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»Ja, mein lieber Herr, was haben Sie sich denn eigentlich unter einem Gute vorgestellt? Oder unter dem Leben auf dem Gute?«
Horstmann, der Jäger und Gärtner auf Freiwalde war, stand mit einer Kolonne von Arbeitern, die er beaufsichtigte, und ließ Bäume aus der Baumschule umpflanzen. Er hatte eine große, stämmige Gestalt, markig und knorrig wie seine geliebten Buchen und Eichen. Eine echte Jägererscheinung. Auch das Gesicht war charakteristisch, besonders die scharf blickenden Augen, die starke Nase, der lange, hellbraune Bart und der energische Mund.
Er sah fast verächtlich auf den jungen Menschen herab, der neben ihm stand, und der sich herabzulassen glaubte, wenn er einmal ein Wörtchen mit dem Manne redete, gegen den seine Gastgeber so freundlich waren.
»Was ich mir unter dem Leben hier vorgestellt habe? Nun, Fahren, Reiten, viel Dienerschaft haben! Statt dessen sind die Wagenpferde alle Tage mit dem Einfahren des Getreides beschäftigt. Reiten tut nur Fräulein Folkert mit ihrem Pony, und die Dienerschaft? – Na, das ist doch auch nicht weit her! Ein elegantes Haus in der Großstadt mit schönen Treppen und Stuck an den Wänden ist noch einmal so hübsch als so ein großes, einstöckiges Landhaus. – Sagen Sie mal, guter Mann, man sagt auch in Grabow, daß hier Herr Folkert aus dem letzten Loche pfiffe. Ist das so?«
Der ›gute Mann‹ sah sich den Fragenden von oben bis unten an. Dann sagte er: »Ich weiß nicht, ob er aus einem oder mehreren Löchern pfeift. Jedenfalls ist er mein Herr, und ich pflege nicht über jemand zu reden, des Brot ich esse.«
Das war deutlich.
Herr Stein verfärbte sich ein bißchen, tat dann aber doch, als ob er den Hieb durchaus nicht gefühlt hätte. Pah! Ein simpler Jäger! Ein Mensch in der Stellung konnte doch ihm, dem angehenden Studenten, keine Lehren geben!
»Lieber Mann, ich rede doch bloß, was ich hörte. Und schließlich sieht man doch selbst, daß das Geld alles macht in der Welt. So einer nennt sich nun Rittergutsbesitzer und das klingt wunder wie vornehm.«
»Weshalb sind Sie eigentlich hierhergekommen?«
»Ja, ich dachte mir das so anders! O, diese sogenannten hiesigen Vergnügungen! Na, da sind wir Pilze suchen gefahren, da hinüber in den Wald. Da muß man sich immerfort bücken und an der Erde knien und dann sich zwischen den Bäumen und Zweigen durchwinden. Und nachher tut einem Kopf und Rücken weh. Das nennen sie dann ein Vergnügen!«
»Na, wissen Sie, ich bäte am Ende an Ihrer Stelle um einen Wagen zum Bahnhof für den nächsten Zug!«
»Ja, ja, Sie haben recht! Bloß ist das Reisen dritter Klasse auch gerade kein Vergnügen. Und wenn man ›freie Reise‹ vergütet kriegt, kann man doch nur dritter Jüte fahren.«
Horstmann gab dem Baum, den er einpflanzte, einen ziemlich energischen Ruck und trat die Erde kraftvoll mit beiden Füßen fest. Dann wandte er sich ziemlich barsch ohne Gruß ab zu seinen Leuten, die einige Schritte weiter arbeiteten und Pflanzlöcher gruben.
Herr Stein ging mit erhobenem Kopfe, die Hände in den Taschen, mit hoheitsvoll langsamen Schritten ab.
Horstmann stieß mit Wucht den Spaten in die Erde, um selbst ein nicht genügend großes Loch zu vergrößern, und murmelte: »So ein Bengel! Der müßte noch die Rute haben! Wenn ich Herr Folkert wäre, ich ließe heute schon anspannen!«
Sein listiges Gesicht war ordentlich rot geworden vor Ärger.
Einer der Arbeiter aber lehnte sich auf seinen Spaten und sah dem langsam Davonschreitenden nach. Dann tippte er mit dem Finger an seine Stirn und fragte: »Herr Horstmann, bei dem ist's wohl nicht richtig?«
»I wo!« sagte der Jäger in voller Wut. »Der ist mächtig klug! Der liest den ganzen Tag! Aber er ist fein! So muß man sein! Das nennt sich heute moderne Jugend! Na, gottlob, daß sie noch nicht alle so sind! Der Kurt v. Lankwitz ist wenigstens anders. Da steckt noch Schneid und Kraft drin!«
»Je ja, – je ja,« der Arbeiter kratzte sich hinter den Ohren. »Die Küchenanna sagt aber von dem hier: ›Fein ist er! Und kommandieren kann er wie einer!‹ Das muß einer man können in heutiger Zeit, dann kommt er zu was!«
Er räusperte sich, spuckte in die Hände und ergriff seinen Spaten von neuem.
*
Die Ferien gingen ihrem Ende entgegen.
Herr Stein war einige Tage früher abgereist. Er hatte eine Karte aus Stettin erhalten, die er sehr geschickt Käte in die Hände gespielt, auf der stand: »O Sehnsucht, wie bist du bitter!« Aber Käte verstand ihn wirklich nicht, oder sie wollte ihn nicht verstehen. Sie ging nicht mehr auf seine Andeutungen ein, wollte keine Heimlichkeiten mehr mit ihm haben. Und so wurde ihm der Aufenthalt auf dem Lande immer langweiliger. Er empfand plötzlich große Sehnsucht nach Stettin und reiste ab, sehr zur Erleichterung aller.
Käte war die Briefgeschichte hinterher doch schrecklich. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sich in einer sehr plumpen Falle fangen lassen, und so war auch sie froh, daß er fort war.
Herr Stein dampfte indes der Stadt zu. Gottlob, daß die Zeit zu Ende war! So ewig auf dem Lande leben zu müssen, das mußte ja schrecklich sein. Nein! Landpastor wurde er nie!
Er nahm sich eine Zigarette heraus und zog den Rauch geschickt durch die Lunge. Dann dehnte er die Glieder: »Ah!« –
Wenn nur die Bänke nicht so hart wären! Daß man solch ein armer Schlucker war und dritter Güte fahren mußte! Weshalb konnte sein Vater nicht auch Rittergutsbesitzer sein! Allerdings dämmerte es ihm ein wenig, als ob auch nicht immer nur Glück dabei sei. – Aber pah! Er würde schon zu leben wissen!
Jetzt fuhr der Zug über die düsteren Oderbrücken und nun donnerte er in die Halle ein.
Elastisch, wie er in Freiwalde nie gewesen, sprang er auf und beugte sich aus dem Fenster.
Wahrhaftig, da stand sie!
Er winkte eifrig.
Auf dem Bahnsteig stand eine junge Dame. Das Kleid war augenscheinlich ein Radlerkostüm mit Sporthosen. Es zeigte elegant beschuhte, kleine Füße. Das Gesicht war hübsch, aber ein wenig blaß. Die Augen sehr groß. Das alles würde nicht weiter auffallen. Was auffiel, war die Haarfarbe. Rötlichblonde volle Haare waren mit Kämmchen und Pfeilen breit um das Gesicht gelagert, die Ohren fast bedeckend.
Und dies auffallende Haar war's, nach dem sich unwillkürlich jeder umsah.
»Donnerwetter!« sagte eben im Vorbeigehen ein Herr zum anderen.
Unser Stein aber strahlte über das ganze Gesicht, als er auf die junge Dame zutrat.
Sie blieb sehr ruhig.
»Na, Steinchen,« sagte sie behaglich, »da sind wir ja wieder. Noch kein Krautjunker geworden? 's ist hübsch, daß Sie da sind, da können wir noch zwei Tage bummeln, ehe die Lernerei wieder angeht.«
»Ach, Margarete, Sie sind ja nie so im Joch wie wir!«
»Na, ich danke! Kochschülerin sein ist genau dasselbe. Jetzt lerne ich kochen, dann lerne ich Menschen zersägen. Ein modernes Mädchen muß alles können. Wollten wir nur studieren, dann schrien die Männer, wir vernachlässigten unsern weiblichen Beruf. Da habe ich gesagt, lernen wir beides, um den Männern zu beweisen, daß man's kann! – Wie aber kommen wir nun nach Hause? Ich habe natürlich mein Rad draußen. Also gehen Sie immerhin nach Hause. Ich radle die Finkenwalderstraße hinunter zum Tennisplatz. – Sie können nachkommen!«
Und schon saß sie auf dem Rade, reichte ihm die Hand und fuhr gleich darauf sicher und gewandt zwischen all den Droschken, Autos und elektrischen Bahnen hindurch.
Er sah ihr nach.
Die war anders als Käte Folkert! Rücksichtslos, gewandt, frei! – Nur anmutiger war die Käte. Doch er schüttelte die Erinnerung ab. Pah! Die kleine Landpomeranze und die kühne Margarete Hagen! Gab es da einen Vergleich? Er winkte sich einen Dienstmann heran, der ihm das Köfferchen besorgen sollte. Dann ging er eilends nach Hause, um sich sportmäßig anzuziehen und Margarete so rasch wie möglich zu folgen.
Auch hier gab's nun eine Tennispartie. Aber sie war anders als die zwischen Kurt Lankwitz und Käte. Dort einfaches, kindliches Behagen am Spiel. Hier Spiel im Spiel! Besonders der junge Mann tat es nur des Mädchens wegen. Er wollte sich zeigen, und es gelang nur wenig. Die körperliche Gewandtheit, die sich von Jugend auf durch Turnen, Springen und Reiten geübt hatte, wie bei Kurt, fehlte ihm.
Anders das Mädchen. Sie war mit ganzer Seele beim Spiel. Sie schlug den Ball mit Gewandtheit und Kraft und fühlte augenblicklich nur das stolze Gefühl, daß sie dem Gegner weit überlegen war.
Endlich hörte sie auf, da sie sah, daß Oskar Stein ganz außer Atem war und winkte ihn zu sich.
»Na, Steinchen, geschickter sind Sie da auch nicht geworden! Gab's denn in Freiwalde kein Tennis? Doch? Dann hätten Sie's nur tüchtig lernen sollen! Aber ich kenne Sie! Haben gewiß bloß hinter den Büchern gesessen?«
Mit geschraubter Langsamkeit antwortete er: »Ich fühlte mich nicht veranlaßt, denen dort die Langeweile zu vertreiben!«
»Ach, Larifari! Und Sie langweilten sich selbst! So haben Sie ja nichts von dem Aufenthalt gehabt. Doch um auf etwas anderes zu kommen, wo gehen wir denn heute abend noch hin? 's ist dumm, daß im Sommer so wenig los ist in Stettin. Da bleibt immer nur Bellevue oder die Zentralhallen.«
»In den Zentralhallen ist heute, glaube ich, Rauchabend. – Damenabend ist erst morgen.«
»Was mach ich mir daraus? Man steckt sich selbst eine Zigarette an, dann merkt man's nicht, daß der Saal voll Qualm ist. Also zu den Zentralhallen, gut! – Wissen Sie aber, Steinchen, daß ich Ihre Schwester gesehen habe? Ist ja eine sehr behäbige und behagliche Frau geworden. Man merkt gar nicht mehr, daß sie so ein frisches, hübsches Mädchen war.«
»Gott sei Dank, daß sie aus dem Hause ist! Die paßte gar nicht in unsere Zeit, wird eine richtige Hausglucke werden. Sie konnte schon früher immer nur erziehen und an mir herummäkeln. Aber um noch mal auf die Zentralhallen zu kommen, wird's Ihrem Vater auch recht sein, Margarete, wenn wir heute hingehen?«
»Meinem Vater? Warum denn nicht? Im übrigen weiß er ja nichts davon. Der weiß nie, wo ich bin! Und wenn auch! Ihn geht's ja nichts an. Ein Mädchen, das allein durch die Welt kommen will und muß, kann nicht immer an Mutters Schürze hängen. Und dann, ich habe ja –«
»Keine Mutter,« wollte sie vollenden. Aber sie stockte und schwieg. Es flog etwas wie ein Schatten über ihre Züge.
Eine beinahe peinliche Pause trat ein.
Ja, sie hatte keine Mutter.
Stein mußte es denken, und er konnte nicht umhin, hinzuzusetzen, ob sie wohl ebenso wäre, wenn sie eine Mutter hätte? Und ihm fielen die drei Frauen ein, die er jetzt gesehen hatte, die kleine, harmlos liebenswürdige Frau von Lankwitz mit ihren vielen Kindern, die freundlich ernste Frau Folkert und die so rührend still duldende Frau von Münstermann, alle drei deutsche Frauen, wie wir sie uns früher in unseren Gedanken als deutsche Mütter vorstellten. Wie wir sie uns gar nicht anders denken konnten!
Oskar Stein hatte doch nicht ganz umsonst wochenlang in diesem Kreise gelebt.
Sinnend sah er Margarete ins Gesicht, indes ihre Augen ins Weite blickten.
Aber der Augenblick verflog und mit ihm die, wie es beide verächtlich nannten, sentimentale Stimmung.
Margarete Hagen schüttelte sie zuerst ab. »Sagen Sie mal, Steinchen, Sie haben mir noch wenig erzählt von Ihrem Ferienaufenthalt? Also langweilig war's? Konnte ich mir gleich denken! Sind ja vorsintflutliche Verhältnisse da auf dem Lande in Hinterpommern! Und vorsintflutliche Menschen! Keine Spur von frischem Wind, der da hineinweht! Sie sind dort auch langweilig geworden, wissen Sie das? Los, radeln wir nach Hause! Ich muß mich noch umkleiden für die Zentralhallen.«
Sie saß so rasch auf, daß er kaum folgen konnte. Und sie dachte innerlich: »Wie ist der gute Stein heute langweilig!« Eigentlich war ihr der ›grüne Junge‹ überhaupt sehr gleichgültig. Er war ihr viel zu jung. Aber es hatte ihr geschmeichelt trotz aller Emanzipiertheit, daß er so sehr in sie verliebt zu sein schien. Die Schüler aßen ja mittags in der Kochschule, wo sie lernte. Da hatten sie sich kennen gelernt. Sie radelten zusammen, fuhren auch wohl mit den kleinen Dampfern nach Podejuch. Was war's auch weiter? Ein Zeitvertreib!
In einem Vierteljahr oder noch früher ging sie nach Heidelberg, um Medizin zu studieren, dann war's doch aus. Sie hätte nie daran gedacht, Oskar Stein heiraten zu wollen.
Als er sie nach einer Stunde zum Theater abholte, stand sie fertig vor dem Spiegel und zupfte gerade ihre roten Haare wieder ins Gesicht. Sie hatte sich ganz umgezogen. Ein helles Kleid und ein kleines keckes Hütchen ließen sie mehr als Dame erscheinen als vorher der Radleranzug.
Stein sah sie entzückt an und küßte ihre Hand, als sie gerade den Handschuh darüber streifen wollte. Sie gab ihm lächelnd einen Schlag mit dem zweiten Handschuh, ließ ihn aber ruhig gewähren.
Wieder durchzuckte ihn eine Erinnerung. Wie peinlich errötend Käte ihre Hand zurückgezogen hatte! Aber welch ein Kind war die auch dagegen gewesen! Margarete Hagen war jetzt ganz die Dame. Tannenschlank in den Hüften, mit weit abfallenden Schultern, die großen Augen flimmernd in dem blassen Gesicht, indes die roten Haare wie ein Heiligenschein dasselbe umgaben. Heiligenschein? Nein, das Wort paßte nicht! Es war mehr wie ein breiter Goldrahmen zu einem kleinen Bilde.
»Noch immer stumm?« fragte sie lächelnd.
»Sie sind so schön, Margarete!«
»Dummheit! Bin ich gar nicht! Weiß ich selbst ganz genau! Schick bin ich und höchstens pikant. Niemals schön! Daß die Männer immer Schmeicheleien sagen müssen! Na, dann kommen Sie.«
Sie nahmen eine Loge in den Zentralhallen, und er saß schräg hinter ihr. Der schneeige Teint der Rothaarigen und der Ansatz des Kopfes war aber doch schön. Sie sah sehr interessiert auf die Bühne und lachte ungeniert bei zweideutigen Witzen.
Mein Gott, warum auch nicht? Ins Brettl gehen junge Damen aus den vornehmen Familien, behütete und sorgfältig erzogene Haustöchterlein und lachen über zweideutige Couplets. Unsere Zeit ist anders geworden. Weil die Kunst sich des Brettls bemächtigt hat, ist es anständig geworden, auch junge Damen mitzunehmen, wo neben manchem tief empfundenen Liede, mancher hochdramatischen Dichtung das leichtgeschürzte Couplet vorherrscht und die Muse des Tingeltangels die Herrscherin ist. –
Margarete Hagen hatte ein Prinzip, das hieß ›leben‹, sich amüsieren, eigene Wünsche erfüllt sehen, eigene Gedanken denken und aussprechen. Auch hatte sie viel gelesen. Sie wußte, daß die moderne Frau nicht nur sklavisch dem Manne untertan sein will, daß das moderne Weib dazu da ist, um sich auszuleben, sich, sein eigen Ich, seine Persönlichkeit.
Rücksichten nehmen auf andere, das taugte nicht für so ein Leben. Damit kommt man nicht weit voran. Dieser Kochunterricht hier war Margarete schon jetzt grenzenlos langweilig, trotzdem sie ihn erst auf eigenen Wunsch angefangen hatte, wie sie selbst schon sagte, in dem Bestreben, sagen zu können, ich kann auch das!
Ihr alter Vater, früher Lehrer am Gymnasium, lebte nur seinen Studien. Er beabsichtigte, ein Werk über seltsame Steinbildungen herauszugeben. Seit dem Tode seiner Frau hatte er sich ganz in diese Studien vergraben.
Sein Kind wuchs ohne viel Aufsicht heran.
Margarete war zu selbständig, um die väterliche Sorgfalt sehr zu vermissen. Aber sie suchte sich selbst ihre Lektüre, ihre Freundinnen, ihre Lebenszwecke. Und von ihren Freundinnen dachte kaum eine anders als sie. Mit zwei anderen wollte sie zusammen nach Heidelberg gehen. Eine von ihnen wollte Jura studieren und konnte dazu nicht die Erlaubnis ihrer Eltern erhalten. Sie war aber fest entschlossen, ihre Absicht durchzuführen, sei es gegen den Willen der Eltern. Und Margarete Hagen hatte sogar die Einwilligung ihres Vaters. Weshalb sollte sie nicht gehen? Weil der alte Mann vielleicht die Tochter vermissen könnte? Weil er die Pflegerin gebrauchen könnte für sein einsames Alter? Der Gedanke war Margarete noch nie gekommen.
Sie wollte lernen, studieren, frei sein und später auf eigenen Füßen stehen können. Denn wenn ihr Vater einmal starb, blieb nur so viel, daß sie sehr bescheiden in einem Stübchen wohnen oder dann noch eine Stelle annehmen müßte.
Weshalb sollte sie also nicht gleich das Studium ergreifen, zu dem sie sich begabt glaubte?
Und heiraten? Das reizte sie bis jetzt sehr wenig. Männerlaunen ertragen sollen, Kinder warten, Hausfrauenpflichten, puh! Wenn ein sehr reicher Mann käme, der ihr Gewähr böte für ein glänzendes Leben an seiner Seite, dann vielleicht! Aber sie war zu klug, um auf diesen Phantasie-Mann zu warten, und zu modern, um von einem Märchenprinzen zu träumen.
Auf der Bühne zeigten sich Seilturner, Grotesktänzer, eine Radlerin in rosa Trikots. Bei den Turnern war ein entzückendes Kind von zehn bis elf Jahren. Auch dieses war modern frisiert und zurechtgemacht. Die schwarzen Höschen ließen es wie einen reizenden Jungen aussehen und doch hatte es ein Mädchengesicht, umrahmt von rötlich goldenem Haar, das mit zwei Schleifen zur Seite der Ohren zusammengefaßt war und so ein wahres Engelsköpfchen zeigte.
Aber das Lächeln des Kindes war so wenig kindlich, die Augen suchten so den Beifall. Armes kleines Ding! Was wird einmal aus dir?
»Wo nur die vielen roten Haare jetzt herkommen?« fragte Stein plötzlich.
Margarete sah sich lachend um.
»Meinen Sie, mein Haar sei auch gefärbt? Können's anfassen, Steinchen, mit nassem Finger. Es färbt nicht ab.«
Stein wurde rot und verlegen. Ihm war, als ob er Margarete heute nicht gewachsen wäre. Er, der so wenig jugendlich in Freiwalde war und sich dort so alt und lebensmüde gab, kam sich ihr gegenüber jung vor und sie ihm so überlegen selbstsicher. Er sah angelegentlich auf seine Fingerspitzen. Sie waren tadellos, wie stets sein Anzug. Und plötzlich lachte er.
»Wissen Sie, Margarete, daß diese Damen da in Hinterpommern niemals Handschuhe trugen, wenn sie im Garten spazierengingen. Ich habe die Käte sogar ohne Handschuhe reiten sehen und Tennisspielen ohne Hut. Na, sie war auch gut verbrannt von der Sonne, die kleinen Hände ganz braun, und da redet man von aristokratischen Händen!«
»Wer ist Käte?« Sehr interessiert drehte sich Margarete Hagen um.
»Aha!« dachte er, »doch eifersüchtig! Warte!«
Und nun entwarf er eine glühende Schilderung der entzückenden, naiven, taufrischen Käte Folkert, bis Margarete ihn plötzlich unterbrach: »Ich soll wohl eifersüchtig werden? Die Mühe können Sie sich sparen. Auf den Leim geh ich nicht! Wenn sie so reizend war, weshalb sind Sie denn früher abgereist? Oder hat man Sie vor die Tür gesetzt?«
Stein wurde dunkelrot und schwieg.
Margarete fuhr fort: »Na, seien Sie mal ehrlich! Sind Sie da wohl sehr beliebt gewesen?«
»Aber Fräulein Hagen!« Stein tat sehr entrüstet.
»Immer sachte mit die jungen Pferde! Ich will Ihnen was sagen, Steinchen! Ehrlich gegen sich selbst, das muß man immer sein können. Und das müssen wir modernen Menschen noch mehr, als die früheren, wenn wir freie Menschen sein sollen.«
Stein hatte in diesem Augenblick das Gefühl, als ob ihm wenig daran läge, Übermensch zu sein. Am liebsten hätte er ihr jetzt vorgeschwindelt, welchen Eindruck er dort gemacht, wie sich die Käte in ihn verschossen hatte und dergleichen. Aber ihren fragenden Blicken gegenüber brachte er es nicht fertig. Etwas anderes hätte er erzählen können, das war, daß sein Unterricht bei Edmund die volle Anerkennung der Eltern gefunden hatte, daß sie ihm ein großes, geradezu auffallendes Lehrtalent nachgerühmt hätten. Aber das schien ihm zu uninteressant für seine Begleiterin. Er lenkte daher lieber vom Gespräch ab und sagte: »Aber sehen Sie doch, Margarete, diese Vögel, wie reizend, diese Papageien und Kakadus! Wie ist es möglich, diese Tierchen zu dressieren!«
Auf der Bühne führte nämlich eine Artistin eine Anzahl gefiederter Tierchen vor. Es war erstaunlich, welche Geschicklichkeit diese Vögel, sogar Tauben waren dabei, hatten. Sie schossen Purzelbaum, fuhren einen Wagen, machten Turnkünste, drückten sogar eine Pistole ab.
Margarete aber wurde die Sache langweilig. Das war nichts für sie. Das waren ja Spielereien für Kinder!
Sie nahm ihre große Pelzstola um und sagte: »Kommen Sie, Stein, das ist ja öde! Gehen wir nach Hause.«
Sie verließen das Theater und wandelten langsam durch die Straßen.
Es war ein köstlicher Abend, und Stein mußte an den Abend in Freiwalde denken, als Käte Sternschnuppen zählte. Welch ein Kind sie noch war! Und doch, plötzlich mußte er es denken, welch ein reizendes Kind!
Dann raffte er sich auf und fragte seine Begleiterin: »Wie ist's, gehen wir noch ins Bürgerbräu?«
»Bürgerbräu? Nein! Wissen Sie, lieber zu Kettner gehen und Sekt trinken, das könnte mich reizen, aber so ein Glas Bier! Im übrigen wird's gleich regnen. Ich fühlte schon einen Tropfen, und mein Kleid soll eigentlich nicht naß werden.«
»Sekt?«
Stein faßte in seine Tasche, eigentlich eine unnötige Bewegung, denn er wußte genau, daß sich dort nur noch ein einsamer Taler befand, der erst Gesellschaft bekam, wenn die Schule und mit ihr der neue Monat anfing.
Sie sah die Bewegung und lachte.
»Bemühen Sie sich nicht, Steinchen! Weiß ja selbst, daß es zu Sekt nicht langt; weder bei mir noch bei Ihnen. Dann hätten wir uns andere Väter aussuchen müssen! Im übrigen, was habe ich gesagt? Es fängt an zu regnen. Ich steige in die Elektrische. Gute Nacht!«
Und ehe er es recht begriffen hatte, stand sie auf dem Trittbrett des Wagens und nickte ihm noch einmal zu.
Oskar starrte ihrer Erscheinung nach, die jetzt wieder im Licht der Wagenlampen sehr eigenartig und reizvoll war. Das rote Haar flimmerte wie eitel Gold.
Wunderliches Geschöpf! – Liebte er sie eigentlich?
Daß ein siebzehnjähriger Jüngling noch gar nicht wissen sollte, was Liebe ist, das war zu viel verlangt! Wozu las man denn Romane? Wozu war man denn ein moderner Mensch? Aber er las auch Nietzsche, und dessen Würdigung der Frau war nicht dazu angetan, daß seine Anhänger für ein Mädchen in schwärmerischer Liebe glühen könnten. Also man liebte nicht! Diese Kinderkrankheit war ja so überflüssig! Nur manchmal war ihm, als stünde er mitten in dieser Kinderkrankheit drin, und dann wurde es ihm schwer, mit seinem Herrn und Meister übereinzustimmen.
Auch heute, als er nach Hause schlenderte, gaukelte vor seinen Blicken immerfort eine rote Haarfülle, und ein Paar große Augen blitzten ihn spöttisch an.
Und dazwischen sah er Käte im einfachen Kattunwaschkleidchen, die blonden Haare auch als Bubikopf, frei nach hinten gestrichen, die kleinen Hände gebräunt, aber fest den Zügel haltend, so jagte sie auf dem Pony zur Station mit seinem Brief an die andere.
Beides Kinder der heutigen Zeit und doch so verschieden, so grundverschieden.