheken. Und Folkert war zu ehrlich, um noch einen Freund mit ins Verderben zu reißen. Er wußte selbst zu genau, daß eine solche Hilfe nur einen Aufschub von Monaten bedeutete.
So ging es dem Ende entgegen.
Das Netz zog sich immer dichter zusammen. Aber er wollte es sich noch nicht merken lassen und sprach auch nicht davon mit seiner Frau, trotzdem auch sie es ahnte und befürchtete. Denn wenn er es ihr auch verbergen wollte, es würde ihm doch nichts nützen. Man lebt nicht umsonst achtzehn Jahre in glücklicher Ehe. Da lernt man in den Zügen, in den Augen allein lesen, wenn der Mund schweigt, da fühlt das Herz den Schlag des andern und ahnt den Druck, der auf dem andern Herzen liegt.
Eigentlich sorgte Frau Folkert um ihre Käte am wenigsten. Sie war ein so energisches, kluges Mädchen. Die würde bald genug selbst herausgefunden haben, was sie zu tun hatte. Die würde lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, wenn es not tat. Aber der Abschied von Freiwalde würde für Käte ein schwerer sein, das war es, was sie fürchtete.
Schlimmer war es für Edmund. Er war ein Träumer, kein so frischer Junge wie der gleichaltrige Vetter Fritz in Zossen. Er mußte zu jeder Arbeit getrieben werden und wußte manchmal selbst nicht, was er wollte und mochte.
Gottlob, daß sie nur die beiden Kinder hatten! Sie hatte eigentlich immer gewünscht, noch ein Kind, ein Nesthäkchen zu bekommen. Sie fand, daß die großen Kinder der Mutter so aus der Hand wuchsen und hätte gern wieder ein Kleines gehabt. Aber jetzt dankte sie Gott, daß ihr Wunsch unerfüllt geblieben. Jetzt war es gut, daß sie nur die beiden hatte.
Der Abend dieses Tages war köstlich; ein milder, stiller Sommerabend. Die Sterne strahlten in hellem Licht, und Käte und Edmund hatten zusammen mit Herrn Stein Sternbilder gesucht, den großen und den kleinen Wagen, die Venus, den Orion. Sie hatten versucht, in der Milchstraße die Sternlein zu entdecken, und Kätes fröhliche Stimme schallte von der Terrasse herüber, als soeben eine Sternschnuppe schnell und schräg über den Himmel hinabfuhr.
»Habt ihr euch etwas gewünscht? O, ich! Ich habe mir etwas Köstliches gewünscht!«
Frau Folkert ging mit ihrem Manne durch die stillen Gänge des alten, herrlichen Parks, des Parks, den schon sein Großvater angelegt hatte. Auch sie sah die Sternschnuppe, aber ihr Herz war müde geworden. Das Hoffen und Wünschen hatte sie so müde gemacht. Das Wünschen ist das Vorrecht der Jugend. Sie hofft und wünscht stets von neuem und wohl ihr, daß sie es kann!
Heute wünschte Frau Folkert nur, daß ihr Mann sein Herz erleichtern möchte; daß er mit ihr über den Druck reden würde, der auf ihm lag. Seinen Kummer in ein treues Herz ausschütten, das ist Erlösung.
Aber er schwieg.
Sie fing von Freiwalde zu sprechen an, von seinem Wert und seiner Lage.
Er antwortete kurz und redete dann von gleichgültigen Dingen.
Und wieder verging ein Tag, ohne daß er seine Frau hätte teilnehmen lassen an seinen Sorgen, an den Sorgen, die sie doch so bestimmt ahnte und fühlte. Ganz betrübt ging sie zu Bett. Sie hätte ihm so gern geholfen, mitzutragen, ihm so gern ihr Gottvertrauen eingeflößt, ihr stilles Beugen unter das Geschick.
Aber er wollte nicht!
Auch hier bei ihm war nur starres Ausharren, schweigendes, aber finsteres Dulden, wie bei seinem Freunde Münstermann, grollendes Sichbeugen unter die Hand des Schicksals!